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Kherson: Abriegeln, aushungern, zermürben

Einfahrt in den Oblast Kherson. Lage: Direkt oberhalb der russisch annektierten Krim.

Drohnenfangnetze neben der Fahrbahn – auf der Strecke bis Kherson ist Drohenbeschuß auf jedes Fahrzeug „obligatorisch“.
Drohendetektor – ohne das Ortungsgerät ist jede Bewegung in der Stadt lebensgefährlich.
Zarina Zabrisky, Andreas Tölke – Zarina Zabrisky, Filmemacherin und Autorin lebt in Kherson. Ihr Dokumentarfilm „Human Safari“ wird 13. November im Rahmen der Freedom Week im Kino Colosseum, Berlin, gezeigt.

 

Zivilfahrzeuge werden von Drohen abgeschossen. Kugelsichere Westen bieten minimalen Schutz

Kherson war acht Monate bis November 2022 russisch besetzt und ist befreit worden. Am 06 Juni 2023 wurde der Staudamm von den Russen angegriffen und zerstört. Es gab eine Überschwemmungskatastrophe, deren Auswirkungen vom Dnipro bis ins Schwarze Meer getragen wurden – die Folgen habe ich persönlich in Odessa am Strand gesehen: angeschwemmte persönliche Gebrauchsgegenstände en masse. Während der Überschwemmung haben russische Scharfschützen gezielt ukrainische Menschen abgeschossen, die sich auf die Dächer ihrer Häuser geflüchtet hatten. Unsere Partnerorganisation in Kherson, Сильний бо вільний, hatte damals Freiwillige, die unter Lebensgefahr den Fluss überquerten, um Menschen zu versorgen, zu retten und sogar Haustiere auf die andere Flussseite in Sicherheit zu bringen.

Seit fast drei Jahren bin ich regelmäßig in der Region unterwegs. Jedes Mal schien es unvorstellbar, dass es noch schlimmer werden könnte. Doch inzwischen überqueren russische Soldaten den Fluss und können sich in der Stadt fast unbemerkt bewegen – sie sind optisch nicht von Ukrainerinnen und Ukrainern zu unterscheiden, und da Russisch in der Region bis vor kurzem noch die Umgangssprache war, lassen sie sich auch sprachlich nicht identifizieren. Russische Spione recherchieren gezielt Hilfsorganisationen – auch die unserer Partner – und geben die Standorte von Warenlagern für humanitäre Hilfe weiter. Das Lager unserer Partner befindet sich in einem fünfstöckigen Wohnhaus, in Deutschland würde man es als Plattenbau bezeichnen. Über Kanäle haben unsere Partner erfahren, dass die russische Armee den Standort kennt – mit der Gefahr eines zeitnahen Angriffs. Ob und wann dieser erfolgt, ist ungewiss, was eine Evakuierung der Bewohnerinnen des Hauses unmöglich macht.

Der verbreitete Status quo vieler Menschen in der Ukraine ist ein fatalistischer: man geht davon aus, dass es immer die anderen trifft. Das zeigt sich auch beim Verhalten bei Luftalarm. Die Warn-Apps unterscheiden zwischen Drohnen- und Raketenangriffen. Raketen schlagen binnen Sekunden ein, Drohnen geben mit ihrem Geräusch oft noch wenige Sekunden Zeit zur Flucht. Trotzdem suchen immer weniger Menschen Schutz, selbst wenn Raketen gemeldet werden. In Kherson ist Dauerbeschuss Alltag geworden, und auch hier: die Menschen stumpfen ab.

Vor drei Tagen zeigte mein Besuch in Kherson eine neue, extrem verschärfte Situation: Russische Truppen auf der anderen Flussseite können nach Einschätzung von Experten den Fluss wegen der ukrainischen Militärpräsenz nicht überqueren. Daher wurde die Taktik geändert. Am zweiten August 2025 wurde die Brücke, die Korabelniy mit dem Zentrum verbindet, angegriffen und teilweise zerstört. Innerhalb weniger Stunden mussten 1.420 Personen evakuiert werden. Viele sind trotz des begrenzten Zugangs zurückgekehrt – gegen jeden Rat. Vor zehn Tagen begannen die russischen Angreifer, auf der M14, der einzigen Verbindungsstraße zwischen der Mykolayiv, der nächstgelegenen Stadt und Kherson gezielt Privatfahrzeuge mit Drohnen anzugreifen.

Die unmenschliche Kriegsführung gegen Zivilisten ist überall in der Ukraine sichtbar. 50 % der Schulen sind zerstört oder beschädigt – so auch in Kherson, wo es keinen Schulbetrieb mehr gibt. Alle Kinder sind im Homeschooling. Für die gezielten Drohnenangriffe auf Zivilisten in der Stadt wurde der Ausdruck „Human Safari“ geprägt. Igor Cherny, der Leiter unserer Partnerorganisation zeigte mir in der Innenstadt eine schwarze Bodenfläche vor einem Supermarkt. Dort hatte ein ehrenamtlicher Helfer im Auto telefoniert, wurde von einer Drohne geortet und ermordet. Solche Fälle gibt es mehrere. vier sind dokumentiert. Ehrenamtliche, die die Zivilbevölkerung unterstützen, werden gezielt getötet.

Die Strecke zwischen Mykolayiv und Kherson ist nun Ziel der „Human Safari“. Die Journalistin und Regisseurin Zarina Zabrisky hat dazu einen beeindruckenden Dokumentarfilm veröffentlicht, allerdings noch ohne die aktuellen Drohnenangriffe auf Fahrzeuge auf der Verbindungsstraße berücksichtigen zu können. In sozialen Medien dokumentiert sie eindrücklich die Lage auf der M14.

Ich habe einen Hilfskonvoi aus drei Transportern in die Stadt begleitet. An der letzten Tankstelle vor der rund 40 km langen Strecke ins Zentrum, die durch flaches Ackerland führt, hat das gesamte Team kugelsichere Westen und Helme angelegt. In all den Jahren habe ich so eine Anspannung im Team noch nie erlebt. Danach folgte eine Fahrt jenseits jeder Geschwindigkeitsbegrenzung durch einen Tunnel aus Tarnnetzen. Zunächst nur seitlich entlang der Straße gespannt, später auch als Dach, sodass man wie durch einen transparenten Tunnel fährt. Auf der Strecke lagen zerschossene Privatfahrzeuge und verbrannte Flecken auf dem Asphalt. Die Wracks werden schnell entsorgt, um die Straße frei zu halten.

Die russische Taktik hinter diesen Angriffen: Kherson soll von der Außenwelt abgeschnitten werden. Der Weg über den Fluss ist aktuell für beide Armeen unmöglich. Das bedeutet: keine Verschiebung der Front, aber auch keine Versorgung der Stadt über den Fluss. Wird die einzige Straße zur Todesfalle, können bald keine Medikamente, Lebensmittel oder Krankenhausgüter mehr geliefert werden.

Dazu kommen Angriffe auf Wohngebiete und Dörfer in Flussnähe. Die wenigsten Haushalte haben Schutzräume oder Feuerlöscher. Wir von Be an Angel haben in Zusammenarbeit mit We are all Ukraine von deutschen Feuerwehren über 3.000 Feuerlöscher erhalten, die nun in die Region gehen – darunter auch Handfeuerlöscher für Fahrzeuge. Unsere letzte Lieferung bestand aus kugelsicheren Westen. Eine davon hat kürzlich ein Leben gerettet: Auf der Straße nach Kherson wurde ein Fahrzeug angegriffen. Der Fahrer, mit Weste geschützt, sprang aus dem Auto in den Straßengraben, als die Drohne explodierte. Splitter trafen ihn knapp neben der Wirbelsäule – ohne die Weste wäre er tot oder querschnittsgelähmt gewesen. Auch der Beifahrer blieb unverletzt. Es besteht also ein hoher Bedarf an kugelsicheren Westen für Zivilpersonen, besonders für freiwillige Helfer.

Die Frage, warum Menschen trotz alledem in der Region bleiben, ist schwer zu beantworten. Viele ältere Menschen wollen ihre Heimat nicht verlassen, sie glauben, die Risiken einschätzen zu können. Ihre Kinder bleiben, um sie nicht allein zu lassen, was wiederum bedeutet, dass auch Jugendliche und Kleinkinder dort bleiben. Emotional kommt hinzu: „Wenn wir jetzt Kherson verlassen, haben die Russen gewonnen.“

Für uns, die wir nicht im Krieg leben, ist diese Argumentation schwer nachvollziehbar. Und es steht uns nicht zu, Empfehlungen zu geben, wie Menschen im Krieg zu handeln haben. Was wir aber tun können: eine humanitäre Hilfswelle für die Region auf den Weg bringen. Denn dort wird im Moment nahezu alles gebraucht

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