avatar

Tabuisierte Begriffe (1): Führung

Kürzlich las ich das Buch „Leadership“ von Henry Kissinger. Obwohl ich nie ein Bewunderer Kissingers war (persönlich begegnete ich ihm nur zweimal in kleinerer Runde, einmal im Springer-Journalisten-Club in Berlin, einmal in einem noch exklusiveren und darum erheblich schäbigeren Club in London), haben mir die Porträts politischer Führungsgestalten in diesem Buch gut gefallen, besonders die von Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Margaret Thatcher und Lee Kuan Yew. Die Porträts von Richard Nixon und Anwar as-Sadat haben es mir weniger angetan; vielleicht war Kissinger hier zu nahe dran. Aber darum geht es mir hier nicht.

Es geht mir um den Titel der deutschen Ausgabe. Wie würde man „Leadership“ richtig übersetzen? „Führung“ etwa. Aber interessanterweise sind deutsche Bücher mit „Führung“ im Titel, und es gibt derer viele, fast sämtlich Ratgeber für so genannte Führungskräfte, also Manager. Als der Pädagoge Bernhard Bueb, ehemaliger Leiter der Reformschule Schloss Salem, nach seinem „Lob der Disziplin“ 2008 das Buch „Von der Pflicht zu führen“ veröffentlichte, war das ein Skandal. Manager, so scheint es, dürfen führen. Pädagogen nicht. Politiker schon gar nicht. Denn das Buch Kissingers wurde mit „Staatskunst“ übersetzt.

Nun geht es Kissinger aber in dem Buch eben nicht um die von Platon so bezeichnete „Staatskunst“, also die Schaffung und den Erhalt eines Staats, der die Idee des Guten verkörpert; und auch nicht um die Kunst der Politik in einem weniger idealistischen Sinn. Es geht ihm im Buch – wie in seinem politischen Leben – um die Außen- ja um die Weltpolitik: „Six Studies in World Strategy“ heißt ja der Untertitel. Im Deutschen unsinnigerweise: „Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert“.

Kissinger geht es darum zu zeigen, wie bestimmte Menschen kraft ihrer Persönlichkeit und, ja, Vision, zu Führungsgestalten auf der internationalen Bühne werden konnten, selbst wenn ein Charles de Gaulle zwischen 1940 und 1944 nicht einmal über einen Staat verfügte, ein Konrad Adenauer Führer eines demoralisierten, besetzten und international mit Misstrauen beäugten Halb-Staats war, Lee Kuan Yew Führer eines winzigen Inselstaats. Es geht also um Führung. Und wenn es eine „Lektion für das 21. Jahrhundert“ gibt, dann eben diese, dass nach wie vor Führung gebraucht wird, gerade wenn der Chef der Führungsnation der Freien Welt ein durchgedrehter Egomane ist.

Warum heißt das buch also nicht: „Führung – sechs weltpolitische Strategen“? Weil das Wort „Führung“ in der Politik tabuisiert ist, selbst wenn Olaf Scholz gesagt hat: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.“ Was erstens nicht stimmte und zweitens das Wesen der Führung verkennt, nämlich auch dann zu führen, wenn Führung nicht „bestellt“ wird, Koch also zu sein und nicht Kellner.

„Führung“ ist aber, trotz Scholz, verpönt wegen des „Führers“. Nun gibt es Vokabeln, die, obwohl eigentlich unschuldig oder mäßig unschuldig, durch ihren Gebrauch allzu eindeutig geworden sind. Noch in meiner Jugendzeit meinte „Holocaust“ einfach „ein schreckliches Feuer“, man sprach auch in Großbritannien vom „Holocaust in Dresden“ oder nach den Brandbomben auf Tokio, und selbstverständlich in Hiroshima und Nagasaki. Seit der gleichnamigen Fernsehserie gibt es nun, ob’s gerechtfertigt ist oder nicht, DEN Holocaust, und vom „Holocaust in Hamburg“ zu reden hieße wohl, „Holocaustrelativierung“ zu betreiben. Sei’s drum. Auch „Sonderbehandlung“ und „Endlösung“ sind wohl wegen ihres euphemistischen Gebrauchs durch die Nazis ein für alle Male nun, verbrannt.

Aber „Führung“ meint nun einmal nicht „so führen wie Hitler“. Sondern kann meinen „so führen wie Franklin D. Roosevelt“. Oder Adenauer. Oder Sadat. Das Tabuisieren von Wörtern und Begriffen dort, wo sie tatsächliche Verhältnisse – oder, wie im Fall der „Führung“ konkrete Anforderungen an  eine Person oder ein Amt – beschreiben, ist kontraproduktiv.

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

Ein Gedanke zu “Tabuisierte Begriffe (1): Führung

  1. avatar

    Gut ist es allemal, Begriffe von ihrer daran angehefteten Agenda zu trennen. Und gut, dass die ‚Fahrerlaubnis‘ wieder ‚Führerschein‘ heißen darf, ohne verklemmt und verdruckst erstmal überlegen zu müssen, was man sagt, um einen Fettnapf zu umgehen. Nur: Warum gerade jetzt „Führung“? Gegen Putin? Gegen Trump? Für ‚Unsere Demokratie‘ und keinesfalls die der anderen?
    Klar, wer nicht führen kann, muss intrigieren. Aber wie führt man? Mit Drohungen, Exempeln, Versprechen eines höheren Gehalts oder nicht doch besser mit Vorbildfunktion, Klarsichtigkeit, Ehrlichkeit, Kompetenz.. Persönlichkeit. Der Vorgesetzte, der nur Transmissionsriemen für die höhere Hierarchieebenen ist, ist ein armes Schwein und führt nicht. Und wer bei jedem Satz, den er spricht, mehrmals überlegen muss, wer davon verletzt werden könnte, auch nicht.
    Klar bin auch ich dafür, dass geführt wird, aber wie ich selber einmal in einem der Management-Seminare, die ich auf eigenen Wunsch besucht hatte, hörte: „Sie wollen motivieren? Dann hören Sie erst einmal auf, zu demotivieren.“ Das ist wohl das einzige was ich mir von alldem wirklich gemerkt habe. Derzeit eher schlechte Zeiten für diesen so wahren Satz. Wahrscheinlich auch weil „Führung“ tabuisiert ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top