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Abgründe der Unterwerfung

Es ist noch ein bisschen kalt, die Weltlage unvorhersehbar. Deshalb ist unsere Autorin Saba Farzan ins Kino gegangen und schreibt hier eine Rezension von “Babygirl” – ein Film, der seinesgleichen sucht.

Ist es ein erotischer Thriller? Ein Kammerspiel mit zwei Hauptcharakteren? Ein Film über existenzielle Krisen und Identität? Eine, in dem komponierte Filmmusik fast wie in der Oper, Techno und George Michael’s “Father Figure” fließend ineinander greifen? Oder ist es alles zusammen? Das trifft wirklich alles auf “Babygirl”, dem neuesten Kinofilm von Halina Reijn zu, und noch vieles mehr.

Dieser Film geht unter die Haut. Er lässt einen verwirrt, bewegt, fast schon um jede Rationalität gebracht zurück, weil er nicht einfach nur in kein Genre passt – “Babygirl” begründet ein eigenes Genre. Warum? Weil wohl noch nie in der Filmgeschichte Abgründe des Begehrens, der Unterwerfung, des Grenzen Austesten aus der Perspektive einer Frau erzählt wurden – von einer Frau.

Drehbuch und Regie sind in der Hand der außergewöhnlich talentierten Halina Rejin, die auch selbst Schauspielerin war. Die Hauptfigur Romy Mathis, gespielt von Nicole Kidman, hat eigentlich alles: Sie ist seit fast 20 Jahren im Grundsatz glücklich verheiratet und erfolgreiche Unternehmerin, ihre Töchter sind aufgeweckte Teenager und dabei sich selbst zu finden. Das sagt der Lebensweg auf dem Papier. Emotional hat sie jedoch nichts. Keine Höhepunkte, keine ausgelebten Fantasien und keine ausgesprochenen Abgründe – einfach nichts. Bis sie Samuel begegnet.

Halb so alt wie sie und von einem überwältigenden Charisma, ein Gedankenleser – er spricht aus, was Romy will und sich selbst versagt, jahrelang unterdrückt. Sie will dominiert werden. Sie liebt es, gesagt zu bekommen, was sie tun soll. Samuel, gespielt von Harris Dickinson, löst in ihr spielerisch und gefährlich etwas Unvorhersehbares aus.

Spielerisch, weil alles im Konsens geschieht. Gefährlich, weil sie in der Firma die Chefin und er der Praktikant ist. Weil beide gebunden sind. Beide betrügen. Sie ihren langjährigen Mann, er seine Freundin, die wiederum für Romy arbeitet. Sie treffen sich in Hotelzimmern, an anderen geheimen Treffpunkten, sie tanzen eng umschlungen auf einem Rave und umgeben von hunderten von Menschen zieht er sie aus – bis auch Romy wie Samuel im Unterhemd tanzt.

Akzeptieren wir unsere Abgründe?

Ihr Ausprobieren und Verschieben von Grenzen funktioniert auch im echten Leben nur mit einem großen Altersunterschied. Deswegen ist diese filmische Erzählung so authentisch und greifbar. Jetzt könnte man als Beobachter auf die Idee kommen, das Revolutionäre an “Babygirl” wäre in dieser ausgelebten körperlichen Anziehung, dass der Altersunterschied auf den Kopf gestellt wird – sie ist älter, er ist jünger. Er dominiert sie und sie unterwirft sich. Aber die wahre Revolution ist hier eigentlich, dass Sexualität nur eine Metapher ist. Es geht um mehr. Welche Identität haben unterschiedliche Menschen? Was macht uns als Menschen mit aller Komplexität aus? Akzeptieren wir unsere Abgründe? Und akzeptieren wir uns selbst nicht zu unterdrücken mit den Sehnsüchten, Ideen, Charaktereigenschaften, Ängsten und der Lebensfreude, die uns als Menschen ausmachen?

Davon ist die Art wie wir lieben ein Element – verbunden mit vielen anderen Facetten. Auch deswegen erreicht die intensive Chemie zwischen Romy und Samuel beider Intellekt. Auch deshalb wird Romys Betrug ihres Mannes verzeihlich und er vergibt ihr, weil sie sich selbst befreit hat. Natürlich nicht ohne vorher mit Samuel um sie zu kämpfen – wortwörtlich.

Auch Samuel erlebt eine Art Katharsis  und legt Ängste, die er vor sich selbst hatte ab. Ohne die Grenzen des Moralischen zu durchbrechen wäre es für ihn nicht möglich geworden – ohne Romy begegnet zu sein auch nicht. Es liegt fast schon in der Logik der Handlung, dass er dann auch geographische Grenzen durchbricht und nach Tokio zieht.

Nicole Kidman ist eine Leinwandgröße, die in diesem Film ähnlich in der Tradition von “Eyes Wide Shut” oder “Dogville” ihr intensives Schauspiel auf eine neue Ebene hebt. Harris Dickinson ist hier eine künstlerische Neuentdeckung, vielleicht ein Jahrhunderttalent. Sein Charisma und sein Humor sind für diese Erzählung von unersetzlichem Wert. “Babygirl” schreibt auch Filmgeschichte durch diese beiden Schauspieler, weil sie das Drehbuch, von Halina Reijn geschrieben wie ein Roman, lebendig werden lassen – eine Geschichte, die auf der Leinwand so noch nie erzählt wurde.

 

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