Rede zu zehn Jahre Be an Angel
Empfang im Roten Rathaus am 24. Januar 2025
Als wir 2015 angetreten sind, war das eine spontane, aus dem Bauch heraus getroffene Entscheidung. Damals, vor dem Lageso, sind Menschen angekommen, in das sichere Deutschland nach Berlin, vor Krieg und Verfolgung geflüchtet, und landeten in der Obdachlosigkeit einer völlig überforderten Hauptstadt. Damals war es die Gesellschaft, die ohne Zögern wildfremde Menschen bei sich aufgenommen hat.
An einem Abend im September 2015 war es bei mir der Fall. Nach einem Anruf bei einer Helferin standen Minuten später fünf junge Männer bei mir vor der Tür. Ich hatte in meinem ganzen Leben nie was mit Flüchtlingen zu tun gehabt, keine Ahnung, was posttraumatische Belastungsstörung bedeutet, wusste nichts über afghanische oder arabische Kultur, bis auf das, was zum Allgemeinwissen gehört. Dann saß er da, der Familienvater aus Afghanistan und zeigt mir ein Video, wie bei der Überfahrt von der griechisch-türkischen Küste sein Baby von Schleppern über Bord geworfen wurde.
Das Baby hat geschrien und war damit eine Gefahr, die Aufmerksamkeit der Küstenwache auf das kleine Schlauchboot zu lenken. Ich habe den Vater gefragt, warum er denn nicht hinterher gesprungen sei, um das Baby zu retten, er antwortete: „Afghanistan ist ein Binnenland. Ich kann nicht schwimmen.“ Auf die Frage, warum er denn dieses fürchterliche Video behält, und er antwortete: Weil es das Letzte ist, was mich an mein Kind erinnert.
Zehn Jahre später und nach vielen Gesprächen mit Menschen, die aus Krieg und Verfolgung flüchten mussten: Tot auf der Flucht ist kein Einzelfall.
In der Ukraine stand ich vor einem von russischen Raketen zerstörten Wohnhaus. Ein Teil des Hauses war abrasiert. Im dritten Stock, in der ehemaligen Küche ein großes schwarz-weißes Foto von einer Frau, die ihrem Kind einen Kuss auf die Stirn drückte. Neben mir ein Mann, alleine, der auf das Foto starrt. Ich hab ihn angesprochen, und er erzählte mir: Auf dem Foto sind seine Frau und sein Kind zu sehen. Beide sind tot.
Ich hatte keine Worte. Keine. Ich habe diesen wildfremden Mann wahrscheinlich sogar gegen seinen Willen umarmt, und ich war derjenige von uns beiden, der bitterlich geweint hat.
Seit zehn Jahren kämpfe ich jeden Tag gegen die eigene Hilflosigkeit, gegen das Gefühl, nicht genug zu machen. Gegen das Gefühl, dass es immer schlimmer wird. Ein Gefühl, das mich mit dem Team von Be an Angel verbindet. Und wir haben oft das Gefühl, immer weniger zu werden und alleine zu sein.
Dabei könnten wir nach den zehn Jahren stolz auf das sein, was wir erreicht haben. Wir haben einige Tausend Menschen in Deutschland beim Ankommen begleiten dürfen. Ja, dürfen. Menschen, die uns auch nicht kannten, haben uns vertraut. Unserer Expertise und unseren Ratschlägen waren oft ein Strohhalm im Nebel eines fremden Landes.
Letztendlich können wir nur Ratschläge geben. Die Entscheidung über das eigene Leben liegt bei dem oder derjenigen, die dieses Leben führen muss und will. Oft genug, als Helfer mit Expertise, gehen wir davon aus, es besser zu wissen – und dann trifft jemand seine eigene Entscheidung, ist müde und zermürbt von deutscher Bürokratie, verhaftet in seinem eigenen kulturellen Kontext, der ihm dann doch weniger Spielräume bietet bei einer Entscheidung. Und uns bleibt nur eins: die Entscheidung zu respektieren.
Unser Thema ist und bleibt Begegnung auf Augenhöhe. Das gilt für beide Seiten. Unsere Erwartung gegenüber den Menschen, denen wir helfen können, die wir unterstützen können, ist ebenfalls Respekt und die Bereitschaft sich auf uns einzulassen. Wir haben nur eine Erwartung: eine Lernkurve mitzuerleben. Wir erwarten nicht, das jemand der in Deutschland ankommt beim überschreiten der Grenze ad hoc seine Sozialisation abstreift und der perfekte, tolerante, aufgeklärte Deutsche ist. Aber wir akzeptieren keinen Rückzug in eine Herkunftsland-Bubbel. Der einzige Punkt, an dem wir uns entscheiden nicht mehr zu unterstützen, ist sich der Basis unseres Miteinanders zu entziehen: Alle Menschen sind gleich. Frauen, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, Hautfarben oder Glauben. Ist jemand nicht bereit, das zu leben, beenden wir (nach intensiven Auseinandersetzungen) unsere Unterstützung.
Ich bin stolz auf eine Sache: ein Team, das in sich unglaublich divers ist. Menschen aus den unterschiedlichsten Professionen, mit den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen und politischen Überzeugungen haben bei Be an Angel ein Dach gefunden, unter dem sie sich engagieren können. Was uns vereint, ist ein moralischer Kompass und der feste Wille, dass ein Einzelner etwas verändern kann.
Wir sind nicht ohnmächtig ausgeliefert. Wir müssen nicht zuschauen. Gerade jetzt ist Zuschauen gar keine Option mehr. Wenn Demokratie verhandelbar wird, wenn Menschenrechte zur Diskussion stehen, ist Engagement kein Luxus mehr, sondern Selbstschutz.
Oftmals ist die Wahrnehmung von ehrenamtlichem Engagement Freizeitprogramm, als Beruhigung für ein schlechtes Gewissen. Die gesamte zivilgesellschaftliche Bewegung, von der Be an Angel gerade mal ein kleiner Mikrokosmos ist, ist viel mehr als das. Zivilgesellschaftliches Engagement ist der bröckelnde Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.
Viel zu oft wird dieses Engagement als selbstverständlich hingenommen, von Politik instrumentalisiert, um den Nachweis zu bringen, dass diese Gesellschaft eben doch noch divers ist, und viel zu selten nachhaltig unterstützt.
In aller Deutlichkeit: Wir sind gut für Fotos und Auszeichnungen. Aber wenn wir nicht permanent aktiv bleiben und proaktiv auf die Verantwortlichen zugehen, ist das bittere Fazit nach zehn Jahren, dass sich nichts bewegt.
Jeder von uns, auch ich, handelt rein egoistisch. Ich möchte ein friedliches Miteinander, bei dem jeder und jede so sein kann, wie er oder sie sein muss und will. Mit deutlichen Grenzen. Den demokratischen.
Migration in Deutschland ist in der öffentlichen Diskussion nur noch eins: ein Problem. Dass Migration auch ökonomisch – beim Kippen der Alterspyramide – eine Lösung sein kann, wird nicht mit der gleichen Macht kommuniziert wie der immer wieder zitierte Messerstecher.
Ja, den gibt es. Der ist Afghane. Der ist aber auch oft Deutscher. Egal, welche Nationalität, er hat eins gemeinsam: Er ist ein Verbrecher. Der Fokus vieler in unserer Gesellschaft liegt nicht mehr auf der Tat, sondern auf der Herkunft des Täters.
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, also muss jede Tat entsprechend der Gesetze verfolgt werden. Sich vor Taten zu schützen, wird in einer Gesellschaft, die sich über die Ausgrenzung einzelner Gruppen Sicherheit schaffen will, nicht funktionieren.
Was funktioniert, um sich vor Gewalt und Verbrechen zu schützen, ist Miteinander. Soziale Kontrolle im Sinne eines Miteinanders. Sich eben nicht abkapseln und ein Umfeld als gegeben hinzunehmen. Sich nicht abzufinden, dass es einen Staat gibt, bei dem man Steuern zahlt und der sich darum zu kümmern hat, sondern wahrzunehmen, wie das eigene Umfeld, die eigene Nachbarschaft, der eigene Freundeskreis aufgestellt ist.
Die Reaktion auf die aktuellen politischen Ereignisse in großen Teilen der liberalen Bevölkerung ist ein Rückzug ins Private, das Gefühl von Ohnmacht, bestenfalls Wut. Viele haben mittlerweile die sozialen Medien widerspruchslos einem rechten Mob überlassen. Viele, die es sich leisten können, denken darüber nach, wie sie sich individuell mental in Sicherheit bringen können.
Aber sich selbst zu finden, bedeutet, den anderen zu sehen.
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Was heißt das für Be an Angel?
Zehn Jahre in einer Wachstumsbranche. Zynisch? Mitnichten. Wären wir ein Unternehmen, wären wir eine super Investition. Unser Pragmatismus, lösungsorientiert und auch kurzfristig mit unglaublicher Geschwindigkeit zu reagieren, ist etwas, das uns wahrscheinlich so erfolgreich gemacht hat. Jede und jeder den wir begleiten durften, ist ein Botschafter für Miteinander. Kamosh aus Kabul erzählte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Als ich nach Deutschland kam, fand ich Männerpaare die Zärtlichkeiten austauschen widerlich. Wenn ich das jetzt sehe, denke ich immer: Ach wie schön, da sind zwei Menschen glücklich miteinander.“
Ausgrenzung ist keine Alternative, die Menschen sind hier, wir brauchen sie, sie brauchen uns. Es verbindet uns das Wir. „Wir“ ist das Einzige, was uns alle miteinander leben lässt. Be an Angel tut eigentlich nur eins: Das „Wir“ leben.
Andreas Tölke Be an Angel e.V. (Founder/Board)
Be an Angel finanziert die Aktivitäten beinah ausschließlich über Spenden. Jeder Euro wird dringend gebraucht: https://be-an-angel.de/spenden/
Liebe*r K. Unde (was für ein lustiger Name! Sehr kreativ! – Da gehen aber viele Sachen durcheinander bei Ihnen. Empfehle den „OLAF“ Bericht zu Frontex, der Orga, die den von Ihnen formulierten Aufgaben nachkommen sollte….. Bisher hatte nur ein kleiner Kreis von EU-Beamt:innen die Befugnis, den Bericht vollständig zu lesen: Dazu gehören Vertreter:innen der Europäischen Kommission, das ehemalige Frontex-Management-Board, einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments und OLAF-Mitarbeitenden selbst.
Der Bericht wurde im Februar 2022 fertiggestellt. 16 Monate, 20 Zeug:innen und mehr als 120 Seiten, nachdem OLAF zum ersten Mal per Post einen Hinweis auf schwerwiegende Missstände in der Agentur erhalten hatte. Der Bericht dokumentiert auch die Geschichte von Samuel Abraham und zeigt, dass sie kein Einzelfall ist.
Nach EU- und internationalem Recht ist Frontex verpflichtet, bei seinen Einsätzen die Wahrung der Menschenrechte zu garantieren. OLAF stellte jedoch fest, dass Frontex keine Schritte unternahm, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Im Gegenteil wurden immer wieder bewusst Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die stattfindenden Menschenrechtsverletzungen nicht beobachtet, dokumentiert und untersucht wurden.
Der Bericht zeigt, wie die Frontex-Führung die interne Grundrechtsbeauftragte überging, wie interne Berichte über Menschenrechtsverletzungen manipuliert wurden und wie Frontex die Europäische Kommission und das Parlament in die Irre führte. – Übrigens musst der Frontex Chef seinen Hut nehmen – am System Frontex hat sich nichts geändert.
Wie halten Sie das hier auf dem Blog noch aus?
Man wähnt sich hier mittlerweile auf der „Achse des Guten“.
Beste Grüße!
Was haben Sie gegen gute Autoren?
Herr Tölke, vielen Dank für Engagement und Ihren Beitrag hier!
Es gibt doch noch Menschen in diesem Land, nicht nur wohlstandsverwahrloste Holzklötze. Danke für Ihr Engagement!
Ich als angeblicher „wohlstandsverwöhnter Holzklotz“ weiß allerdings noch, wem ich verantwortlich bin und welche Verantwortung ich übernehmen kann
. Andere wohlstandsverwöhnte Hohlköpfe wollen hingegen gerne anderen Verantwortung für ihre hehren Ideen von grenzenloser Hilfsbereitschaft aufdrücken, damit sie selber als Moralweltmeister dastehen. Anders: Wen wollen Sie eigentlich mit Ihrer linksvulgären Pöbelei überzeugen? Wie wäre es denn mal damit, die islamistischen Mafia-Eliten dieser failed Staates, die soviel Elend produzieren in Verantwortung zu ziehen, statt sie weiterhin mit unserem Steuergeld zu pampern?
Warum fühlen Sie sich angesprochen? Warum unterstellen Sie anderen – uns in dem Fall – dass wir „islamistische Mafia-Eliten“ unterstützen? Sie beziehen sich auf einen Kommentar, der explizit unserem, meinem Engagement dankt. Fabulieren „hehre Ideen von grenzenloser Hilfsbereitschaft“ – insinuieren im Kontext also, dass wir, ich, so handle. Warum schreibe ich von Taten und Tätern? Warum setzen wir genau das auch um? Damit undifferenzierte Kommentare wie der Ihre hier erscheinen, weil Sie sich nicht die Zeit nehmen wenigsten meinen Beitrag zu lesen? Schade.
Als ich am 13. März 1985 im so genannten Bundesnotaufnahmelager Gießen aus dem Häftligsfreikaufsbus stieg, …
Da wollte ich in der neuen Heimat dorthin, wo die Arbeitslosenrate niedrig war, Nach Baden-Württemberg und dem wurde stattgegeben.
„Nein, nach Stuttgart selbst geht nicht!“ Dort gebe es Wohnungsmangel und deshalb müßten „Zonenflüchtlinge“ mit einem Übergangswohnheim weit draußen in der Provinz vorlieb nehmen.
Ja gut, wenn ich auf Eigeninitiative eine Wohnung in Stuttgart anmieten wolle – gerne. Bezahlen werde der Staat das allerdings nicht.
P.S.:
Die deutsche Provinz ist kein unzumutbarer Lebensort.
Was für eine ‚Geschichte‘.
Der afghanische ‚Papa‘ hat wie viel für den Tod seines Babys gezahlt, damit es nicht von ‚griechisch-türkischer‘ Küstenwache gerettet werden konnte?
(Historie wederholt sich nicht – aber sie ist vergleichbar.
Saddam Husseins Soldaten dringen in Krankenhäuser ein, reißen Babys aus Brutkästen und lassen sie auf dem kalten Boden sterben. Diese grausame Geschichte war einer der Gründe, warum der US-Kongress für den Ersten Irakkrieg stimmte.)
Allein 2014 bis 2020 sind geschätzt 20’000 Menschen wegen global-sozialistischer Machtansprüche im Mittelmeer ertrunken.
Seehofer hat recht, wenn er meint, ‚mit organisierter Seenotrettung würde man weitere Anreize schaffen und Schlepperbanden in die Hände spielen‘.
Die Rettung von Schiffbrüchigen ist im internat. Seerecht Pflicht. Alle Küstenstaaten sind verpflichtet, in ihrem [sic!] Seegebiet die Rettung Schiffbrüchiger durch geeignete Mittel sicherzustellen. Pflicht entsteht erst, wenn eine Seenotsituation eingetreten ist.
Schlepper schicken aber immer schlechter ausgerüstete Boote los, um Rettungsaktionen zu provozieren. Es gibt keine ‚politische Seenotrettung‘.
… und alle wissen das! Sie auch, werter ‚Engel‘ Andreas Tölke.
Alle wissen was? Das vielfach widerlegte Märchen von Seenotrettung als Pullfaktor? Und was sollen „global-sozialistische Machtansprüche“ schon wieder sein – ich nehme nicht an, das Sie damit meinen wie die EU systematisch jede Möglichkeit für sichere und kontrollierte Flucht ausgehöhlt hat? Oder wie Rohstoffförderung, Machtspielchen und Kolonialismus zu unseren Gunsten viele der Konflikte überhaupt verursacht haben?
Bloß weil Sie hier irgendwelchen Unsinn wiederholen, erfunden von Menschen die Flüchtende lieber am Grund des Mittelmeers als in Deutschland sehen, wird der noch nicht wahrer.
Werter J. Bauer, mittlerweile geht die Sonne im ‚Westen‘ auf und auch Sie werden sich verantworten müssen. Und das ist auch gut so.
Was wirklich hinter Seenotrettung steckt.
… noch einmal.
Werter J. Bauer, mittlerweile geht die Sonne im ‚Westen‘ auf und auch Sie werden sich verantworten müssen. Und das ist auch gut so.
Was wirklich hinter Seenotrettung steckt.
Sie teilen hier „Nius“ Youtube Videos. Der Maximalwert dieses Portals ist Unterhaltung. Nius als seriöse Quelle in Betracht zu ziehen ist allerdings ungefähr so, als würden Sie das „Dschungel-Camp“ als Quelle zitieren. Sie können sich selbstredend informieren, wo auch immer Sie möchten. Es würde allerdings Sinn machen ganz unpopulär die von „Nius“ aufgestellten Behauptungen gegenzuchecken. Und um das vorweg zu nehmen: Nein, nicht mein Job. Sie sind sich selbst verantwortlich. – Sie werden übrigens erhellende Überraschungen erleben, wenn Sie die „Nius“ Behauptungen verifizieren wollen. Kurz gesagt verbreitet „Nius“ Unsinn mit einem Interesse: Spaltung der Gesellschaft durch einen zutiefst beleidigten Chefredakteur mit einem veritablen Ego-Problem, das er dort auslebt.