MOSKAU, 11. März 1989
Am nächsten Tag, einem Sonntag, geht es erst auf die diversen Reisebüros. Kolja begleitet mich. Mit Tanja und Alina haben wir uns für Nachmittag verabredet.
Der Erwerb der Fahrkarte nach Sotschi bereitet unerwartete Probleme. Auf meinem Gutschein steht, dass ich am 16. März abfahren wolle, jetzt bin ich schon am 12. März hier. Die sowjetische Reisebürokratie ist gewaltig durcheinander.
Nein, nicht dass es Probleme mit den Plätzen im Zug gäbe. Aber wo will der Ausländer hin in Sotschi ? Sein Hotel ist ja auch auf den 17. gebucht. Er hat doch gar kein Zimmer dort ! Nein, auf den Papieren steht, dass der Ausländer am 16. März fährt und nun hat er am 16. März zu fahren. Punktum.
Kolja redet auf die Frau ein: „Sehen Sie, es ist März. Da ist es doch kein Problem, in Sotschi ein Zimmer zu bekommen. Das ist doch viel leichter dort als hier in Moskau.“ Endlich lässt sie sich erweichen.
Als ich die Fahrkarte in der Hand habe, will ich sie noch bitten, ob sie von hier aus mein Zimmer umbuchen könnte, aber Kolja zerrt mich aus dem Raum. „Bist Du verrückt ?“ zischt er mich draußen an. „Wenn Du jetzt wieder mit dem Hotel kommst, dann denkt sie wieder, Du würdest in Sotschi obdachlos sei. Dann geht ganze Theater wieder von vorn los.“
Auf dem Weg zur Metro versucht er, mir das Denken des sowjetischen Reisebüros zu erklären. „Weißt Du, die haben große Angst davor, dass die Reisenden aus dem Westen einen schlechten Eindruck bekommen. Deshalb muss alles schon Wochen vorher geplant sein. Ohne drei- bis vierfache Rückversicherung bieten die halt keine Leistungen an.“
Gern hätte ich noch in der DDR angerufen. Aber in dem Postamt, in dem ich frage, wird uns eine Wartezeit von zwei Stunden voraus gesagt. In der Nähe unseres Treffpunktes mit Tanja und Alina gibt es ein Hotel. Kann man vielleicht dort … ?
Da die Frauen noch nicht da sind, stapfen Kolja und ich drauflos. Der Gang ist unangenehm. Ständig werden wir von herumlungernden Russen angesprochen. „Uhren ? Feuerzeuge ?Elektronik ? Kassetten?“ Nein, so etwas haben wir nicht zu verkaufen, geschweige denn zu verschenken.
Dann, am noblen Hoteleingang werden wir nicht einmal eingelassen. Kolja ist der Ort unsympathisch und so gebe ich mein Vorhaben auf. Auf dem Rückweg werden wir wieder angesprochen: „Radios ? Kassetten ? Kaugummi ? Sonst irgend etwas zu verkaufen ?“
Wir haben doch schon gesagt, das wir nicht zu verkaufen haben.
Es ist zehn Minuten vor Zwei Uhr am Mittag. In zehn Minuten dürfen die Geschäfte Alkohol verkaufen. Kolja muss sich anstellen gehen. „Wenn die Frauen kommen: ich bin gleich wieder da !“ Ist gut, ich werde es ausrichten.
Tanja kommt allein. Alina will lieber an ihrer Doktorarbeit schreiben. Hm, ein eigentlich nachahmenswertes Beispiel. Wenig später ist dann auch Kolja zurück, der zwei Flaschen erstanden
hat. „Für alle Fälle“ sagt er.
Dann geht es in den Bus. Ein ziemlich betrunkener Mann redet alle Leute voll: „A..aber, ei…Hick… eines sage ich Dir: Russland ist grööößer als A… Amerika !!!“
„Ein guter Patriot ist er ja !“ spöttele ich. „Ja, das gewiss !“ sagt Kolja.
Es geht zur Allunions-Ausstellung, das haben sie mir gestern schon erklärt. Sie befindet sich auf einem gigantisch großen Gelände, auf das man durch ein gewaltiges Tor gelangt. „Wir nennen diesen Baustil den der verrückten Zuckerbäcker.“ sagt Kolja. „Es ist dies die Zeit der 1940er und 1950er Jahre.“
Vor den hohen Hallen ziehen sich lange, fast dünne Säulen und oben auf den Wänden ruht ein flacher Giebel.
All das ist weiß angestrichen und gibt dem Ganzen das Zuckerbäcker – Aussehen. Die Gebäude sollen wohl griechischen Tempeln ähneln. Dem Zweck des Geländes und der Hallen nach zu urteilen, wäre dies sogar logisch. Die Häuser hier wollen nämlich Heim- und Schaustätte des menschlichen Geistes sein. Die große Schöpferkraft des Menschen wollen sie darstellen. Jede der Unionsrepubliken stellt sich hier dar und dann noch einige Regionen.
Bild oben aus Wikipedia: Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft (Allunionsausstellung) 1980
Wirklich sehenswert für mich ist allerdings nur die Halle, in der die sowjetische Raumfahrt präsentiert wird.
Das andere, die stolz zur Schau gestellten Drehmaschinen und Schlepper, berühren einen westlichen Besucher eher peinlich, als dass sie einen Ausruf der Bewunderung entlocken könnten.
Die Schaustellung des armenischen Volkes zum Beispiel langweilt durch seltsame Ernte- und sonstige Arbeitsmaschinen. Draußen vor der organisierten Ausstellung präsentieren armenische Straßenhändler eine viel interessantere Erfindung armenischen Schöpfergeistes: Schaschlyk.
Eine halbe Stunde stehen wir Schlange.
Aber das muss sein. Wir haben großen Hunger.
Anschließend schauen wir uns weitere Hallen an und dann geht es noch einmal essen. Hähnchen gibt es in einer Selbstbedienungs – Gaststätte.
Der Tag verfliegt unwahrscheinlich schnell. Schon sind wir wieder im Stadtzentrum. Es ist zwar bereits nach 20:00 Uhr, aber viele Lebensmittelgeschäfte haben immer noch geöffnet. In diesem Land gibt es keine Ladenschluss – Gesetze und keine Sonntagsruhe. Ich kaufe mir noch etwas zu Essen und auf dem Kiewer Bahnhof wollen wir einen letzten Kaffee trinken.
Wir wollen… Schon in der Schlange werden Tanja und Alina von einem heruntergekommenen Russen angepöbelt, der der Meinung ist, er müsse hier einen Schnaps spendiert bekommen.
Kolja droht ihm Schläge an und er gibt Ruhe. Hinter uns stehen zwei gut gekleidete junge Georgier in langen Ledermänteln. Der heruntergekommene Russe – er ist sturzbetrunken – will seinen Schnaps jetzt von den beiden haben. Er wird einmal verwarnt, dann hat er auch schon eine Faust im Gesicht.
Wir stehen am Tisch und wollen gerade unseren Kaffee genießen, da entwickelt sich die wilde Schlägerei. Der Russe lässt von den beiden Georgiern, die ihm schon einzeln körperlich überlegen sind, nicht ab. Wenig später liegt er am Boden und die beiden treten auf ihn ein. Er wird wieder hoch gezerrt und die Männer versuchen, ihn aus der Stehimbiss – Halle zu schleifen. Er reißt sich los und rennt eine Treppe hinauf auf die Empore.
„Weg hier !“ sagt Alina und stellt mit zittriger Hand ihre Tasse auf den Tisch. „Gott, mein seliger, was ist das für ein verfluchter Ort !“ Als wir ihr hinaus in die Bahnhofshalle folgen, schmettern links und rechts neben uns Biergläser auf den Boden und zersplittern. Der Russe oben auf der Empore hat einen Kasten Gläser gefunden und lässt seine Wut an allen Mitmenschen aus: Krach. Und noch einmal: Krach.
Kolja redet draußen auf dem Weg zur Gepäckaufbewahrung auf mich ein. Peinlich ist ihm alles, was hier geschieht, hier in Moskau, der geliebten Stadt. Die Augen würde er mir am liebsten zuhalten, auf dass ich all das nicht sehen muss.
Ich versuche, die drei zu trösten. Ich erzähle von Frankfurt am Main, wo man um 22:00 Uhr den Bahnhof abschließt und wo eine Polizeikontrolle an den Eingängen nur Reisende mit einer gültigen Fahrkarte in den Wartesaal lässt.
Aber die drei können nicht recht glauben, dass das Leben in einer bundesdeutschen Großstadt so elendig und so heruntergekommen sein kann, wie in Russland. Und damit haben sie ja wohl auch Recht.
Dann gibt es ja auch noch andere Vergleiche: Tokio, die Riesenstadt, in der eine Frau ohne Angst nachts um drei auf die Straßen gehen kann, selbst auf die der Rotlicht-Viertel.
An der Eingangstür des Zuges nach Sotschi verabschieden wir uns.
Gern war ich mit den Dreien zusammen und sie waren so lieb, so fürsorglich.
„Schreib sofort, wenn alles gut gegangen ist.“ bittet Kolja.
„Nur ein: >Alles Normal<“ Das reicht ja.“ Und dann der Hauptratschlag:
„Bodo, jetzt verlässt Du Russland. Sieh Dich vor. Schau die Menschen an, mit denen Du sprichst. Sind es Balten, Russen, Ukrainer oder sonstige Europäer, so kannst Du ihnen vertrauen, wie Du allen in der transsibirischen Eisenbahn vertrauen konntest. Aber hier im Zug findest Du andere Menschen – Kaukasier, die Menschen mit schwarzen Augen, schwarzen Haaren und einer Hakennase. Hüte Dich vor Ihnen ! Vertrau Ihnen nicht l Du fährst nach Sotschi, fertig. Mehr hat die nicht zu interessieren. Du machst nur Minus wenn Du Dich nicht daran hältst.“
Ich habe meine Zweifel, ob das so stimmt und das sage ich auch.
„Glaube uns. Es ist jedes Wort wahr, das Kolja sagt !“ mischen sich jetzt Tanja und Alina ein und deshalb mache ich eben ein zustimmendes Gesicht.
Die Überlegenheit der Nordischen Rasse, wie irrational und doch so allgewaltig. Und die ökonomischen und damit politischen und militärischen Erfolge der Nordmenschen geben immer neue Argumente her. Es kann gar nicht anders sein – die Rettung des Südens muss von Norden kommen, egal wo, in Asien, Europa oder Amerika, rund um den Erdball.
Seine Sorge um mich treibt Kolja zum Schaffner, dem er meine Person noch einmal ganz eindringlich anvertraut.
Der Schaffner hat schwarze Augen, schwarzes Haar und eine Hakennase – er ist ein Kaukasier, ein Aserbaidshaner. Aber danke also und ich werde schreiben. Danke Kolja, auf Wiedersehen Tanja, viel Erfolg Alina.