MOSKAU, 10. März 1989
Ich glaub‘ es nicht ! Da vorn steht tatsächlich Kolja und wartet auf mich und Tanja ist auch da. „Was machst du denn in Moskau ?“ will ich wissen. „Das Institut hat mich gerufen. Seit einer Woche bin ich hier. Und da Du Dir für Deine Ankunft einen Samstag ausgesucht hast, kann ich auch auf dem Bahnhof sein.“
„Nur Alina fehlt noch.“ meint Kolja. „Sie ist einkaufen, das muss unbedingt sein.
Ich muss viel erzählen, von Japan und von Sibirien. „Hinter dem Baikal war ich noch nie,“ sagt Kolja. „Da wird es aber Zeit !“ entgegnet Tanja.
Dann endlich, bepackt mit Taschen, kommt Alina. „Hunger ?“
Kolja schlägt vor, in ein „Video-Cafe“ zu gehen, „…damit Du etwas siehst von den Moskauer Abenden !“
Das „Video-Cafe“ ist ein großes Kellerrestaurant, in dem über jedem Tisch ein großer Farb-Bildschirm prangt. Die Gäste sind akkurat gekleidet. Es muss sehr teuer sein, ins „Video-Cafe“ gehen zu können, und selbstverständlich nobel und absolut „in“.
Kolja bestellt Essen und Champagner und als die erste Flasche geleert ist, bittet er mich, einzuspringen: „Sprich mal die Kellnerin an, in ganz, ganz schlechtem Russisch… oder besser gleich auf deutsch. Wenn sie merkt, dass Du Ausländer bist, vielleicht schenkt sie uns dann mehr Aufmerksamkeit.“
Es ist beschämend, aber es funktioniert. Wenig später steht unsere zweite Flasche auf dem Tisch.
Dann beginnt die „Große Kultur“. Auf dem Bildschirm läuft ein amerikanischer Videoclip nach dem anderen ab. „Gefällt es Dir hier ?“ will Tanja wissen.
Wenn ich ehrlich bin, mir gefällt es nicht. „Wer in diesem Raum versteht auch nur ein Wort von dem, was hier gesungen wird ?“ Ich denke, keine zwei. Nein, russische Rockmusik würde mir hier in Moskau um einiges besser gefallen als amerikanische Video-Clips.
Aber das ist wohl eine Sache, die überall auf der Welt so ist.
Ich erzähle von japanischen Modezeitschriften, deren Models fast alle … Europäerinnen sind, erzähle von englischsprachiger Rockmusik, die junge Leute dort hören und natürlich auch von Deutschland. „Ich bin nicht so begeistert von deutschen Musikern, die ihre Texte fast ausschließlich auf Englisch vortragen. Und von solchen gibt es bei uns mehr als genug.“
Ja, Amerika übt Faszination aus. Und Russland, so scheint es, Russland mit seiner systematisch zerstörten Kultur, Russland ist dieser Faszination hoffnungslos erlegen.
„Nun,“ versucht Kolja sein Video-Cafe in Schutz zu nehmen, „sie spielen nachher auch noch sowjetische Rockmusik, Du wirst es sehen..!“
Das werde ich aber nicht sehen. Es wird den ganzen Abend ausschließlich Amerika über den Bildschirm flimmern und offensichtlich gefällt das. Es mag auch sein, dass hier eine lange klaffende Lücke geschlossen wurde, auch mag sein, dass hier ganz bewusst ein Gegensatz zum staatlichen sowjetischen Fernsehen gesetzt ist.
Von den dreien erfahre ich, dass derlei Gaststätten derzeit sehr „in“ sind in Moskau.
Unterhalten kann man sich schlecht. Und dann, das gebe ich ja zu sind die immer wieder fesselnden Bilder auf der Mattscheibe. Sie fesseln auch mich. Sie erzeugen die Illusion, nicht in Moskau, sondern irgendwo in Amerika oder Westeuropa zu sein.
Ja, ich vermisse es. Seit 7 Wochen war ich nicht mehr dort und habe bisher keine westeuropäische Zeitung gelesen.
Wegen des Bettes heute Nacht läuft Tanja andauernd zum Telefon.
Peter, bei dem ich vielleicht heute Nacht schlafen könnte, wohnt am anderen Ende Moskaus. Das Telefonnetz ist hoffnungslos überlastet. Eine freie Leitung zu bekommen, ist ein Glücksspiel. Es ist einfacher von Bonn nach Tokyo zu telefonieren, als von einem Moskauer Stadtbezirk in den anderen.
Endlich ist es geschafft. Ja, bei Peter ist ein Bett für mich, auch für Tanja selbst, denn sie wird mich dort hinbringen und es wird zu spät für sie werden, wieder quer durch Moskau zurück zu fahren.
Meine Geschenke werden knapp. Die Flasche japanischen Reisweines, die ich eigentlich bis Bonn bringen wollte, lasse ich diesen Abend bei Peter.
Seine liebe und unkomplizierte Art gefällt mir. Doch wir unterhalten uns nicht lange. Da ich mitbekomme, dass Peter, seine Frau und Tanja sich zwei Jahre nicht gesehen haben, ist es mir nicht peinlich zuzugeben, dass ich müde bin.
Zum Schlafen ziehe ich mich ins Wohnzimmer zurück.