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Ausgescholzt: Regierungskrisen als das neue Normal

Eine Koalition zerbricht, der Regierungschef verliert die Mehrheit und das Vertrauen, die Bürger müssen neu wählen: Was in anderen Länder längst Usus ist, könnte auch in Deutschland nun häufiger auftreten – Ausdruck einer veränderten Gesellschaft und politischen Weltlage. Und keineswegs das Ende demokratischer Stabilität.

Frühjahr 2028: Kanzler Friedrich Merz stellt seinem Vize Habeck ein Ultimatum, weiteren Steuersenkungen zuzustimmen, und droht mit Wechsel zu einer Koalition mit der SPD. Zuvor hatte CSU-Chef Söder aus München bereits ständig quergeschossen, weil ihm Schwarz-Grün von Anfang an nicht passte. Habeck lehnt die Forderung von Merz ab. Der entlässt ihn daraufhin. Die SPD weigert sich, dem Scholz-Nachfolger aus der Patsche zu helfen. Es kommt zur erneuten Neuwahl.

In Italien, das seit dem Zweiten Weltkrieg schon Dutzende Regierungswechsel erlebte und wo Regierungskrisen über lange Zeit zum jährlichen Sommertheater gehörten, würden sich über ein solches Szenario niemand wundern. Und auch in anderen europäischen Ländern ist das vorzeitige Ende von Regierungen längst normal. Frankreich hat gerade den dritten Ministerpräsidenten in diesem Jahr bekommen. Und ob auch der sich länger als ein paar Wochen oder Monate im Amt halten kann, ist höchst ungewiss.

In der Bundesrepublik dagegen war über Jahrzehnte politische Stabilität ehernes Gesetz. Konrad Adenauer regierte 14 Jahre, Willy Brandt und Helmut Schmidt zusammen 12 Jahre, Helmut Kohl und Angela Merkel jeweils 16. Und selbst Gerhard Schröder brachte es auf fast zwei Legislaturperioden. Olaf Scholz, der nicht mit Fortsetzung seiner Kanzlerschaft rechnen kann, ist da – noch – die Ausnahme (von Ludwig Erhard und Kiesinger in dern 1960er Jahren abgesehen).

Regierungskrisen gab es schon früher

Regierungskrisen gab es jedoch häufiger: Brandt wäre 1972 fast an den Ostverträgen und Überläufern aus der sozialliberalen Koalition gescheitert. Schmidt kam in seiner SPD immer mehr unter Druck wegen der Nato-Nachrüstung und durch die FDP. Kohl wäre 1989 warscheinlich von CDU-Granden gestürzt worden, wenn ihn nicht der Fall der Mauer gerettet hätte. Rot-Grün lebte im Dauerstreit und wäre gleich zu Beginn fast am Kosovo-Krieg und später am Afghanistan-Einsatz zerbrochen. Schwarz-Gelb von 2009 bis 2013 war ein reines Zoff-Bündnis. Und auch die GroKo unter Merkel durchlebte manche Turbulenzen, besonders als Horst Seehofer im Streit um die Flüchtlingspolitik mit dem Ausstieg der CSU und dem Ende der Fraktionsgemeinschaft drohte.

Insofern waren die Zerwürfnisse der Ampelkoalition keinwegs ein Novum. Wohl aber das Aus dieses neuartigen Bündnisses sehr unterschiedlicher Parteien aus verschiedenen Lagern nach nur knapp drei Jahren. Dass die Aufregung dennoch so groß ist, hat möglicherweise auch mit der Ahnung zu tun, dass geordnete politische Verhältnisse, wie sie in der Bundesrepublik über lange Zeit die Regel waren, auch in der Zukunft Vergangenheit sein dürften. Thüringen und Sachsen mit ihren Minderheitsregierungen lassen grüßen.

Die politischen Ränder setzen die Mitte unter Druck

Das liegt nicht nur daran, dass die beiden ehedem großen Volksparteien wie in anderen europäischen Länder stark geschrumpft sind und Zweierbündnisse daher auch hierzulande auch künftig eher die Ausnahme sein dürften. Was wiederum zu komplizierten und langwierigen Koalitionsbildungen führt (Belgien warten schon seit mehr als einem Jahr auf eine neue Regierung; in Frankreich stehen sich drei Parteienblöcke unversöhnlich gegenüber) – und zu fragilen Regierungen, die jederzeit zerbrechen können. Sondern vor allem auch daran, dass – auch als Folge des Abschmelzens der traditionellen Parteien – die politischen Ränder rechts und links immer stärker werden, in Deutschland die AfD und das BSW. Was die Parteien der Mitte zu ungewollten Verbindungen zwingt, wie die FDP 2021 zur Koalition mit SPD und Grünen.

In der Zersplitterung des Parteiensystems, wo Deutschland nur nachholt, was andere Länder wie Italien oder auch die Niederlande schon lange kennen, spiegelt sich die Fragmentierung der Gesellschaft. Auch da stehen sich soziale und politische Gruppen heute häufig unvereinbar gegenüber. Kompromisse, das Wesen jeder Demokratie, werden verächtlich gemacht wie die politischen Führungen und abgelehnt.

Handeln gegen eigene Überzeugungen

Zugleich geraten die jeweiligen Regierungen und Regierungsparteien durch die veränderte Weltlage immer stärker unter Druck, ständig kurzfristig auf Krisen reagieren zu müssen, die von außen auf sie eindrängen, statt in Ruhe ihre Koalitionsverträge und Regierungsprogamme abarbeiten zu können. Was sie zudem nicht selten dazu zwingt, gegen ihre eigenen Grundüberzeugungen zu handeln, wie die Grünen 1998 durch den Kosovokrieg, die CDU in der Flüchtlingskrise 2015 und die SPD 2022 durch den russischen Überfall auf die Ukraine.

Das alles bedeutet jedoch nicht, dass politische Stabilität damit zwingend perdu ist und die Demokratie selbst in Gefahr ist oder sein muss. Das Grundgesetz und die föderale Ordnung bieten weiterhin eine gute Grundlage, um trotzdem zu einem Ausgleich und funktionierenden Regierungen zu kommen. Mario Voigt hat es gerade in Thüringen vorgemacht. Aus einer völlig vertrackten Lage nach der Landtagswahl mit der Höcke-AfD als stärkster Partei und einem Patt im Landtag hat er eine neue Regierung geformt unter Einbindung des BSW und auch der Linken, zwei Parteien, mit denen sich viele in der CDU zurecht sehr schwer tun. Weil die Entscheidung der Wähler schlicht nichts anderes übrig ließ, wenn man das Bundesland nicht den Rechtsextremisten überlassen wollte. Oder der Unregierbarkeit.

Ein stärkerer Kanzler?

Soweit ist es im Bund zum Glück noch lange nicht. Aber mit der AfD als voraussichtlich zweistärkster Partei und dem BSW, das möglicherweise ebenfalls in den Bundestag einzieht, wird das Regieren auch in Berlin nicht einfacher. Das verlangt einen Kanzler, der entschlossener handelt und mehr Führungsstärke zeigt als Scholz, und Koalitionspartner, die nicht nur an ihre parlamentarische Existenz denken.

Das gilt erst recht angesichts der internationalen Lage mit dem Krieg gegen die Ukraine, weiteren russischen Expansionsplänen, der Krise im Nahen und Mittleren Osten und einem unberechenbaren Donald Trump wieder im Weißen Haus ab Januar. Genauso wegen der tiefen Wirtschaftskrise, der unvollendeten Energiewende und anderen Herausforderungen im Inland.

Jede politische Lage sucht sich ihre Mehrheiten und ihre Regierung, hieß es früher. Hoffentlich gilt das auch diesmal.

Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor. Er war u.a. Politikchef der „Woche“ und politischer Autor bei zeit-online. Und hat sowohl die turbulenten Jahre von Rot-Grün, die historischen Umbrüche von 1989/90 als auch die langen Jahre unter Merkel journalistisch eng begleitet.

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