Fast jeder Mann, der ungefähr vor 1970 geboren wurde und bis 1990 in der DDR lebte, musste dort den Grundwehrdienst in der NVA oder anderen kasernierten Einheiten ableisten. Der Autor, Jahrgang 1960, erinnert sich in neun Kapiteln an seine eigenen entsprechenden Erfahrungen.
Kapitel 3
Zehn Jahre zuvor, im November 1979, war die politische Situation im Land bleiern still und der Herbst ungewöhnlich sonnig. Passender wäre gewesen, hätten über dem Ausbildungsplatz triste, regenschwere Wolken gehangen; stattdessen kroch morgens ein stiller flacher Nebel über den Boden, und bald schon weitete sich über uns verdreckten, verschwitzten, verschüchterten »Anwärtern« ein strahlendblauer Himmel wie sonst nur im späten September. Viele der Märsche, Läufe, Schutzübungen usw. wurden außerdem im gelbrot leuchtenden, heiter anmutenden Mischwald des für seine Schönheit sowieso berühmten westlichen Potsdamer Umlands durchgeführt. Die Kaserne befand sich ja nur ein paar hundert Meter hinterm Park von Sanssouci.
Selten hat mich Natur derart sehnsüchtig gestimmt wie während der Grundausbildung. Ich war mir selbst und der Welt in jeder Hinsicht fremd: fremd in der Uniform, die ich tragen musste, fremd in einer noch unvertrauten, willkürlich zusammengewürfelten Gemeinschaft, die ich mir nicht ausgesucht hatte, fremd vor einer auf mich niederprasselnden zotigen Sprache und vor alternativlos zu befolgenden Befehlen, Anordnungen, Vorschriften, Einschränkungen, Verboten, fremd angesichts einer so aufreibenden wie langweiligen, mechanischen, ausschließlich per Dienstplan geregelten Gliederung von Zeit, weit weg von den alten Freunden und den Eltern.
Ja, auch von den Eltern. Der von heut auf morgen unfreiwillig auf mich gekommene und nahezu ewig sich vor mir erstreckende, unabänderliche Zustand von Gefangenschaft, Einsamkeit und entwerteter Individualität stand in groteskem Widerspruch zur Idylle der Natur ringsum. Diese Natur spendete nicht Trost, sondern wollte mir das Herz zerreißen. Mitteilen konnte ich das niemandem. Den Eltern schon gar nicht.
Am Nachmittag fand zwar meist keine direkte militärische Ausbildung statt, das heißt, wir robbten nicht über die Wiesen und dergleichen, aber »Betrieb« herrschte trotzdem, zumal für uns »Frische«. Exerzieren, stundenlanges Waffenreinigen auf dem langen Flur, Bohnern desselben, Pflege von Bekleidung und Ausrüstung (»B/A«), Kohlenschippen – irgendwas stand immer auf dem Plan. Um 17.00 Uhr erneut ein Appell, die sogenannte Dienstausgabe. Die verbleibende Zeit bis zum Abendessen sollte eigentlich der politischen Information und Weiterbildung dienen, was jedoch fast nie jemand ernstnahm. Waschen im Waschraum, Rasieren. Geschlossener Einmarsch in den Essensaal. Revierreinigung.
Von 20.00 bis 21.45 Uhr war Freizeit befohlen. Wer nicht gerade dem Bereitschaftszug angehörte, musste keine Uniform anhaben, sondern trug den schlabberigen, vom Frühsport noch verschwitzten weinroten Trainingsanzug. Hunderte Männer im Trainingsanzug über weißer Feinrippunterwäsche. Die keinen Ausgang hatten, also die meisten, spielten im Klubraum Skat, besoffen sich verbotenerweise auf der Stube, schrieben Briefe an die Freundin, die Ehefrau, die Eltern. Ich schrieb lange Briefe an meinen Freund Andreas und kürzere an die Eltern, las viel, schwatzte mit meinen neuen Freunden Stefan oder Wolfdietrich. Erneutes gründliches Stuben- und Revierreinigen, Abmelden des Zimmers beim UvD, welcher punkt 22.00 Uhr durch die Gänge rief »Kompanie, Nachtruhe!«
Kaum war man eingeschlafen, konnte es geschehen, dass jemand aus dem dritten Diensthalbjahr eine schwere Eisenkugel oder eine Bohnerplatte über den langen Gang rumpeln und gegen die Wände knallen ließ. Ebenso konnte es nach Beginn der Nachtruhe oder ärger noch morgens halb vier geschehen, dass Alarm ausgerufen wurde. Dann musste die schlaftrunkene, fluchende Einheit binnen weniger Minuten in kompletter Ausrüstung und Bewaffnung (zu empfangen vor der Waffenkammer) vorm Kompaniegebäude stehen und auf die LKWs aufsitzen. Handelte es sich nicht nur um einen Probealarm, schloss sich auch schon mal ein Zehnkilometermarsch an.
Einmal pro Woche wurden im Waschraum der Kompanie die Duschen angestellt. Zugweise drängelten sich dreißig nackte Männer um das nie lange genug reichende warme Wasser. Fürs erste Diensthalbjahr, das natürlich zu warten hatte, bis die EKs ihre Körperpflege beendet hatten, blieb nur selten welches übrig.
Am Sonnabend endete der Dienst am frühen Nachmittag, die Nachtruhe verschob sich um eine Stunde nach hinten. Sonntags war theoretisch dienstfrei. Es wurde erst um 7.00 Uhr zum Wecken gepfiffen, und es fand kein Frühsport statt. Nachmittags war eine Kinovorführung im Kultursaal, wo die Interessierten in geschlossener Formation einmarschierten. Wer Besuch bekam, wurde per Lautsprecher zur Wache gerufen, wo man in einem hässlichen, kahlen Gemeinschaftsraum mit zerschlissenen Stühlen seiner Frau oder seinen Eltern gegenübersaß und sich um ein Gespräch bemühte. Der Besuch durfte nicht ins »Objekt« hinein, die Soldaten aus diesem nicht heraus.
Am schlimmsten waren diejenigen Kameraden dran, die kleine Kinder hatten. Das Abschiednehmen war für sie kaum auszuhalten. Andere erfuhren im Besuchersaal, dass die Freundin genug davon hatte, sich wochen- und monatelang treu zu verhalten. Für den Diensthabenden im Med.-Punkt konnte das bedeuten, einen im Koma liegenden Alkohol- und Tablettenvergifteten mit Blaulicht ins Krankenhaus zu fahren oder einen wild um sich schlagenden Besoffenen zu beruhigen und notfalls zu fixieren.
Während der Grundausbildung waren meine Eltern zweimal da. Sie hatten sich für die ein, zwei Stunden unerquicklicher Konversation mit ihrem Ältesten und für das Mitbringen von frischer Unterwäsche, Briefmarken und Äpfeln einen ganzen Tag des Wochenendes freigenommen. An Urlaub war ja vorläufig nicht zu denken. Ohnehin durfte immer nur höchstens ein Drittel der Mannschaftsstärke im Ausgang oder Urlaub sein. Da ich in Potsdam niemanden kannte, zu dem ich hätte gehen können, und ich keine Lust hatte, in irgendwelchen Kneipen in Uniform zu sitzen und mich zu betrinken, bewarb ich mich in den ersten Monaten kaum um Ausgang.
Nach Wittenberg fuhr ich erst per Weihnachtsrate knapp zwei Monate nach meiner Einberufung. Das einzig Gute am Urlaub war, dass man sich nicht in der Kaserne befand und nicht den Tagesdienstablaufplan befolgen musste. Ich saß bei den Eltern und den Geschwistern in der Guten Stube mit dem geschmückten Tannenbaum, tauschte mit ihnen Geschenke und packte Westpakete aus, aß wie jedes Jahr das schlesische Heilig-Abend-Gericht aus Weißwürsten, Knackern, mehlig gekochten Kartoffeln, Sauerkraut, einer würzig-süßen Pfefferkuchensauce und reichlich Senf und Meerrettich – und wusste nicht, was ich reden oder tun sollte.
Vater wäre der einzige gewesen, der sich in das Paralleluniversum, in dem sich sein Sohn befand, hätte hineindenken können, aber da es ihn zu seiner Zeit noch viel drastischer als jetzt mich ereilt hatte und er auch davon ausging, dass ein bisschen Militärdienst zur Schule des Lebens nun mal dazugehöre, kamen unsere Gespräche über Fragen der Technik und Struktur selten hinaus.