Minderheitsregierungen werden womöglich zur deutschen Normalität. Das muss nicht schlecht sein. Ungewöhnlich jedoch das Patt im Thüringer Landtag, weshalb unklar ist, ob Mario Voigt am Donnerstag eine Mehrheit als CDU-Ministerpräsident erhält – und vom wem. Eine ähnliche Konstellation gab es schon einmal: 1987 in Schleswig-Holstein.
Über die Vor- und Nachteile von Regierungen ohne klare sie stützende Mehrheit im Parlament wird schon länger kontrovers diskutieren. Die Befürworter verweisen auf das Beispiel Skandinavien, wo Minderheitsregierungen Tradition haben, und argumentieren, eine solche Situation könne auch in Deutschland die Demokratie beleben. Denn weil die Regierung dann jeweils um eine Mehrheit für ihre Gesetze und Vorhaben ringen müsse, würden die Auseiandersetzungen aus der Hinterzimmern von Koalitionsrunden auf die offene Bühne des Parlaments verlagert. Skeptiker dagegen sind überzeugt, dass dies zu Instabilität führe und eine ganz andere, auf Konsens ausgerichtete politische Kultur erfordere wie im Norden Europas.
Gegen das Instabilitäts-Argument, das gerade für Deutsche nach den Erfahrungen der Weimarer Republik schwer wiegt, lässt sich einwenden, dass die Minderheitsregierungen in Skandinavien funktionieren dank Abmachungen mit der jeweiligen Opposition, sie nicht jederzeit einfach zu stürzen. Die Berliner Ampel hat zudem hinreichend bewiesen, dass eine Parlamentsmehrheit keineswegs Stabilität garantiert, wenn sich die beteiligten Parteien nicht grün sind.
Erpressbar durch AfD und BSW
In Sachsen-Anhalt regierte Reinhard Höppner als erster von 1994 bis 2002 acht Jahre lang erfolgreich erst mit einer rot-grünen, dann SPD-Minderheit, toleriert von der PDS; Kohl und die CDU nutzten das damals für ihre „Rote-Socken“-Kampagne. In Nordrhein-Westfalen scheiterte Hannelore Kraft später vorzeitig, weil die Linke Rot-Grün die Duldung entzog.
Unter den heutigen Bedingungen machen unklare Parlamentsmehrheiten die geschrumpften ehedem großen Parteien vor allem im Osten erpressbar – durch die AfD, aber auch das BSW. Sie können daran aber wenig ändern: In Thüringen haben die beiden extremistisch-populistischen Parteien zusammen die Mehrheit. Und auch in Brandenburg kann SPD-Regierungschef Woidke nicht ohne Wagenknechts Partei regieren, wenn es sich nicht in die Fänge der AfD begeben oder ganz ohne Mehrheit dastehen will.
AfD-Stimmen für Voigt in Thüringen?
Von Ausnahmen könnten aufgrund des aufgesplitterten Parteiensystems Minderheitsregierungen indes nun eher zur Regel werden. Wie in Thüringen gibt es auch in Sachsen seit den Landtagswahlen vom September keine eindeutige Mehrheit mehr. Dem amtierenden Ministerpräsidenten Kretschmer mit seiner CDU/SPD-Koaltion fehlen dort zehn Stimmen zur Wiederwahl. Er ist auf Stimmen oder Enthaltungen von Linken und/oder Grünen im dritten Wahlgang angewiesen. Voigt hingegen muss im Erfurter Landtag am Donnerstag fürchten (oder hoffen?), dass ihn AfD-Abgeordnete in der geheimen Abstimmung mitwählen – was zu einem ähnlichen Skandal wie nach der Wahl des FDP-Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich 2020 führen und die erste Brombeer-Koalition mit dem BSW gleich zu Beginn torpedieren kann.
Olaf Scholz erlebt gleichzeitig, wie schwierig es nach dem Rauswurf der FDP aus der Ampel ist, ohne Mehrheit zu regieren. Sein rot-grünes Übergangs-Minderheitskabinett ist faktisch handlungsunfähig. Ob es nach der Neuwahl am 23. Februar eine klarere Konstellation gibt, ist jedoch keineswegs gewiss.
Patt am Watt
Längst vergessen ist indes, dass es ein Patt im Landtag schon einmal gab: 1987 in Schläfrig-Holstein, dem kleinen Land zwischen den Meeren. Mit bemerkenswerten Folgen. Im Schatten der Barschel-Affäre wurde damals ein neuer Landtag gewählt. Weder Schwarz-Gelb noch die SPD als stärkste Partei bekamen eine Mehrheit. Karl-Otto Meyer, der einzige Abgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW), der als Vertretung der dänischen und friesischen Minderheit von der Fünf-Prozent-Hürde befreit ist, hielt sich als Zünglein an der Waage heraus.
Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der sofort gebildet wurde, um die schweren Vorwürfe gegen den CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel aufzuklären, er habe seinen SPD-Rivalen Björn Engholm bespitzeln lassen und weitere illegale Machenschaften begangen, gab es deshalb ebenfalls ein Patt. Während sonst in solchen Ausschüssen die jeweilige Regierungsmehrheit in der Regel wenig Interesse an der Aufklärung zeigt, wenn es sie selbst betrifft, machten sich in diesem Fall die Abgeordneten gemeinsam an die Arbeit. Und Barschels Kartenhaus, das er zu seiner Verteidigung aufgebaut hatte und glaubte, es mit seinem „Ehrenwort“ uneinstürzbar zu machen, krachte schnell zusammen. CDU-Abgeordnete brachen daraufhin im Untersuchgungsausschuss in Tränen aus, weil ihre politische Welt zusammenbrach.
Geheimer Koalitionsvertrag
Ungeachtet dessen führten CDU und FDP insgeheim Koalitionsverhandlungen, als wäre nichts gewesen. Und schlossen sogar einen Koalitionsvertrag, obwohl sie gar keine Mehrheit hatten. Wolfgang Kubicki, schon damals FDP-Fraktionschef, trinkfreudig und mit allen PR-Wassern gewaschen, setzte allerdings durch, dass es von den Koalitionsgesprächen und der Unterzeichnung des Vertrags mit Barschel keine Fotos geben durfte. Soviel Abstand wollten seine irrlichternden Freidemokraten zu dem Skandal-Politiker dann doch wahren.
Wirksam wurde dieser denkwürdige Koalitionsabschluss freilich nicht. Denn bevor es zur Neuwahl des Ministerpräsidenten hätte kommen können, endete Barschel in einer Badewannw in Genf – einen Tag, bevor er vor dem Untersuchungsausschuss hätte aussagen sollen. Die Neuwahl des Landtags 1988 gewann Engholms SPD mit absoluter Mehrheit. Der Rest ist Geschichte.
Ludwig Greven, freier Journalist und Autor, war 1987 Norddeutschland-Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters. Und erlebte die Ereignisse im Kieler Landeshaus hautnah mit. Weil dort die Büros der Landtagskorrespondenten im selben Gebäude sind wie die der Abgeordneten und der Plenarsaal, gab es einen regen Austausch, auch schon mal bei einer Flasche Rotwein im Büro von Wolfgang Kubicki. Noch viel mehr zur Transparenz trug jedoch das Patt im Landtag bei. Und der Druck der Barschel-Affäre, die weltweit Schlagzeilen machte.