Wie kurz mittlerweile das kollektive Gedächtnis der Welt ist, könnte einen beängstigen. In Wahrheit ist es aber nur allzu logisch. Denn solange es nicht um Juden respektive Israel geht, reagiert die Welt eher mit Gleichgültigkeit auf solche Ereignisse wie das Wiederaufflammen des Krieges in Syrien. Wen soll man beschuldigen, wenn man keine Juden beschuldigen kann?
Kein Bürgerkrieg.
Dass der Krieg in Syrien kein Bürgerkrieg ist, sollte mittlerweile klar sein. Oberflächlich geht es um handfeste wirtschaftliche und geostrategische Interessen und Einflusszonen, darunter liegt der ideologische Kampf zweier islamischer Glaubensschulen. Die Akteure – Assat, Putin, Erdogan, das klerikal-faschistische Regime in Teheran und seine zahlreichen Terrorproxys – scheren sich einen Teufel um die Opfer. Denn sie sind nur Verfügungsmasse, Kanonenfutter für den Todeskult der Ideologie.
Drei Affen.
Wo bleibt die weltweite Aufmerksamkeit für den Völkermord an syrischen Zivilisten, die größtenteils Minderheiten sind? Schätzungen zufolge wurden bis heute im syrischen Bürgerkrieg 617.910 Zivilisten getötet, viele davon Frauen und Kinder, aber es finden keine Proteste auf den Straßen von London, Paris, New York oder Berlin statt, keine Zelte auf den Campussen amerikanischer Universitäten oder deutscher Universitäten. Keine UN-Resolutionen, die die von Assad und den islamistischen Akteuren und ihren Geldgebern begangenen Gräueltaten verurteilen. Kein Haftbefehl des IstGH, keine Stellungnahme der Bundesaußenministerin, keine Aufrufe, doch reichlich für die Opfer dieser Gewalt zu spenden. Die Welt erstarrt in der Geste der drei berühmten Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Der vierte Affe, der nichts tut, schleicht sich ins Bild.
Könnte das möglicherweise etwas damit zu tun haben, dass keine Juden beteiligt sind, weil es nicht um Juden geht? Während in Kanada beispielsweise bei einer sogenannten propalästinensischen Demonstration eine Frau in eine Kamera an die Juden der Welt gerichtet, ganz offen und ungehindert eine neue „Endlösung“ herbei sehnte und das mit dem Hitlergruß bekräftigte, bleibt es jetzt seltsam still. Als mir am 08.10.23, also einen Tag nach dem Terrorangriff der HamaSS auf Israel, die Mesusa an meiner Wohnungstür mit einem Hammer zertrümmert wurde, musste ich darum kämpfen, das zur Anzeige bringen zu können. Letztendlich wurde es nur als „Sachbeschädigung“ gewertet. In meiner Zeit als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer wurden mir, als herauskam, dass ich Jude bin, die Reifen meines Autos vor der Unterkunft zerstochen. Die Konsequenz war, dass mir geraten wurde, mein Engagement „zurückzufahren, um nicht weiter zu provozieren.“ Wir Juden kennen das schon: Doppelstandards, Täter/Opfer-Umkehr und die ganzen Tools aus dem Werkzeugkasten des Antisemitismus. Dazu gehören auch die altbekannten und neue Verschwörungsmythen, Israel stecke in Wahrheit hinter dem islamischen Terrorismus. Dazu machen Gerüchte die Runde, dass die USA die „Rebellen“ finanzieren, um Europa mit einer zweiten Welle syrischer Flüchtlinge fluten zu können und das korrupte Regime in der Ukraine aus dem Blick zu nehmen, Putin will vom Angriffskrieg gegen die Ukraine ablenken etc. Und vielleicht bewahrheiten sich ja die Gerüchte bezüglich der USA und Russland. Wir würden damit noch glimpflich davonkommen. Mit einem dritten Weltkrieg, der den Planeten unbewohnbar machen würde, nicht.
Was wir jetzt wieder ertragen werden müssen, sind die Jubelfeiern der Sympathisanten der Islamisten, die Aleppo „zurückerobert“ haben. Auch deutsche Straßen werden voll sein davon, voll von heimlichen Jihadisten, voll von Terrorverherrlichern, voll von Kriegstreibern des Todeskults. Und während die EU, die Nato und die UNO sich in immer gleichen Textbausteinen zur Aufforderung der Deeskalation ergehen werden, sterben wieder Menschen. Nur interessiert das die Glaubensbrüder nicht.
Ich bin gespannt, wie sich vor allem die westliche Linke zu diesem neuen Konflikt positionieren wird.
Daniel Anderson: Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron) und Schriftsteller. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.
„Wo bleibt die weltweite Aufmerksamkeit für den Völkermord an syrischen Zivilisten, die größtenteils Minderheiten sind?“
Das ist mit Verlaub Unsinn.