Eine Dystopie.
Nach mehreren Anschlägen in den letzten 10 Jahren im gesamten Bundesgebiet, von Schleswig-Holstein bis Bayern, verursacht durch Raketeneinschläge und Autobomben, erhält ein Deutscher Geheimdienst mit dem Kürzel “Ω” die Gelegenheit, die Urheber “auszuschalten”. Der Dienst schlägt hart und präzise zu. Die gesamte IT-Struktur der Terrorgruppe wird eliminiert, der Kommandeur der „Liechtensteiner Befreiungsbewegung“ Laurin Büchel, stirbt durch ein “Ω”-Kommandounternehmen. Kurz darauf gibt es einen Massenangriff mit Drohnen und Raketen am Nordufer des Bodensees. Noch ist niemand verletzt, aber der Sachschaden beträchtlich.
Im Laufe des Tages erweitert sich der Radius der Einschläge – in Freiburg werden Teile der Altstadt zerstört, in Baden-Baden fällt das Festspielhaus durch einen Volltreffer in sich zusammen. Die ersten Toten sind zu beklagen. In den Außenbezirken von Karlsruhe und Stuttgart herrscht Chaos, nachdem mehrere Einfamilienhäuser von Raketen ausradiert wurden. Ein Kindergarten geht in Flammen auf, mehrere 3–6-jährige Kinder sterben noch am Ort des Geschehens.
Sicherheitskräfte und Feuerwehren sind überfordert. Die Autobahnen in Richtung des scheinbar sichereren Nordens sind verstopft. Die Polizei versucht, durch Öffnung der nach Süden führenden Fahrspuren für den Verkehr in die Gegenrichtung, der Lage Herr zu werden. Der Notstand wird ausgerufen. Die Bundeswehr wird, als der Krisenstab in Berlin endlich die Gefahr erkennt, in Marsch gesetzt, zwei gezielte Tomahawk-Marschflugkörper der Bundesluftwaffe treffen eine Raketenabschussbasis in Liechtenstein. Währenddessen detonieren in Ludwigsburg und Villingen-Schwenningen Autobomben und zerstören öffentliche Einrichtungen. Man kommt nicht umhin festzustellen: Deutschland befindet sich de facto in einem asymmetrischen Krieg.
Die LINKE rät angesichts des Kriegszustandes, in dem sich Deutschland offensichtlich befindet, zur Besonnenheit, man müsse, so Gregor Gysi in einen Interview, auf eine ‘diplomatische Lösung’ setzen. Das BSW fordert die Bundesregierung auf, sofort jegliche Provokation zu unterlassen, um die Spirale der Eskalation zu unterbrechen und mit den Liechtensteinern sofort in Verhandlungen einzutreten. Die GRÜNEN verurteilen die deutschen Gegenschläge nicht grundsätzlich, vor allem aber die ökologischen Schäden seien nicht in Euro zu beziffern, allerdings will man einer Verteidigung nicht im Wege stehen. Die Altkanzlerin weist darauf hin, dass Deutschland schließlich selbst daran schuld sei – warum ermitteln deutsche Steuerbehörden denn seit Jahren in dem Fürstentum Liechtenstein gegen Steuerhinterzieher aus Deutschland. Da müsse man eben auch das Echo ertragen können. Der Hinweis auf die Charta der LBF (Liechtensteiner Befreiungsfront) in der in Artikel 7 offensiv gefordert wird, die Deutschen in die Nordsee zu treiben und in der man konstatiert, dass es die ‘göttliche Pflicht’ eines jeden Liechtensteiners sei, die Deutschen zu ermorden, wo immer man sie trifft, dieser Hinweis verhallt ungehört. CDU/CSU, SPD und, siehe da, auch die AfD bilden eine ‘Regierung der nationalen Einheit’, an deren Spitze sich die Parteivorsitzenden setzen. Die PIRATEN, die aufgrund der Krise eine Renaissance erleben, diskutieren offen über eine Sperrung des Internets für die Zeit der Bedrohung und schreiben sofort eine entsprechende Software.
Die internationalen Reaktionen sind eher von Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Der französische Präsident verurteilt zwar das Bombardement, gibt aber zu bedenken, dass Deutschland ‘provozierend handeln’ würde.
Der Generalstab der Bundeswehr beschließt, vor dem Abfeuern von Raketen, die Menschen in Liechtenstein durch SMS und Flugblätter zu warnen. Aber dieses humanitäre Handeln hat auf die Weltöffentlichkeit nicht den gewünschten Effekt und wird als „Propagandalüge“ deklariert.
Inzwischen schlagen einzelne Raketen in Frankfurt und Potsdam ein – zum ersten Mal seit Ende des zweiten Weltkrieges wird in Berlin Luftalarm ausgelöst – Sirenen heulen, Menschen fliehen in Panik in die U-Bahn. Noch in derselben Nacht fliegt die Luftwaffe mehrere Wellen von Angriffen gegen Ziele in Liechtenstein. Das Heer bereitet eine Bodenoffensive vor.
Und jetzt reagiert die Weltöffentlichkeit mit Entsetzen und Empörung. Die USA und die NATO versagen Deutschland den ‘Bündnisfall.‘ Bis auf die Mongolei ziehen alle Staaten ihre Botschafter aus Berlin ab, China löst alle Handelsabkommen mit Deutschland. Österreich, bis jetzt neutral und versuchend, sich aus allem rauszuhalten, richtet eine diplomatische Note an das Bundeskanzleramt und verurteilt ‘aufs Schärfste’ die Luftangriffe auf das ‘wehrlose Liechtenstein’. Die Benelux-Staaten schließen vorsorglich ihre Grenzen und drehen Deutschland den Ölhahn zu, Skandinavien riegelt die Ost- und Nordsee ab. Der Sicherheitsrat der UNO ruft beide Seiten zur Mäßigung auf und verabschiedet eine Resolution, die Deutschland als Aggressor brandmarkt.
In Irland organisiert Roger Waters ein Konzert unter dem Titel „Free Liechtenstein,“ an dem alles, was in der internationalen Musikszene Rang und Namen hat, sich darum prügelt, dabei sein zu dürfen. In einer Sonderausgabe New York Times fordern 1001 Schriftsteller, Deutschland alle Literaturnobelpreise abzuerkennen. Das PEN unterstützt diese Forderung. Der Fußballweltverband FIFA ist da bereits einen Schritt weiter. Deutschland muss die Organisation verlassen, sämtliche Weltmeisterschaftssiege werden annulliert. Die Bewegung „Queers for Liechtenstein“ veröffentlicht im Internet ein Statement und bezichtigt darin die Bundesrepublik, „Pinkwashing“ zu betreiben, wenn man ausdrücklich darauf hinweist, dass auch queere Personen in den Streitkräften dienten.
Bilder von weinenden Soldaten und Kindern in Liechtenstein, sowie bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Zivilisten rauschen durch die Medien um die Welt. Einzelne, auf Facebook und anderen sozialen Plattformen auftauchende Beweise, dass der Großteil der Fotos Fälschungen sind, werden geflissentlich ignoriert oder als Fakenews gebrandmarkt.
Raketeneinschläge werden aus dem Berliner Regierungsviertel gemeldet. Flughäfen, Autobahnen und Bahnstrecken sind für den privaten Verkehr gesperrt. Die Situation in den Krankenhäusern spitzt sich zu, die medizinische Versorgung droht zu kollabieren.
Eine Woche später überrennt die Bundeswehr mit Luftlandetruppen das „wehrlose Liechtenstein.“ Daraufhin wird Deutschland aus der UN ausgeschlossen, Frankreich kappt Stromleitungen und Polen, die Tschechische Republik, sowie die Slowakei und die Länder des ehemaligen Jugoslawiens schließen die Botschaften und Konsulate. China ruft einen Boykott deutscher Waren aus und lässt deutsche Autofabriken und Autohäuser von Militäreinheiten umstellen. Deutsche Handelsschiffe werden in Häfen rund um den Globus festgesetzt, auf offener See aufgebracht und in den nächstgelegenen Hafen eskortiert. Jemenitische und eritreische Piraten entern mit Unterstützung der iranischen Marine deutsche Kriegsschiffe im Golf von Aden und hissen auf diesen Schiffen die Flagge Liechtensteins.
Inzwischen werden in Deutschland Lebensmittel rationiert, Strom gibt es nur noch, wenn genügend Wind weht oder Sonne scheint, die Industrieproduktion wird, von den Rüstungsbetrieben abgesehen, eingestellt. Trinkwasser für die Bevölkerung wird so knapp, dass das Duschen verboten wird. Aber die Deutschen wollen nicht nachgeben, sondern bestehen darauf, sich nach internationalem Recht verteidigen zu dürfen. Die deutsche Wertpapierbörse wird geschlossen, ohnehin liegt das Gebäude in Frankfurt a.M. durch einen Volltreffer in Schutt und Asche.
Die Bevölkerung Liechtensteins sitzt in der Falle, denn die beiden Nachbarstaaten des Fürstentums, die Schweiz und Österreich, weigern sich, Menschen die Grenze passieren zu lassen. Eine menschliche Tragödie unbekannten Ausmaßes entwickelt sich zum Alptraum. Der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge appelliert an die friedliebende Welt, reichlich für die Liechtensteiner zu spenden, um die schlimmste Not zu lindern. Daraufhin fließen Milliarden auf Konten, die das Fürstentum im Ausland hat. Korruption und Verschwendung nehmen nie gekannte Ausmaße an. Der Verband der Einzelhändler in Liechtenstein entschließt sich, jedem seiner Mitglieder ein Schwimmbad bauen zu lassen. Jeder Treffer auf deutsches Staatsgebiet wird mit einem schulfreien Tag für die Kinder belohnt. Das in Vaduz, von dessen Keller aus Tunnel in alle Himmelsrichtungen gegraben wurden, um Waffen und vor allem Raketen zu lagern, explodiert. Der Sprecher der „Liechtensteiner Befreiungsbewegung“ spricht von einem „feigen Angriff der Deutschen auf Zivilisten.“ Geleakte Dokumente beweisen jedoch, dass das Gebäude durch die Fehlfunktion einer Rakete im Keller zerstört wurde. Diese Beweise finden aber kein internationales Echo. Im Gegenteil. Deutschland wird nun aus der ganzen Welt gedroht wird, denn einen Beschuss ziviler Ziele sei nicht hinnehmbar. Deutschland bleibt dagegen stur und das in Permanenz tagende Kriegskabinett wird nicht müde, Deutschlands Recht auf Selbstverteidigung anzumahnen. Aber das, was Deutschland inzwischen international verlautbart, findet so gut wie gar keine Beachtung mehr.
Bei einer Massenkundgebung von Liechtensteinsympathisanten in Kanada, bei der die Polizei einer Wortführerin die Lautsprecheranlage eines Einsatzwagens überlässt, skandiert man frenetische Parolen wie: “Deutschland Massenmörder”, “Deutschland Kindermörder” und “Deutsche raus aus Europa.“ Eine Demonstrantin zeigt sogar den Hitlergruß und schreit in eine Kamera, dass es Zeit für eine „Endlösung“ sei.
Auf der ganzen Welt sehen sich Deutsche plötzlich isoliert. Deutschen Studenten wird der Zugang zu ihren Bildungseinrichtungen im Ausland verwehrt. Dabei werden sie bedroht und müssen sogar um ihr Leben fürchten. Die Kulturstaatsministerin richtet einen dringenden Appell an alle Deutschen im Ausland, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr als Deutsche zu erkennen zu geben. Man soll öffentlich nicht mehr Deutsch sprechen, keine deutschen Bücher mehr lesen oder etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln in der Muttersprache telefonieren.
Der Papst mahnt zum Frieden und richtet die dringende Bitte an die Konfliktparteien, die heiligen Stätten zu verschonen, nachdem zwei Autobomben an der Wartburg und am Dom in Speyer erheblichen Schaden angerichtet haben. Er schließe alle Opfer der Kampfhandlungen in seine Gebete ein.
Als jetzt die deutsche Kriegswirtschaft durch den internationalen Boykott zusammenbricht, wird in den Landesparlamenten von Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen nahezu einstimmig beschlossen, den Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes zu verlassen, um dem „Frieden eine Chance zu geben.“ Das berühmte Lied von John Lennon mit dem gleichnamigen Titel wird zur neuen Landeshymne in Thüringen. Nach und nach erklären sich auch Brandenburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern für unabhängig. Die Initiative des Bundespräsidenten, eine „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ nach dem Vorbild der Nachfolgeorganisation der ehemaligen Sowjetunion zu bilden, findet wenig Beachtung und ist nicht mehr als eine Fußnote auf der Seite „Vermischtes“ in den Lokalblättern, die sporadisch noch erscheinen.
Sechs Monate nach Beginn der Kampfhandlungen ist die Bundesrepublik Geschichte.
Daniel Anderson: Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron) und Schriftsteller. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.
Andersons Bücher erscheinen im Spiegelberg-Verlag.
Ob das die Antisemiten kapieren, denen dieser Text den Spiegel vorhält?
Ich hoffe es.
Ein eindrucksvoller dystopischer Text, ich musste nach dem lesen an Orson Walles denken.