Von Michael Simon de Normier
Jede Kultur bestimmt das Level der Gewalt gegen Frauen mit. In „Betrunkenes Betragen“ trägt der Bestsellerautor und promovierte Psychiater, Jakob Hein, eine spannende Hypothese vor: Jede Kultur bekommt das betrunkene Betragen, das sie bereit ist, zu (er)dulden.
Die These entstammt ursprünglich einem anthropologischen Klassiker der Suchtpsychologie von 1969. Sie darf diskutiert werden, ganz nüchtern, oder auch gerne leidenschaftlich. Je nach Erfahrungswelt und eigenem Kulturbezug zur Trunkenheit! Dennoch, sie gilt für so manche Geißel der Menschheit. Ganz sicher gilt sie für Häusliche Gewalt! Diejenige Form von Brutalität, welche sich in der absolut überwiegenden Zahl der Fälle gegen Frauen und Kinder richtet, ist dem Menschen, vor allem dem Manne, zutiefst und tragisch irgendwie zueigen. Inwieweit wir sie als Normalität betrachten und hinnehmen, ist unsere Entscheidung. Ein Kommentar.
Erschreckt habe ich mich, als wir neulich fürs Heimkino einen Film suchten. Der sollte für mich den allmählichen Ausweg bahnen, seit bald zehn Jahren, als Papa, fast nur noch Zeichentrickfilme zu sehen.
Mein erster Erwachsenenfilm im Kino war, etwas frühreif nach den Vorstellungen der FSK von 1983, ein Bond mit dem gewollt-mehrdeutigen Namen „Octopussy“. Als ich mit pochendem Herzen, dem Einverständnis meiner liberalen Eltern und einem etwas älteren Nachbarsjungen damals die nicht vorhandene Einlasskontrolle des Kinos passierte, da war ich ziemlich genau so alt, wie heute meine Tochter. Dass die Bonds der Gegenwart andere sind als damals, ist klar. Doch meine Liebste und ich hatten die schlichte Vorstellung: Je älter, desto harmloser! In gewisser Weise mag das stimmen. Aber nicht linear. Die ersten Bonds aus den Sechzigern würden mit ihrem, aus heutiger Sicht verstaubten bis geradezu grotesken Alltagschauvinismus, wohl kaum wirkungsvoll das Frauenbild der Generation Alpha kontaminieren. Ich mache mir wenig bis gar keine Sorgen, dass „Liebesgrüße aus Moskau“ die Entwicklung meiner Tochter zu einer echten Persönlichkeit nachhaltig schädigen könnte. Möglich, aber unwahrscheinlich und eher unproblematisch, wenn sie Miss Moneypenny nacheifernd in ein paar Jahren deren Cone-Bra als Retrochick für ihre Generation entdeckt. Sie wird weder an einer Olympia SM3 sitzen wollen, noch, wegen eines Aston Martins, Bond-Girl zu ihrer Berufswahl machen, nehme ich an. Und solange sie dem Augenblick, in welchem ihr Wunsch aufkeimt, sich altersgemäß abzugrenzen, nicht brutal Nachdruck verleiht, indem sie, wie Bösewicht Fiona Volpe, mit einem giftigen Klappmesserschuh auf mich zu kommt, darf mir das auch gleich sein.
Von mir aus dürfte sie „Goldfinger“ schauen und Pussy Galore irgendwie cool finden. Die wirkt auf mich ohnehin eher lesbisch angelegt und kommt mir recht modern vor, auch wenn es bedauerlich erscheinen mag, dass Miss Galore in ihrer Präferenz für Frauen weder ganz standhaft bleibt noch ursprünglich auf der richtigen Seite von „Gut vs. Böse“ ihren Mann steht.
Doch meine Tochter ist so ein Mädchen-Mädchen (wofür wir Eltern eigentlich nichts können), dass sie „Diamantenfieber“ sehen wollte. (Angeblich „girls best friends“ und so…). Papa und Mama waren einverstanden. Und da stand FSK 6.
Dabei erdrosselt Bond bereits im Vorspann eine Frau beinahe mit ihrem Bikini-Top. Etwas später schlägt er sogar seine Favoritin, harsch ins Gesicht und heißt sie ein Wort, das ich meiner Tochter (noch) nicht erklären möchte.
So also sind die Männer? Manchmal. 1971.
Nicht nur James Bond zeigte damals eine überraschende und an ihm, dem vermeintlichen Gentleman, bis dahin ungeahnte sadistische Seite, innerhalb derer sich seine Geringschätzung, welche Frauen vorrangig als Sexobjekte betrachtet und sie meistens charmant, doch ziemlich selbstsüchtig umgarnt, unerwartet harsch desavouiert: Der Frauenschläger Bond-Connery, leider! Zwei Jahre später mit seinem Nachfolger Bond-Moore in „Leben und Sterben lassen“ sattelte der noch mal drauf. Daraufhin regten sich endlich erste Stimmen, denen das aufstieß. Dabei war Bond aber nicht der einzige, Anfang der Siebziger Jahre. Ein trauriges Denkmal aus Begeisterungsstürmen, die ein kunstbeflissenes Kinopublikum für unübersehbare Qualen aufbringt, die Frauen vor laufender Kamera und in Großaufnahme zugefügt werden, war Bernardo Bertoluccis „Letzter Tango in Paris“. Ein bejubeltes Hochfest des europäischen Autorenfilms, bis erst vor wenigen Jahren evident wurde, was unübersehbar war: Die reale anale Vergewaltigung einer völlig perplexen und infolge echte Tränen vergießenden Maria Schneider war nicht gespielt, sondern in Komplizenschaft zwischen Hauptdarsteller Marlon Brando und Regisseur Bertolucci abgesprochene Vollpenetration – mithilfe von Butter. Missbraucht und darin gedemütigt, ging diese Szene für Schneider böse aus. Traumatisiert sowie abgestempelt durch den Leinwanderfolg als sexuell ausgeliefert-verfügbare, höchstverletzliche Person, fand sie bis zu ihrem recht jungen Tod kaum aus dem Schatten dieser Misere.
Ein Backlash an Gewalt gegen Frauen, ausgerechnet mit dem Siegeszug des Feminismus
Obwohl oder gerade weil das alles kurz vor meiner Geburt war, wird mir heute noch übel, wenn ich daran denke, wie Menschen der Generation meiner Eltern darin einen Kunstgenuss sahen. Diejenigen Männer, die das inszenierten, derlei Drehbücher verfassten, die Frauen vor der Kamera erniedrigen, entstammten Generationen, für die Schläge, selbst heftigste, zu ihrer Kindheit gehört hatten. Für meine Mutter hatte der später ausrangierte Teppichklopfer eine Bedeutung und Geschichte, die ich mir heute noch nicht vorstellen mag.
Die Zeiten waren hart, oft eine Zerreißprobe der Menschlichkeit am Rande derselben oder bereits mitten im Abgrund. Das ist keine Entschuldigung.
Aber Kinder, die nie geschlagen wurden, kommen womöglich gar nicht auf die Idee, ausgerechnet ihre Partner zu schlagen. Das ist eine Hoffnung. Erwachsene, die als Kinder Gewalt erlebt haben, wissen einerseits, wie demütigend, erniedrigend, kränkend und per se verletzend – sogar unabhängig von den physischen Verletzungen – es ist, von einer geliebten Bezugsperson Gewalt zu erfahren. Doch sie verarbeiten das höchst unterschiedlich. Im besten Fall, aber leider nicht immer ist eine erhöhte Sensibilität und Empathie das Resultat.
Dass ausgerechnet die Ära, in der der Feminismus wirkmächtiger wurde, eine Gegenströmung unreflektierter Brutalität bei pragmatischem Wegschauen für dessen Bedeutung gezeitigt hatte, belegen auch andere Reflexe von Hypermaskulinität wie etliche Kung-Fu- und Actionfilm Genres dieser Jahre. Auch Bond wandelte sich mit seiner Kohorte und Gesellschaft und ihrer sich veränderten Akzeptanz von Gewalt in deren verschiedenen Formen. Dann kam Madonna. Die androgynen Stars meiner Jugend versteckten ihr Schwulsein, ihr Anderssein, ihre feminine Seite nicht mehr, sondern präsentierten all das offen.
Die Angst vor emanzipierten Frauen verschwand dabei sicherlich nicht aus den Herzen weniger gefestigter Männer. Doch einer ganzen Generation von Männern blieb wenig anderes übrig, als sie notgedrungen in Faszination für die „Femme Fatale“ zu verwandeln. Von „Fatal Attraction“, wo die Eheleute Gallagher den von Glenn Close verkörperten monströs-sexualisierten Eindringling noch gemeinsam zur Strecke bringen, zu „Basic Instinct“, wo Sharon Stone als Catherine Tramell – allen Warnzeichen zum Trotz oder gerade dadurch – unwiderstehlich ist. Detective Curren (Michael Douglas) erschießt statt Tramell die Gute. Er liefert sich willfährig einer Gefahr aus, die er nach vernünftigen Vorstellungen nicht überleben wird. Abermillionen von Männern beneideten ihn dafür und seine – halb zog sie ihn, halb sank er hin – zueigene Todesverachtung.
Akzeptanz von Gewalt – eine erlernte Norm, die in vielen Kulturen tief verwurzelt ist und dennoch einem Wandel unterliegt
Auch unsere Sprache blieb nicht dieselbe. Als sich auch hierzulande das Privatfernsehen vollständig durchgesetzt hatte, fand ein stupentes Idiom Eingang in den Sprachgebrauch, das per se zwar das Gegenteil von dem ausdrückt, was Tatsache ist, aber selbst von der Bundeskanzlerin, in einem zwar anderen Zusammenhang, prominent benutzt wurde:
„Das geht gar nicht!“
Gewalt gegen Frauen geht ja gar nicht? Das stimmt leider nicht. Gewalt gegen Frauen geht offenbar. Es hat Gewalt gegen Frauen immer gegeben, wahrscheinlich wird es sie immer geben. Wir können nicht genau sagen, ob mehr oder weniger. Ein vernünftiges Bewusstsein für Dunkelziffern schmälert auch hier das Vertrauen in die Aussagekraft statistischer Langzeitvergleiche. Dennoch gibt es die verschiedenerseits geäußerte Vermutung, dass Gewalt gegen Frauen in den letzten Jahren hierzulande sogar zugenommen haben könnte.
Die Zahlen sind und bleiben jedenfalls schockierend: Jeden Tag werden mehr als 140 Frauen und Mädchen in Deutschland Opfer einer Sexualstraftat. Alle drei Minuten erlebt eine Frau oder ein Mädchen in Deutschland häusliche Gewalt. Tausend Gewalttaten gegen Frauen an jedem Tag! Spätestens morgen ist mindestens eine Betroffene tot. Als Femizide bezeichnet die Kriminalstatistik die schlimmsten Taten in Deutschland seit 2021.
Kennt nicht jeder von uns eines dieser Opfer? Und auch den Täter! (Denken Sie bitte einen Moment nach, bevor Sie vorschnell und kategorisch verneinen!)
Wenn ja, dann schlagen wir erst einmal die Hände über den Kopf zusammen. Wir denken und bestätigen einander, dass diese Frau ihren Partner „ganz einfach“ verlassen sollte. Das ist eindeutig. Aber eben nicht einfach! Es ist sicher richtig, dass jede Frau erst einmal für sich beschließen muss, keine Gewalt gegen sich zu tolerieren. Aber die Gesellschaft muss das auch und insofern an ihrer Seite stehen. Sonst wird nichts aus diesem guten Vorsatz.
Ein ganzes Netzwerk sozialer, professioneller Hilfe ist in den meisten Fällen vonnöten.
Was ganz sicher nicht hilft, ist Bagatellisierung!
Und falls es stimmt, dass die Fälle zunehmen: Ist das ein relativ jüngerer Trend, oder ist es ein Backlash? Mit der passenden Latenzzeit, in der sich Ursache und Wirkung in sozialen Kontexten entfalten, fällt mir ein Phänomen der Popkultur unserer Zehnerjahre dazu ein:
„Shades of Grey“
Eine unanständig häufig verkaufte, verschenkte und offenbar auch gelesene Roman-Trilogie führte jedenfalls dazu, dass sich Anfang des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts eine bis dahin als trendige Figur wahrgenommene MTV-Deutschland-Ikone und Autorin mehrerer äußerst expliziter und auch sexuell nicht verklemmter Bestseller sogar ein Shitstürmchen einfing, als sie in einem Interview unumwunden zugab, nicht auf der Höhe des Sadomaso-Sex-Booms zu leben. Sinngemäß äußerte sich Charlotte Roche, zwar selbst einige Schrauben locker zu haben, dass SM aber eben nicht dazu gehöre. Dass sie sich einfach Sorgen machte, dass die Rezeption von BDSM zu sozialen Erwartungen jenseits konsensueller Wünsche führen könnte und damit zu verheerenden Missverständnissen, machte die Sache nicht einfacher. Frau Roche galt einigen nun als intolerant. Und das ist natürlich schlimmer, als jegliche Gefahren des damaligen Trends, mitunter deviante und auch nicht selten einseitige Bedürfnisse in den Mainstream zu zerren, wo sie auch auf darauf unvorbereitete Personen in vulnerablen Phasen der Adoleszenz treffen?
Diese Generation ist nun erwachsen. Mehr oder weniger. Auf jeden Fall prägt sie den Diskurs mehr denn je. Als kürzlich eine Ressortleiterin der noch immer auflagenstärksten Zeitung Deutschlands einen Meinungsartikel mit einem klaren Bekenntnis überschrieb: „Liebe und Gewalt passen nicht zusammen!“, stand Deutschland fast geschlossen auf, zumindest in Gestalt der Meinungsführenden im Blätterwald. Und zwar gegen sie. In dem Artikel hatte sie bereits zitiert, wie zahlreich die Ausdrucksformen der Verharmlosung eines aktuellen Falles mutmaßlicher Beziehungsgewalt waren. Manche (Männer) verstiegen sich auf Social Media gerade dazu, eine aus der Quellenlage polizeilicher Angaben zu schlussfolgende Würgeattacke (Würgemale sind hoch spezifisch und entstehen nicht im Vorbeigehen. Würgen ist eine zielgerichtete Tat in zumindest affektiver Tötungsabsicht.) als Prolog eines quasi zwangsläufig „umso geileren Versöhnungssexes“ darzustellen. Nicht derlei tumbe Prognosen und von Toxizität nur so strotzenden Spekulationen über den vermeintlichen Sexappeal gewaltbereiter Männer entfachten Gegenwind. Stattdessen wurde die Journalistin fast unisono von ihren Kolleginnen und Kollegen für ihre vorschnelle Festlegung auf eine eigentlich unumstößliche Wahrheit kritisiert.
Gewalt und Liebe, das geht ja gar nicht? Irgendwie habe ich den Verdacht, dass sich etwas – nicht unbedingt das, was die Autorin der „Grey“-Trilogie, eine Mrs. James, nicht Bond, eigentlich erzählen wollte – da in einigen Köpfen festgesetzt hat und deren eigene Affinität oder Ohnmacht der Gewalt gegenüber salonfähig verklärt: Gewalt und Liebe passen also doch ganz gut zusammen?
Nein!
In einem der traurigsten Momente meines Lebens begegnete mir ein Kriminalpolizist. Er stellte mir eine Frage, die bei mir auch deshalb hängen geblieben ist, weil sie ganz wenig mit mir und der schrecklichen Tatsache zu tun hatte, dass meine Freundin tot neben mir lag. Sie war im Schlaf unerwartet verstorben, allerdings an einem angeborenen, schweren Herzfehler. Seine Frage richtete sich danach, ob es etwas „möglicherweise sogar einvernehmliches“ zwischen uns gegeben haben könnte, was zu ihrem Tod führte. Er deutete Erstickungsspiele an, ein Kissen möglicherweise. Würgemale waren ja keine vorhanden. Würgemale sind, wie gesagt, sehr gut zu erkennen und sehr eindeutig. Er wirkte beruhigt, keinen Zweifel daran zu haben, dass ich wusste, worauf er hinaus wollte, und umso deutlicher glaubhaft verneinte. Mir ist wiederum bewusst, dass die Fragen, die ein Ermittler in so einer Situation stellt, nicht seinem spontanen Einfallsreichtum entspringen, sondern an Evidenzen und Standards orientiert sind. Es geht mir nicht aus dem Kopf, wie oft dieser oder andere Ermittelnde den Eindruck haben müssen, nach Todesfolgen etwaiger oder angeblicher Sexspiele zu suchen.
Mehr als dass ich eine Romanreihe verdächtige, für eine Unzahl fataler Sexunfälle verantwortlich zu sein, bleibt mir der Eindruck unauslöschlich, dass der Kommissar mit seiner Fragestellung eigentlich darauf abzielte, eine Goldene Brücke hin zu einer leicht zu widerlegenden Ausrede anzubieten. Wie viele Männer, die ihre Frauen erstickt oder erdrosselt haben, mögen hinterher wohl (sicherlich erfolglos wegen moderner Forensik) behauptet haben, es sei ein einvernehmliches Spielchen aus dem Roman über Grautöne und einen Kryptosadisten gleichen Namens gewesen, das eben fürchterlich schiefgelaufen sei? Genau so klang die Frage.
Wer zur Gewalt gegen die eigene Partnerin neigt, hat seit den Bestsellern von E. L. James eine Ausrede mehr zur Auswahl und Maskierung.
Dabei gehört so jemand nicht ins Bücherregal, sondern dringend in Therapie!
Die Hamburger Kriminalpolizei versucht seit einiger Zeit gezielt mit einer Kampagne, die Täter dafür zu gewinnen, unter dem Motto: „Echte Männer holen sich Hilfe!“
Einen Versuch wert ist es auf jeden Fall!
Vielfalt auch der Gewalt
Dabei gilt es, verschiedene Formen der Gewalt, die regelmäßig in Beziehungen stattfinden, voneinander zu unterscheiden: Den hinlänglich vom Zeitgeist verniedlichten Gewaltsex, -die ewigen und lieber dem „Temperament“ statt einer Persönlichkeitsstörung zugeschriebenen „Ausraster“. Und dann gibt es immer noch, weiterhin und wiederum in den letzten Jahren überraschend offen geäußerte Überzeugungen, die Gewalt als legitim betrachtetes Mittel der „Züchtigung“ betrachten. Hier fällt nicht nur der konservativere Teil des Islams auf, sondern beispielsweise ebenfalls der evangelikale Biblebelt der USA, das katholische Südamerika und der Katholizismus der Philippinen. Selbst in Osteuropa variiert die Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen und Kinder stark zwischen und innerhalb der Länder und Gesellschaftsschichten.
Aber fragen Sie mal Latife Arab (Autorinnenpseudonym), wie typisch Gewalt in Ehen und der Kindererziehung migrantischer Familien am unteren Ende der Bildungsskala und im oberen Bereich der Kriminalstatistik rangiert! Eine kritische Analyse ultrapatriarchaler Strukturen innerhalb der Vielfalt, die unser Land bereichern soll, ist überfällig. Als Aussteigerin eines der größten arabischen Clans und eine der wenigen Frauen, der es gelungen ist, das streng patriarchalisch organisierte Netzwerk lebend zu verlassen, berichtet sie unter dem vielsagenden Titel „Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan“ über eine Praxis und Werteordnung, die wir nicht ignorieren dürfen, wenn wir eine Zukunft mit weniger Gewalt wollen.
Julia Klöckner (CDU) fordert jedenfalls nicht zu Unrecht ein Ende der Ignoranz von Feministinnen gegenüber arabisch-patriarchalen Familienstrukturen und ein Mindestmaß an Emanzipation der Frauen in diesen Strukturen, die nun mal mittlerweile auch zu Deutschland zählen.
Natürlich kommt jedes Mal, wenn der Blick darauf fällt, reflexartig, aber nicht unnötige Selbstkritik der eigenen Traditionen, Bräuche und Missbräuche auf. Die Gewalt beim Oktoberfest, die auch in Form von sexualisierter Gewalt gegen Frauen nicht zu übersehen und nicht zu verleugnen ist, wird dann mit den Exzessen der Kölner Silvesternacht 2015/16 verglichen. In Ordnung. Aber wem hilft das? Hilft es betroffenen Frauen und ändert es Männer, die anfällig sind, Täter zu werden, die einen Täter mit der anderen Tätergruppe rehabilitieren zu wollen?
Es sollte jedenfalls möglich sein, die Täter ernsthaft ins Gebet zu nehmen, egal, ob sie bairisch, russisch, hochdeutsch, Farsi oder Muffendorfer Platt reden.
Aber gerade hier liegt die Gefahr, nicht mehr genauer hinschauen zu wollen, weil die persönlichen Kosten zu hoch werden könnten. Nicht bloß die unvermeidlichen Kosten menschlichen Mitleids, zudem die narzisstische Kränkung der gewissen Ohnmacht, sondern auch noch das alles überwiegende Risiko, stigmatisiert zu werden. Schlimmstenfalls und ausgerechnet – zumal als mitfühlender Mensch – als rechts!
Leider leistet auch die Verkennung der Unterdrückung von Frauen in postmigrantischen Strukturen der Gewalt Vorschub. Aus der Perspektive postmoderner, post- oder nunmehr pseudofeministischer Protagonist*innen wie der Berkeley-Professorin Judith Butler steht die Universalität der Menschen- und darunter auch Frauenrechte in Verdacht. Sie wird als „eurozentrisch“ diskreditiert. Eine weitgehende Weigerung der muslimischen Welt, sich hier selbst zu hinterfragen, verklärt die Identitätspolitik vom Elfenbeinturm Academia aus als deren „Befreiungskampf“ von westlichem Imperialismus.
Lauter Egalos!
Als wir den ausgerechnet im Auftrag einer Majestät aktiv imperialistischen James Bond-Heimkinoabend ähnlich abrupt abbrachen, wie ich diesen Blogbeitrag beende, erzählte ich meiner Tochter stattdessen zum besseren Einschlafen eine Geschichte von anthropomorphen Fantasiewesen, die wir „Egalos“ nennen. Deren vorrangige und stellenweise beneidenswerte Wesensart ist die Gleichgültigkeit gegenüber jedem und allem. Damit können sie durch Feuer, giftige Gase, Wasser und vermutlich sogar durch Shitstürme gehen, ohne nachdenklich zu werden oder zu schaden zu kommen. Doch wozu? Egalos tun nichts dergleichen, weil ihnen auch so etwas gleichgültig ist und bleibt.
Für mich bleibt es hingegen bemerkenswert, wie eine Medienlandschaft sich 2024 lieber an einem notorischen Revolverblatt abarbeitet als an Täterprofilen.
Dabei ist Forensik doch so ein populäres Hobby geworden! Dank des True-Crime-Trends gibt es in good old Germany doch fast so viele Benneckes wie Bundestrainer. Aber statt über Würgemale zu reden, faseln sie lieber von „Vorverurteilung“ und der so weidlich missverstandenen Unschuldsvermutung.
Die Unschuldsvermutung, erläuterte mir ein in Berlin weltberühmter Juraprofessor in eben diesem Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen und einer mutmaßlichen Beziehungstat, gilt im Strafrecht und vor Gericht. Nicht im Sozialen. Gesellschaft ist ein Unterstellungsspiel. Meist treffen wir positive Vorannahmen und räumen dem Gegenüber einen Vertrauensvorschuss ein. Wir könnten innerhalb der Dichte sozialer Interaktionen sonst auch nicht agieren. Doch wenn der begründete und schwerwiegende Verdacht aufkommt, dass das Gegenteil unserer Vorannahme der Wahrheit näher kommen könnte, ist es das gute Recht jedes Einzelnen und einer Gruppe, ihre Töchter nicht mehr jemandem anzuvertrauen, der glaubwürdig nachteilig ins Gerede gekommen ist.
Nur Egalos würden das tun!
Solange es einer Gesellschaft wichtiger ist, auch außerhalb des Strafrechts ihr Vulgärlatein und ihre Küchenjuristik von der Unschuldsvermutung zulasten eines echten Problembewusstseins und der Aufklärung aufrecht zu erhalten, hat diese Gesellschaft ein Problem mit Gewalt gegen Frauen!
Schmerzlich bis tödlich ausbaden müssen das Abertausende von Frauen.
Michel Simon de Normier ist Bonner-Wahlberliner. Laut Vita Diplompsychologe (auch Forensik, aber kein Kommissar!) Laut seinem Vater, Matthias, hoffnungsloser Weltverbesserer, laut Matthias Matussek (als der noch links war) Kommunikationsartist und Aktionspoet. Dank Bernhard Schlink Oscar®Produzent. Laut Henryk Broder aber besser bekannt als „Filmankündiger“ (immerhin!). Für das Finanzamt Drehbuchautor sowie Irgendwas-mit-Medienmachern-Macher. Als Ko-produzent Vater.
Als Vater eine erwachsenen Tochter und als Regisseur und Autor gebe ich Ihnen absolut recht. Die Entwicklung hin zu mehr Bewusstsein – Neudeutsch: Awerness – ist das, wofür viele meiner Kolleginnen und Kollegen lange gekämpft haben. Seltsamerweise waren es in meiner Karriere oft Frauen in den Redaktionen, die diese Entwicklung gebremst haben. Freilich treibt das neue Bewusstsein manchmal seltsame Blüten und verhindert hin und wieder die Realisation eines Stoffes.
Und, ja, wir haben ein wachsendes gesellschaftliches Problem mit Gewalt gegen Frauen. Die Forderung nach separaten U-Bahn-Waggons nur für Frauen ist Ausdruck dieser Tatsache. Und trotzdem würde ich eine Lanze für die Unschuldsvermutung brechen, was nicht heißt, dass man Frauen keinen Glauben schenken sollte, wenn sie sich gegen Gewalt gegen juristisch zur Wehr setzen.
BUCHEMPFEHLUNGEN:
„Betrunkenes Betragen“
Eine ethnologische Weltreise. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein
Autoren: Craig MacAndrew, Robert B. Edgerton
Verlag: Galiani-Berlin
2024
ISBN: 978-3-86971-303-8
„Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan“
Latife Arab
Verlag: Heyne
2024
ISBN 10: 3453218744 / ISBN 13: 9783453218741
„Nicht verhandelbar: Integration nur mit Frauenrechten“
Julia Klöckner
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
2018
ISBN 10: 3579087126 / ISBN 13: 9783579087122
Das HILFETELEFON – Beratung und Hilfe für Frauen
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben.
Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung finden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr Unterstützung.
Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten.
https://www.hilfetelefon.de