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Die Abenteuer meines Urgroßvaters Joseph Samuel aus Wirsitz (1)

Mein Urgroßvater väterlicherseits, ein Ostjude aus der damals preußischen Provinz Posen, heute Großpolen, hinterließ ein Tagebuch. Es beschreibt, wie er 1840 als armer Schneidergeselle aus seinem Dorf Wirsitz bei Schneidemühl aufbricht, um zuerst in Großbritannien, dann den USA, schließlich Brasilien sein Glück zu machen, und wie er 1856 als wohlhabender Mann in seine Heimat – nach Berlin allerdings, nicht Wirsitz – zurückkehrt. Joseph war also das, was man heute abschätzig einen Wirtschaftsflüchtling nennen würde. Ich werde das Tagebuch hier abschnittsweise veröffentlichen und gegebenenfalls kommentieren. Es ist ein Dokument des jüdischen Aufstiegswillens. Original-Orthografie und Grammatik sind beibehalten. Joseph war kein gebildeter Mann.

Es ist ein jeden Menschen seine Schuldigkeit, der Gesellschaft eine klare Rechnung seiner
Thaten, Handel und Gewerbe zu geben. Der Mensch ist nicht allein dieses an der Gesellschaft
schuldig, sondern sich selbst und seinen Eltern. Wenigstens ist dieses mein Vorsatz, das wenn ich
mein Geburts-Ort verlassen soll, alle meine Thaten, Gute oder Schlechte (welches ich zu Gott
bitte, mich nur zur Besten zu leiten) in diesem kleinen Heft nieder zu schreiben, um das wenn ich
einst durch einen Unglücksfall sterben sollte (indem ich den Allmächtigen Schöpfer anflehe diesen
großen Grahm nicht so bald meinen guten Eltern zuzufügen) wie oben gesagt, wenn mich der
große Gott so hoch strafen sollte, auf meinen Reisen umzukommen, dass wenigstens meine
Eltern über mich urtheilen können.


Den 4ten May 1840 habe ich Wirsitz verlassen, bis jetzt war mein Lebenslauf sehr unbedeutend
und mit vielen bittern Stunden vermischt; ich bin jetzt 18 1/2 Jahr alt und habe seit dem 12. Jahre
schon die Schneiderprofession von meinem Vater lernen müssen, zu welcher ich nicht die
geringste Neigung habe. Jedoch ist der Heutige Tag einer der bittersten meines ganzen Lebens;
mein Vater ist schwächlich und längst am alt zu werden, und meine Schwestern Pauline und Jette
sind auch (unverständlich), hauptsächlich Pauline, welche schon über 23 Jahre alt ist. Zwar haben wir Kinder sehr viel gearbeitet, um unsere Familie wenigstens (…) zu ernähren (…) und ist mir sehr bitter zu denken, dass er mich sehr vermissen wird. Übrigens nehme ich mir die
heilige Pflicht, ihnen so geschwind wie ich nur kann zu Hilfe zu kommen und den (Wohlstand?) meiner Familie so wohl wie den meinen in der Welt zu suchen.

Auf der Reise den 5. May 1840
O! welch grässliche Nacht habe ich gestern zugebracht; ich habe die ganze Nacht meinen Vater
weinen gesehen und mich gebeten wieder zurück zu kommen. O! was muss ich leiden, was habe
ich Heimweh. Obgleich wir keine Reiche Leute waren, jedoch hat uns nie ein gutes Stükk Brot
gefehlt, um unsern Hunger zu stillen, weder ein ordentlich Kleid um ehrbar unter die Leute zu
kommen. Wie gern würde ich wieder umkehren, um die Stadt wieder zu erblicken, welche zur
Wiege meiner Jugend gediehnt hat, wo alles mich kannt, wo mein armer Vater mich mit offnen
Armen empfangen würde. O! diese Gefühle, dieser Grahm ist kaum zu aushalten. O aber nein! Ich
muss alle meine Gefühle unterdrücken und muss (…) in die Welt hinein (…) , wenigsten habe ich
Mittel, ich bin Besitzer von 5 (Goldmark?), welche ich in den Gurt meiner Hose eingenäht habe und 15 Sgr kleines Geld, mit diesen hoffe ich weit genug zu reichen.
Heute abend bin ich in Schneidemühl eingekert und treffe zufälligerweise ein ordentliches und
ehrliches Mädchen an, welches ich kurz vorher so thöricht beleidigt habe. O! wie habe ich mich
geschämt, das Blut vil mir zu Füssen, könnte mir Rosa es doch jemahls verzeihen. –
Meine Füsse thun mir fürchterlich wehe, ich war das Gehen nicht gewöhnt, ich habe eine große
Blase am rechten Fuss bekommen, welche mich ganz das gehen verhindert. Ich habe mich in ein
Winkel eines Fracht Wagens eingemiethet um nicht ganz meine Füsse zu verderben.

Wer diese Rosa war, und wie Joseph sie „thöricht beleidigt“ hat, weiß ich nicht. Aber „das Blut vil mir zu Füssen“ ist inmitten des Groschenheft-Stils – „O! was muss ich leiden“ usw. – ein originelles Bild. 

 

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5 Gedanken zu “Die Abenteuer meines Urgroßvaters Joseph Samuel aus Wirsitz (1);”

  1. avatar

    Sehr authentisch, sehr persönlich und dennoch verschafft die Schilderung einen Blick auf die damalige Zeit und Realität. Daher sind Fehler kein Makel. Im Gegenteil. Ich freue mich auf weitere Fortsetzungen.

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