Dies ist ein prätentiöser Song, geben wir es zu. Und trotzdem ziemlich gut. Die Musik sowieso, diese Mischung aus Country und Gospel, aber hier geht es um den Text. Der Komponist Robbie Robertson meinte, der sei von den Filmen Luis Bunuels inspiriert worden; es gehe um die Unmöglichkeit, ein Heiliger zu sein.
Womit ein weiteres Mal bewiesen ist, wenn es dieses Beweises noch bedürfte, dass die Dichter die Letzten sind, die man befragen soll, wenn man wissen will, was ein Gedicht „bedeutet“. Denn wo ein Gedicht „herkommt“ (wer zum Beispiel all die Leute sind, die im Song vorkommen, welche Bilder Robertson im Kopf hatte, als er frei assoziierend und vermutlich mit Hilfe diverser bewusstseinsverändernder Substanzen den Text festhielt), ist weniger wichtig als die Frage, wohin wir mit dem Song gehen können.
Den Songtext habe ich zum Nachschlagen unten angehängt.
Beginnen wir mit der Anfangszeile:
I pulled into Nazareth, was feelin‘ about half past dead …
Das ist ein verheißungsvoller Einstieg, der erinnert etwa an: „Busted flat in Baton Rouge, waitin‘ for a train / Feelin‘ bout as faded das my jeans …“ Damit beginnt bei Kris Kristoffersons „Me & Bobby McGee“ eine Liebesgeschichte, wenn auch eine traurige. Bei Robbie Robertson jedoch wird der Aufenthalt in Nazareth eher zu einem Albtraum: Da ist der Typ, der ihm nicht sagen kann, wo er übernachten kann, da ist Carmen, die mit dem Teufel unterwegs ist, da ist Luke, der jeden Tag das Jüngste Gericht erwartet, und der verrückte Chester, der dem Sänger seinen Hund andrehen will. Und dabei wollte der bloß im Auftrag von Fanny all diesen Leuten (na, dem Teufel und dem Hund vielleicht nicht) Grüße ausrichten.
Somit ist die erste Zeile wie das Kaninchenloch in „Alice im Wunderland“, das in eine – OK, Bunuel – surrealistische und bedrohliche Welt führt, wie etwa bei „Hotel California“ von The Eagles. Dort ist der Sänger auch im Auto oder Truck unterwegs auf einer dunklen Wüstenstraße, als ihm der Kopf schwer wird: „My head grew heavy and my sight grew dim, I had to stop for the night.“ Er landet im Hotel ohne Wiederkehr, auch ein Heartbreak Hotel, wo die Junkies allabendlich die Bestie ihrer Sucht mit ihren Nadeln stechen, ohne sie jemals töten zu können.
Am Ende ist er auf der Flucht, auf der Suche nach dem Kaninchenloch, das ihn wieder in die gewohnte Welt führt. Und am Ende von „The Weight“ ist der Sänger, der auch mit dem Auto oder Truck in Nazareth ankommt, auf der Flucht, und zwar mit dem Zug: Catch a cannonball now, t’take me down the line / My bag is sinkin‘ low and I do believe it’s time. / To get back to Miss Fanny, you know she’s the only one …
Die „Kanonkugel“ ist ein Schnellzug, vielleicht der im Volkslied unsterblich gemachte „Wabash Cannonball“, der nach der Legende so schnell war, dass er eine Stunde vor Abfahrt schon ankam (soviel zu Surrealismus, Senor Bunuel) und schließlich mit Lichtgeschwindigkeit ins All flog. Vielleicht aber ist er auch ein anderer Zug: „Peope get ready, there’s a train a’coming“, singt Curtis Mayfield, und zwar „the train to Jordan“, der Zug des Todes und der Erlösung: Du brauchst kein Gepäck und keine Fahrkarte, du steigst einfach ein – wenn du den rechten Glauben hast.
Der Sänger will zurück – es ist interessant, wie oft die Rückkehr in der Rockmusik beschworen wird, die doch eigentlich Aufbruch und Rebellion zu feiern vorgibt. Bei den Beatles natürlich, wo es in „Get Back“ darum geht, dorthin zurückzukehren, wo man einmal „dazugehört hat“, und sei es „Back in the USSR“; bei den Rolling Stones in „Going Home“, bei den Boxtops „Got to get back to my baby“, heißt es in „The Letter“; na, und und und; bei „Hotel California“: „I had to find the passage back / to the place I was before“. Im Kern ist die Rockmusik konservativ. Oder sentimental. Kein Wunder, schließlich heißen ihre Eltern Country und Gospel.
Gospel gibt das Stichwort: Worum geht es hier, wo von Nazareth, dem Teufel, Lukas und dem Jüngsten Gericht, Moses – OK, Fräulein Moses, aber trotzdem – und Anna die Rede ist? Welche Last wird hier geschultert?
Nazareth ist zwar – laut Robbie Robinson – nicht die Stadt in Galiläa, in der Jesus mit seinem Bautischler-Vater und seiner jungen Mutter lebte, sondern Nazareth in Pennsylvania, wo die Firma Martin ihre Gitarren baut, darunter die Gitarre, auf der Robinson klimperte, als er die Akkorde und Worte für diesen Song fand. Und doch scheint der Name eine theologische Assoziationskette losgetreten zu haben. Und man könnte sich vorstellen, der Bericht des Engels, den Gott – Fanny? Na, jetzt wird’s haarig, aber „fanny“ bedeutet auf Englisch die Genitalien einer Frau, den „Ursprung der Welt“, den Gustave Courbet malte, und im Song heißt es, „she’s the only one“ – nach Nazareth schickte, um die Tochter der Anna zu grüßen, so begann „Als nach Nazareth kam, war ich vor Müdigkeit schon halbtot …“
Im Gedicht „Verkündigung“ von Rainer Maria Rilke sagt der Engel denn auch: „Ich bin jetzt matt, mein Weg war weit, / vergieb mir, ich vergaß, / was Er, der groß in Goldgeschmeid / wie in der Sonne saß, / dir künden ließ …“
Ein Engel, der fast vergisst, was er auszurichten hat: groß.
Es geht Engeln bei ihren Reisen bekanntlich nicht immer gut. In Genesis 19 besuchen zwei Engel die Stadt Sodom und werden beinahe von den Sodomiten vergewaltigt. Man kann sich ihren Bericht vorstellen: „Pulled into Sodom, we were feeling about half past dead / We just needed a place where we could rest our head / Hey mister, can you tell us where a man might find a bed / Lot shook our hands and took us home: / Be my guests was all he said …“
Ich habe mal selbst einen Song geschrieben, der so begann: „Sodom and Gomorrha, they were having a ball / But the big boss man wasn’t happy at all / When Lot warned them, said the Lord is coming round / They stopped up their ears and they laughed him out of town: / ‚It’s just a routine check-up‘ …“ Aber das nur nebenbei.
Bleibt der Refrain. Dass eine Serie traumhafte Assoziationen zum Namen „Nazareth“ in diesen Vers mündet, ist nicht wirklich überraschend. Heißt es doch im Brief des Apostels Paulus an die Galater: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Warum es eine Last ist, Fannys Auftrag zu erfüllen, mag man den Propheten Jona fragen, der davor floh; Robbie Robinson, der meinte, es gehe um die Unmöglichkeit, ein Heiliger zu sein; oder den Engel, der nach Nazareth gesandt war, und von dem es in einem anderen Gedicht von Rilke – dem „Marienleben“ – heißt:
„Nicht, dass er eintrat, aber dass er dicht,
der Engel, eines Jünglings Angesicht
so zu ihr neigte; dass sein Blick und der,
mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
als wäre draußen plötzlich alles leer
und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
hineingedrängt in sie: nur sie und er;
Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
sonst nirgends als an dieser Stelle -: sieh,
dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.“
Und natürlich ist es merkwürdig, dass der Song nicht „The Load“ heißt, sondern „The Weight“,obwohl das Wort „weight“ gar nicht im Song vorkommt. Vielleicht eine Verneigung Robinsons vor den Beatles, die auf Abbey Road singen: „Boy, you’re gonna carry that weight, carry that weight a long time“. Bekanntlich mündet das Album in die Erkenntnis: „And in the end / The love you take / Is equal to the love / You make.“ Amen.
Hier der Text:
I pulled into Nazareth, was feelin‘ about half past dead;
I just need some place where I can lay my head.
„Hey, mister, can you tell me where a man might find a bed?“
He just grinned and shook my hand, and „No!“, was all he said.
Take a load off Fanny, take a load for free;
Take a load off Fanny, And (and) (and) you can put the load right on me.
I picked up my bag, I went lookin‘ for a place to hide;
When I saw Carmen and the Devil walkin‘ side by side.
I said, „Hey, Carmen, come on, let’s go downtown.“
She said, „I gotta go, but m’friend can stick around.“
Take a load off Fanny, take a load for free;
Take a load off Fanny, And (and) (and) you can put the load right on me.
Go down, Miss Moses, there’s nothin‘ you can say
It’s just ol‘ Luke, and Luke’s waitin‘ on the Judgement Day.
„Well, Luke, my friend, what about young Anna Lee?“
He said, „Do me a favor, son, woncha stay an‘ keep Anna Lee company?“
Take a load off Fanny, take a load for free;
Take a load off Fanny, And (and) (and) you can put the load right on me.
Crazy Chester followed me, and he caught me in the fog.
He said, „I will fix your rack, if you’ll take Jack, my dog.“
I said, „Wait a minute, Chester, you know I’m a peaceful man.“
He said, „That’s okay, boy, won’t you feed him when you can.“
Take a load off Fanny, take a load for free;
Take a load off Fanny, And (and) (and) you can put the load right on me.
Catch a cannonball now, t’take me down the line
My bag is sinkin‘ low and I do believe it’s time.
To get back to Miss Fanny, you know she’s the only one.
Who sent me here with her regards for everyone.
Take a load off Fanny, take a load for free;
Take a load off Fanny, And (and) (and) you can put the load right on me.
Beste Version ever: https://www.youtube.com/watch?v=ph1GU1qQ1zQ
Und dann auch noch ein Friedens- und Völkerverständigungs Projekt
Is the reference to Fanny a declaration of love or randiness( assuming the word exists)
The author seems to think that might not be a contradiction: „Und man könnte sich vorstellen, der Bericht des Engels, den Gott – Fanny? Na, jetzt wird’s haarig, aber „fanny“ bedeutet auf Englisch die Genitalien einer Frau, den „Ursprung der Welt“, den Gustave Courbet malte, und im Song heißt es, „she’s the only one“ – nach Nazareth schickte, um die Tochter der Anna zu grüßen, …“
Was für eine tolle Art, das auszudrücken:… die Bestie ihrer Sucht mit ihren Nadeln stechen, ohne sie jemals töten zu können.
Einige der Sätze sind Perlen. Echt ma!
Das ist eigentlich nur übersetzt: „They stab it with their steely knives but they just can’t kill the beast“ …
Aber danke für die Blumen!