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Die sich selbst Begnadigende – Zu Franziska Giffeys Umgang mit ihrer fragwürdigen Doktorarbeit

Foto-Credit: imago images / photothek

Die „causa Giffey“ ist längst auch zu einer „causa SPD Berlin“ geworden. Während Vertreter der Mutterpartei nach dem Titelverzicht von Karl-Theodor zu Guttenberg im Februar 2011 zu Recht hart blieben und seinen Rücktritt als Minister forderten, übt sich die SPD Berlin nun in rührselig-kitschiger Solidarität mit Giffey. Dieses Messen mit zweierlei Maß schürt nicht nur Politikverdrossenheit, sondern verrät auch die Ideale einer Partei, die für die Ermöglichung des ehrlichen sozialen Aufstiegs steht. Eine Analyse.

Es gibt wenig, das Menschen, die sich als treue Staatsbürger begreifen, so in Rage bringt wie evidente Doppelmoral in der Politik. Aktuell verschreckt die SPD in der causa Franziska Giffey nicht nur ihre Klientel, sondern auch und gerade Konservative, mit genau einer solchen. Und verrät ihre Ideale.

Die SPD verrät ihr Ideal als Partei des ehrbaren sozialen Aufstiegs

Zur Erinnerung: Die SPD ist, vielleicht sagt man besser: „war“ die Partei des sozialen Aufstiegs, bevor sie sich in Identitätspolitik verrannte und ihre Kernklientel aus den Augen verlor. Sie stand für den ehrlichen, ehrbaren Aufstieg. Für Menschen wie Helmut Schmidt und seine Loki, aber auch für Gerhard Schröder, den Sohn einer Putzfrau (der sich leider später von russischem Geld verlocken ließ), für „kleine Leute“, die sich mit Fleiß und Disziplin nach ganz oben hocharbeiten konnten. Dabei spielte, auch in den entsprechenden Milieus im Ruhrgebiet, Bildung immer eine große Rolle. Es gab dafür sogar einen Namen: die „Arbeiterkulturbewegung“, über die auf der Homepage der SPD-nahen „Friedrich-Ebert-Stiftung Folgendes“ nachzulesen ist:

Die Ausgestaltung einer Arbeiterkultur lässt sich als ein wichtiger Teil des Emanzipationskampfs der Arbeiterschaft verstehen. Angehörige der Arbeiterklasse hatten in dem deutschen Obrigkeitsstaat nur begrenzten Zugang zu Bildung und Wissen. Auch von bestehenden bürgerlichen Vereinen waren Arbeiter ausgeschlossen, weshalb sie eigene Kulturorganisationen gründeten.“

Und auf dem Internetauftritt der „SPD Geschichtswerkstatt“ steht: „Bildungspolitik ist einer der Grundpfeiler sozialdemokratischer Politik. Die SPD selbst ist aus Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangen.“

Man darf getrost davon ausgehen, dass damit ein ehrlicher „Emanzipationskampf“ gemeint ist. Ein Aufstieg qua eigener Leistung und nicht qua Täuschung. Kern der Sozialdemokratie war es, das Hochklettern zu fördern, indem sie die Chancengleichheit ausbaute und etwa die Universitäten öffnete. Realistischerweise muss man gerade aus konservativer Sicht sagen und beklagen, dass, was auch Studien bekräftigen, der soziale Aufstieg in Deutschland vor allem für Kinder aus Arbeiterfamilien dennoch nach wie vor schwierig ist.

Die causa Giffey: Was bisher geschah

Das allerdings ändert rein gar nichts daran, dass ein erschlichener Aufstieg, hier namentlich die Erlangung eines Doktortitels qua im Raume stehender möglicher Täuschung, wie im Fall Franziska Giffey geschehen, das sozialdemokratische Ideal des hart erarbeiteten Aufstiegs mit Füßen tritt. Schlimmer noch: Giffey geht vollkommen indiskutabel damit um. Und die Partei mit ihr. Der Reihe nach, den Fakten nach:

Im März 2019 hatte, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtete, Giffey angekündigt, auf ihr Amt als Familienministerin verzichten wolle, falls ihr der Doktorgrad von der Freien Universität Berlin („FU“) aberkannt werden würde. Bekanntlich geschah Letzteres zunächst nicht. Unter mehr als fragwürdigen Umständen. Die FU erteilt Giffey zwar eine „Rüge“, beließ ihr aber den Titel.

Die FU hatte sodann den Rechtswissenschaftler Ulrich Battis um ein Gutachten gebeten, in dem selbiger meinte, die Rüge sei als milderes Mittel gegenüber dem Titelentzug in einem minderschweren Fall rechtmäßig und aufgrund des verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sogar geboten.“ Battis schrieb:

Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das daraus folgende Differenzierungsgebot gebieten in minderschweren Fällen eine Rüge auszusprechen, auch wenn die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage eine Rüge nicht ausdrücklich regelt.“

Das ist nichts anderes als schöngeistige verfassungsrechtliche Raunerei. Im Berliner Hochschulgesetz gibt es keine „Rüge“, sie darin hineinzufantasieren ist, wie Juristen sagen würden, „contra legem“. Battis räumt ja selbst ein, dass „die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage eine Rüge nicht ausdrücklich regelt.“

Es kam, wie es kommen musste. Anfang des Monats wurde bekannt, dass das Prüfungsverfahren neu aufgerollt wird. Dabei stützte sich das Präsidium der FU, seltsamerweise immer noch an Battis‘ Einschätzung anknüpfend, darauf, dass eine bloße Rüge nur „in minderschweren Fällen“ möglich sei. Ein solcher minderschwerer Fall sei jedoch, so die FU, „im Schlussbericht des Prüfungsgremiums für die Dissertation nicht dargetan worden“, weshalb „eine erneute Prüfung durchzuführen sei“. Bereits das wirft nicht nur auf Giffey, sondern auch auf die FU einen sinistren Schatten.

Giffeys skrupellose Chuzpe

Giffey ahnt augenscheinlich, dass es für sie jetzt wohl kaum so glimpflich wie beim ersten Mal ausgehen wird. Also hat sie selbst eine Konsequenz gezogen und verzichtet auf den Titel. Ob das rechtlich überhaupt geht, ist mehr als fraglich. Doch das ist nicht der Kern der neuerlichen „causa Giffey“. Der Kern ist die Chuzpe, mit der sie über ihre eigene Ankündigung, von ihrem Ministeramt zurückzutreten, sollte ihr der Titel entzogen werden, nonchalant hinweggeht. Und zwar in gleich zweifacher Hinsicht.

Zum einen hat sich nach Angaben des „Tagesspiegels“ Giffeys Rechtsanwalt Andreas Köhler bereits im April 2020 in einem Schreiben an die FU „gegen die Herausgabe von Prüfungsunterlagen an Dritte nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG)“ gewendet. Es sei, so zitiert ihn der „Tagesspiegel“ weiter, „falsch, dass Frau Dr. Giffey in Bezug auf das Promotionsüberprüfungsverfahren eine Person des öffentlichen Lebens ist“. Und zwar deshalb, weil sie „nicht als Bundesministerin oder bekannte Politikerin auf, sondern als Beteiligte in einem behördlichen Verfahren“ betroffen sei. Man fasst sich an den Kopf. Das sagt der Anwalt der Frau, die im Vorjahr ihren eigenen Rücktritt in Aussicht stellte, sollte der Titel perdu gehen. Rein juristisch mag diese Argumentation vielleicht vertretbar sein. Politisch zeugt sie von unfassbarer Instinktlosigkeit.

Aber es wird, und damit kommen wir zur zweiten Chuzpe Giffeys, noch abgründiger. Wie zuerst „bild.de“ berichtete, ist Giffey in keiner Weise gewillt, ihrer Ankündigung aus dem Vorjahr Taten folgen zu lassen, offenbar glaubend, der „Verzicht“ auf den Titel, dessen Entzug sehr wahrscheinlich sein könnte, sei so etwas wie eine großmütige Tat. Bei „bild.de“ also konnte man schon Freitagabend lesen:

Derzeit spricht Giffey in kleiner Runde mit Vertrauten in der SPD. Weitere Konsequenzen will die Ministerin nach BILD-Informationen ausdrücklich nicht ziehen: weder werde sie ihr Ministeramt aufgeben noch auf die Spitzenkandidatur für den SPD-Landesvorsitz in Berlin verzichten, hieß es.“

Giffey versucht zu menscheln und die SPD übt sich in rührseligem, politischem Kitsch

Gegenüber der Öffentlichkeit versuchte es Giffey, die den SPD-Vorsitz in Berlin und die Übernahme des Amts des Regierenden Bürgermeisters im nächsten Jahr anstrebt, sodann mit Rührseligkeit. In einer persönlichen Erklärung ließ sie verlauten:

Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel. Was mich als Mensch ausmacht, liegt nicht in diesem akademischen Grad begründet.“

Für diesen untauglichen Versuch, sich selbst in ein möglichst gutes Licht zu rücken, fand die ZEIT-Journalistin Mariam Lau auf Twitter die passenden Worte. Lau schrieb:

Titel ist nicht, was mich als Mensch ausmacht“. Den Titel gegen das Menschsein auszuspielen – also zum ältesten anti-intellektuellen Ressentiment der Welt zu greifen – wenn man dabei ist, aufzufliegen, lässt auch über den Menschen dahinter nicht viel Gutes ahnen #Giffey.

Giffeys Verhalten in eigener Sache ist abschreckend genug. Schwerer allerdings wiegt, wie die SPD, wie gesagt die Partei des ehrlichen sozialen Aufstiegs, damit umgeht. Kaum weniger rührselig als Giffey und in politischen Kitsch verfallend, twitterte der Berliner Landesverband der SPD, und zwar garniert mit einem roten Herzen: „Großer Respekt vor deiner Entscheidung, liebe Franziska #Giffey <3. Wir stehen solidarisch an deiner Seite!“

Respekt vor der Flucht nach vorn? Vor dem allerletzten Versuch Giffeys, die eigene Karriere zu retten? Respekt davor, dass sie ihre alten Worte ignoriert? Man schluckt. Vor allem dann, wenn man sich auf eine Zeitreise hinein in das Jahr 2011 begibt. Und damit mitten hinein in die „causa Karl Theodor zu Guttenberg.

Die SPD und das Messen mit zweierlei Maß

Der konservative Jurist Thorben Meier, mit dem ich nicht immer auf einer Linie liege, mit dem ich aber auch immer wieder übereinstimme, hat auf seiner Facebook-Seite dankenswerterweise aufgelistet, was Granden der SPD-damals so sagten. Selbiges war an Schärfe kaum zu toppen und ob der flagranten Abschreiberei Guttenbergs sowie dessen unwürdigen Versuchen, sich herauszureden, vollkommen berechtigt und damals à jour:

Die Kanzlerin hat sich hinter ihn gestellt, als seien das Kleinigkeiten, die Herrn Guttenberg vorgeworfen wurden. Tatsächlich war es eine Demütigung der gesamten Wissenschaftslandschaft in Deutschland.“ – Frank Walter Steinmeier, damals SPD-Fraktionsvorsitzender

Hochstapler und Lügner„, Der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann

Sie hat sich kräftig blamiert, ihre Glaubwürdigkeit ist beschädigt, sie hat dem Ruf der Politik Schaden zugefügt““. Ebenfalls Thomas Oppermann, hier über Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Guttenberg zu lange verteidigt hatte.

Nun aber wird hingegen umarmt und umarmt. Besonders peinlich ist der Fall von Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit, über dessen eklatante Doppelmoral die „WELT am Sonntag“ heute wie folgt berichtet:

Zum Beispiel: „Guttenberg will auf Doktortitel verzichten. Aber den akademischen Grad kann man gar nicht zurückgeben. Betrug oder kein Betrug ist die frage [sic]“, schrieb der Sozialdemokrat damals. Derselbe Mann tönt heute: „Respektable Entscheidung von Franziska Giffey!“

Linke publizistische Putzerfische springen Giffey zur Seite

Auch unter Publizisten finden sich Putzerfische, und zwar auf der Linken. Die taz etwa titelt:

Sie verdient eine Chance – Bundesfamilienministerin Franziska Giffey kommt einer Aberkennung ihres Titels zuvor. Ein konsequenter Schritt, der für sie spricht.

Und schreibt ganz und gar verständnisvoll und naiv:

Der Verzicht auf den Titel kommt dem Eingeständnis eines Fehlers gleich: Ja, ich habe in meiner Arbeit geschummelt. Nun kann sie sich auf ihre politischen Ämter konzentrieren. Ihre Arbeit als Familienministerin. Den Kampf ums Berliner Rathaus als mögliche Nachfolgerin des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller im Herbst 2021. Und diese Chance sollte sie auch bekommen.“

Hurra. Tatsächlich ist es wie gesagt nichts anderes als der allerletzte Versuch einer Flucht nach vorne. Die mutmaßlich Täuschende soll laut „taz“ mal ebenso exkulpiert werden. „Nun kann sie sich auf ihre politischen Ämter konzentrieren.“ Heißt was? Doch nichts anderes als „Wenn Du erwischt wird, räum es ein und gut ist es. Dann kannst Du Dich auf Deine politischen Ämter konzentrieren“. So als ob der ehrbare Charakter, der gar nicht erst täuscht, in der Politik nichts mehr zählt.

Weiter heißt es in der taz:

Doch gleichzeitig wurde dieses Streben nach wissenschaftlicher Sorgfalt auch immer für politische Kampagnen missbraucht. Das ist im Fall Giffey nicht anders. Die Berliner CDU hat besonders vehement gefordert, das Verfahren gegen Giffey neu aufzurollen. Dabei wird es ihr weniger um die Wissenschaft gegangen sein als darum, die politische Konkurrentin vor den Wahlen im September zu Fall zu bringen.“

Die konservative Presse war bei Guttenbergs Titelverzicht konsequent: Das Beispiel „F.A.Z“

Nein, nein, und nochmals nein. Es wurde das beim Namen genannt, was nicht geht: Mögliche Täuschung. In der „causa Guttenberg“ waren konservative Medien konsequent und eindeutig, anders als die linke taz, die das SPD-Mitglied Giffey hier schönredet.

So durschaute Oliver Georgi in seinem Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Inszenierung, als Guttenberg Ende Februar 2011 auf seinen Titel verzichtete. Bereits der „Teaser“ von Georgis Text war eindeutig:

Es war Guttenbergs erster öffentlicher Auftritt seit Beginn der Schummel-Affäre. Im hessischen Kelkheim betrat er unter großem Jubel und der Musik von AC/DC die Bühne – um dann den Verzicht auf seinen Doktortitel zu verkünden.“

Im Artikel selbst, der zur Gesamtlektüre empfohlen sei, hieß es u.a.:

Was der Minister in den nächsten Minuten in einer kleinen Stadt im Taunus ablegt, ist ein Schauspiel aus dem Handbuch für angewandten Populismus; ein „Kotau“, wie er noch selten gegeben wurde: „Ich habe gravierende Fehler gemacht, die den wissenschaftlichen Kodex nicht erfüllen“, ruft Guttenberg, der mit jedem folgenden Wort befreiter wirkt, befreit durch den Jubel des Publikums.“

Und weiter:

Bei der Durchsicht der Arbeit habe er festgestellt, „wie richtig es war, dass ich gesagt habe, dass ich den Doktortitel nicht führen werde“. Auch wenn dies schmerze. Die Guttenberg-Gemeinde ist aufs Tiefste gerührt.“

Woran erinnert diese Rührseligkeit? Richtig, an den eingangs erwähnten Tweet der SPD Berlin. Nur waren, als es um Guttenbergs Titelverzicht ging, SPD-Politiker damals alles andere als rührselig. Bis hin zu dem bereits erwähnten Mann, der heute Bundespräsident ist. Auch dazu sei die „F.A.Z“ zitiert:

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Steinmeier sagte, es sei „dreist“ und „keine Kleinigkeit“, dass Guttenberg die Öffentlichkeit über seine Qualifikation getäuscht habe. Da kein anderer Politiker so oft von Ehre und Anstand gesprochen habe wie Guttenberg, müsse er konsequenterweise zurücktreten. „Herr zu Guttenberg wird nicht zu halten sein, und am Ende wird ihn die Bundeskanzlerin nicht halten“, sagte Steinmeier.

So sollte sich die SPD auch heute gegenüber Giffey verhalten. Bewusstes Abschreiben, das am Ende des Prüfungsverfahrens eventuell feststehen könnte, ist keine Petitesse. Es sagt etwas über den Charakter einer Person aus. Jeder Student weiß, dass man das nicht darf, etwa nicht in Haus- und Seminararbeiten. Bei einer Dissertation weiß man das erst recht. Wer sich darüber hinwegsetzt, zeigt zwar keine im Sinne des Strafrechts stricto senso krimininelle Energie, aber doch so etwas wie eine wissenschaftlich-betrügerische. Wer so agiert, hat sich als Vorbild und das sollte eine Ministerin ja sein, disqualifiziert.

Die Abgründe des deutschen Promotionswesens rücken in den Fokus

Der Fall Giffey wirft auch ein Schlaglicht auf die Untiefen des deutschen Promotionswesens. Denn auch wissenschaftlich soll ihre Arbeit, die den Titel „Thema „Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft“ trägt, vorsichtig ausgedrückt: keinen großen Wert haben. Dazu wiederum Heike Schmoll in einem weiteren Beitrag in der „F.A.Z“:

Es sind auch inhaltliche und formale Schwächen, die von Börzel als Betreuerin schon beim Einreichen eines Exposés hätten gesehen werden müssen. Allerspätestens nach Abgabe der Arbeit hätte Börzel Giffey in deren eigenen Interesse zum gründlichen Nacharbeiten auffordern müssen.“

Wer die 214 Seiten liest und am Ende auf das 31 Seiten umfassende Literaturverzeichnis stößt, sucht vergeblich nach dem Erkenntnisgewinn dieser Fallstudie, die sich faktisch auf den Wirkungsort der damaligen Europabeauftragten beim Bezirksbürgermeister beschränkt: auf Neukölln. Für eine sozialwissenschaftliche Fallstudie sei das äußerst dünn, sagen Politikwissenschaftler, die Giffeys Arbeit gelesen haben. Sie hätte Neukölln wenigstens mit Stuttgart und Hamburg vergleichen müssen, um den Horizont zu weiten und Vergleichskriterien zu schärfen, doch darauf verzichtete sie. In weiten Teilen ist die Arbeit deskriptiv, detailreich und gibt tiefe Einblicke in die Sozialstruktur des Berliner Problembezirks, aber sie ist nicht analytisch.“

Besonders erschreckend ist dabei, dass Tanja Börzel, die Doktormutter, die Arbeit mit der zweithöchsten Note „magna cum laude“ bewertet hat. Man kann nur hoffen, dass sie sich nicht von der Prominenz ihrer Schülerin hat blenden lassen.

Im Deutschen Promotionswesen gibt es vier Noten, die in der Mitte wie durch eine Wasserscheide getrennt sind: Summa cum laude, magna cum laude, cum laude und rite. Arbeiten, die die ersten beiden Stufen erreichen, gelten als wissenschaftlich wertvoll, werden zitiert, in Schriftenreihen aufgenommen und sind ein formales Kriterium, das man erfüllen muss, falls man sich habilitieren möchte. Auf „cum laude“ und „rite“-Doktorarbeiten wird in der Welt der Wissenschaft herabgesehen, ihr wissenschaftlicher Wert ist in der Regel gering, es sind oft sogenannte „Titel“-Dissertationen, die geschrieben werden, weil es dem Verfasser primär um den Titel, nicht aber um die Wissenschaft geht. Bestimmte Fachbereiche sind, da der Titel dort als karrierefördernd gilt, dafür besonders anfällig.

Aus eigener Erfahrung kann ich das als jemand, der eine juristische Dissertation verfasst hat, bestätigen. Man weiß schon, wenn man den Verlag sieht, in dem eine Arbeit veröffentlicht wurde, woran man ist, nicht zu reden vom „Selfpublishing“. Und dennoch gibt es solche Arbeiten. Noch und nöcher. Mich persönlich beeindruckt es daher grundsätzlich nicht, wenn jemand einen Doktortitel trägt. Gerade bei Juristen schaue ich immer mal wieder erst via Google nach, wo die Arbeit veröffentlicht wurde.

Um es klar zu sagen: Arbeiten dieser wissenschaftlich minderwertigen Art verstopfen das System. Sie binden Ressourcen, denn der betreuende Professor und der Zweitgutachter müssen sich durch das wissenschaftlich reichlich wertlose Werk durchquälen und es dann auch noch votieren. Die Öffentlichkeit ist sodann beeindruckt von einem Titel, hinter dem eine reichlich irrelevante Leitung steckt. Das ist gerade auch aus konservativer Sicht ein Ärgernis, sollte es aber auch für die SPD als Aufstiegspartei sein.

Der Fehler im System ist evident. Er liegt darin, dass Professoren besondere Leistungsbezüge erhalten, wenn sie Dissertationen betreuen. Sie bekommen also mehr Geld, je mehr sie davon annehmen. Damit sollte es ein Ende haben. Mindestens die Notenstufe „rite“, wenn nicht gar „cum laude“ sollten gänzlich abgeschafft werden. Wer kein „magna cum laude“ erreicht, sollte durchfallen, freilich mit der Möglichkeit der Nachbesserung. Dann wäre der Titel wirklich das wert, was er vielfach nur vorgaukelt. Und man müsste nicht immer wieder Plagiate und Dünnbrettbohrer-Doktorarbeiten von Politikern thematisieren.

Die causa Giffey sollte also Anlass zu einer größeren Debatte sein und werden. Sie selbst aber sollte zurücktreten. Möglichst schnell.

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11 Gedanken zu “Die sich selbst Begnadigende – Zu Franziska Giffeys Umgang mit ihrer fragwürdigen Doktorarbeit;”

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    Als Nichtakademiker habe ich mal gehört, daß ein Doktor-Titel verliehen wird für eine wissenschaftliche Arbeit. die einen Erkenntnisgewinn beinhaltet.
    Ein Großteil der Promotionen in Deutschland geht auf das Fach Humanmedizin zurück, und das verwundert mich schon:
    Sollte der menschliche Körper mittlerweile nicht so weit untersucht sein, daß neue Erkenntnisse eher rar sind ?

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    Im Unterschied zu von Guttenberg hat Frau Giffey nicht betrogen, sondern nur gezeigt, dass sie sich in theoretischen Debatten nicht im geringsten auskennt. Sie hat halt Interviews dokumentiert. Ich hätte diese Arbeit völlig anders betreut. Aber in jeder Institution gibt es eben Kollegen und Kolleginnen, die nicht so ganz ernst zu nehmen sind. Das ist eben in JEDER Institution so.

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    Werfen diese Plagiatsfälle nicht auch ein besonderes Licht auf die Persönlichkeit des jeweiligen Verfasser bzw. hier Verfasserinnen? Ich habe drei Jahre für meine Promotion gebraucht, mit Experimenten inclusive zahlreicher Fehlschläge, blamabler Präsentationen darüber, Mitarbeit in Forschungsvorhaben, Auftragsanalytik an einem Hygiene-Institut zur Finanzierung des Ganzen und es es war im Nachhinein die schönste und interessanteste Zeit meines Berufslebens. Und das auch noch mit tollen Kollegen und Mitstreitern. In meinen Augen viel mehr wert, als der Titel selber. Lange dachte ich tatsächlich, dieser wissenschaftliche Idealismus, bzw. Ethos würde den Wissenschaftsbetrieb charakterisieren. Ich denke, da liegt so einiges im Argen.

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    Der Wert von Dissertationen ist nicht ganz unabhängig von der jeweiligen Fachrichtung einzuordnen. In den Naturwissenschaften begründeten auch Arbeiten jenseits der Bewertung von magna mitunter noch bemerkenswerte Karrieren. Der Physiker Leo Graetz erreichte nur ein „rite“, schaffte aber Anfang des 20. Jahrhunderts dennoch eine Karriere bis zu einem persönlichen Ordinariat. Bei den Juristen galt der Titel auch vor 33 nur als Verzierung. Da gab es nicht wenige, die nie eine ernsthafte Chance auf das Bestehen des Staatsexamens hatten, aber für den „Doktor“ reichte es. So darf man auch heute nicht unabhängig von Thema und Fachrichtung pauschal urteilen. Es bleibt aber (mitunter) die Diskrepanz zwischen einer im angelsächsischen Raum unbekannten gesellschaftlicher Reputation und der tatsächlich erbrachten Leistung. Die Kombination von Adels- und Doktortitel ist im Immobilienwesen nicht selten und eben auch bei Politikern oft anzutreffen. Der Verkehrsminister hatte so etwas jenseits unserer Standards in Prag erworben und führt den Titel nicht mehr. Ich stimme dem Kommentar zwar zu, dass Politiker, die sich mit diesem Titel schmücken wollen und und dafür keine ausreichende Leistung erbracht haben, disqualifiziert sind. Allerdings sind Unterschiede zwischen aktivem Betrug und inhaltlicher Belanglosigkeit nicht ganz irrelevant für eine politische Bewertung

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    Hmm. Was war da eigentlich mit Heike Schmolls (FAZ) eindeutiger Haltung gegen Promotionsbetrug mit leitender täuschender Absicht in der Causa Schavan? Das war also dann kein (dieses Mal allerdings) konservativer Putzerfisch, der Prodekan Rohrbacher als Gutachter und Judaist als inkompetent und nicht zuständig an die Wand zu schreiben versucht hat? Und die dazu flankierenden Meinungsartikel der Suddeutschen Zeitung? Vielleicht hilft ja das Blog Causa Schavan einer möglichen Erblindung auf dem rechten Auge entgegen.

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    Das Credo der SPD war immer: Aufstieg durch Bildung und Arbeit, nicht durch Betrug und Fälschungen.
    Als ehemaliger Sozialdemokrat kann ich nur sagen. Eine Frau Giffey wäre damals hochkant aus allen Ämtern geflogen. Oder vielmehr, es wäre einfach undenkbar gewesen, dass ein Sozialdemokrat so tief sinkt.

    Wählen kann man diese Partei nicht mehr. Aber in einer Demokratie existieren zum Glück immer noch Alternativen , die man wählen kann.

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    Guttenbergs Arbeit wurde gewiss nicht wegen erhöhter Bezüge so salbungsvoll benotet. Sie war aber deutlich schlimmer als die von Frau Giffey. Auch bei Frau Giffey liegt das Wohlwollen sicher nicht daran, dass sie wissenschaftlich kompetent ist. Sie hat eben Interviews gemacht und einen Text geschrieben, der am Ende einen theoretischen Tiefgang erhalten sollte. Aber zu so etwas ist Frau Giffey nicht in der Lage. Sie hat also am Ende ein wenig mit Habermas gewinkt und mit dem Salzstreuer schlampig Fußnoten platziert, die deutlich machen, dass sie die Bücher nicht gelesen hatte. Eigentlich hätten die Erst- und Zweitgutachter das merken müssen. Aber es gibt eben Professoren und Professorinnen, die es schätzen, wenn man ihnen nach dem Mund redet und wenn man so schreibt, wie sie es selber auch handhaben. Den Sinn für Qualität haben sie längst verloren. An diesen menschlichen Makel kommt leider kein Reformvorschlag ran. Was nun die beiden schummelnden Politiker betrifft. Sie verstehen es Eindruck zu machen, obgleich nicht viel dahinter ist. Auch das lässt sich leider nicht weg-reformieren.

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      Ich fürchte leider auch, liebe Frau Frommel, dass es da menschliche Abgründe unter Professoren gibt, die sich nicht wegreformieren lassen. Aber das macht das ganze Promotionswesen kaputt. Ich habe selbst eine wissenschaftlich relevante Diss. geschrieben, über vier Jahre, bei Peter Ulmer, der Name sagt Ihnen sicher etwas, als zweite Frau überhaupt. Peter Ulmer hatte sie sogar für den Preis des „Deutschen Aktieninstituts“ nominiert und sie ist vielfach rezipiert und zitiert: https://katalog.ub.uni-heidelberg.de/cgi-bin/titel.cgi?katkey=66166165

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    Ich will mich mit Frau Bednarz nicht über Doppelmoral streiten, die quillt bei dem offenen Tribalismus der Causa Giffey sichtbar aus allen Nähten.

    Ein echtes Problem habe ich allerdings mit dem Fehlverhalten in sozial- und geisteswissenschaftlichen Studiengängen. Mehrere Jahre aktiv in der Hochschul- und Studentenpolitik, hier eine nur kleine Auswahl der Anekdoten, die ich aus diesen – und fast nur diesen – Fachbereichen mitbekommen habe:
    1) Fachbereich Politikwissenschaft: Man könne Studenten keine schlechteren Noten als ein „Gut“ geben, um ihre Berufschancen nicht zu gefährden
    2) Fachbereich Pädogogik: Eine Woche vor einer Hauptdiplomsklausur lagen alle Fragen dieser Klausur zum Kopieren in der Fachschaft aus, dem Hörensagen nach vom Professor selbst dort abgelegt, um ein Nichtbestehen dieser Klausur auszuschliessen
    3) Fachbereich Soziologie: Eine in genau 5 Tagen (!)zusammengestöpselte Diplomarbeit von 65 Seiten (ich kannte den Stöpsler persönlich) mit einer beeindruckenden Literaturliste (davon vielleicht 10% gelesen und 5% benutzt) wird mit einer glatten 1 bewertet. Nachfrage beim Kommilitonen – ja, das sei Fachbereichsstandard, echte Arbeit würde sich in diesem Fachbereich nicht lohnen

    Summa summarum waren die Standards an vielen (weiss nicht, ob an allen) geistes- und sozialwissenschftlichen Fachbereichen selbst renommierter Universitäten derart niedrig, dass ich mir die ketzerische Frage erlaube, ob an diesen Fachbereichen erlangte Titel überhaupt durch vorsätzlichen Betrug zustande gekommen sein können. Denn wo es keine Standards gibt, kann man auch gegen keine verstossen.

    Und um das vorwegzunehmen – mich beeindrucken vordergründig anderslautende Verweise auf gültige Vorschriftenwerke zur Verfassung wissenschaftlicher Arbeiten aus dieser Zeit sehr wenig. Sie wurden flächendeckend nicht gelebt, nicht angewandt und nicht kontrolliert.

    Ich persönlich halte deshalb Verfahren zur Aberkennung von Doktortiteln für – mit Verlaub – widerliche Bigotterie. Sie entlasten öffentlich die jahrzehntelange Schlamperei an diesen Fachbereichen, die durch Plagiatsorgien zustande gekommene Doktorarbeiten erst möglich gemacht haben. Was den zuständigen Fachbereichen mit absoluter Sicherheit bekannt war und ist.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

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      Danke Ihnen, lieber Herr Haupts, für diese „Insights“. Ich habe als Reaktion auf den Text auch Erschütterndes darüber gehört, wie an manchen Unis schon vor 20 Jahren Titel Leuten zugeschustert wurden, von denen man dachte, sie würden irgendwann mal politisch relevant werden. Das geht alles gar nicht. Wie sich die SPD aktuell aufführt, finde ich allerdings besonders degoutant.

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