In einem ironischen Kommentar zum Abbruch der Jamaika-Verhandlungen hatte ich mich in der WELT mit den Positionen Wolfgang Kubickis auseinandergesetzt. Reaktionen ließen natürlich nicht auf sich warten. Eine solche Reaktion – und meine Antwort darauf – dokumentiere ich hier, weil sie mir Gelegenheit gibt, den Unterschied zwischen Antisemitismus als psychologischem Defekt und Antisemitismus als gesellschaftlichem Diskurs zu betonen – ein Unterschied, der wesentlich ist, wenn man den Antisemitismus bekämpfen will und nicht die angeblichen Antisemiten.
Neulich erhielt ich vom Leserservice die folgende Mail, die Norbert Häring an die WELT geschrieben hatte (die Rechtschreibung habe ich unverändert gelassen):
„Mich hat zu einem Artikel von Herrn Alan Posner die untenstehende empörte Email erreicht. Ich möchte Sie veröffentlichen, aber nicht ohne Herrn Posner, dessen Kontaktdaten ich nicht finden kann, Gelegenheit zu Stellungnahme zu geben. Ich wäre dankbar, wenn Sie ihm diese Mail weiterleiten könnten, mit der Bitte, ggf. bis morgen, Freitag 18 Uhr zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen, er betreibe Rufmord an Herrn Kubiki.
Vielen Dank
Norbert Häring“
Häring ist Redakteur beim „Handelsblatt“, das zum Holtzbrinck-Konzern („Zeit“, „Tagesspiegel“, „Wirtschaftswoche“, Rowohlt-Verlag u.a.) gehört. Außerdem betreibt er ein Blog.
Der Leserbrief, den Häring abdrucken will, lautet wie folgt:
„Lieber Herr Häring,
Sie hatten kürzlich sehr detailliert über die Methoden eines Thomas Konicz geschrieben, der mittels Assoziationen Andersdenkende denunziert. Heute hat die WELT einen Meinungsbeitrag von Alan Posener veröffentlicht, welcher m.E. dem gleichen Muster folgt:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article170870650/Danke-Christian-Lindner.html
Ich bin wahrlich kein Verteidiger der FDP, aber Herr Posener hat m.E. eine lupenreine Denunziation mittels Assoziation gegen Wolfgang Kubicki (FDP) abgeliefert. Selbst nach mehrmaligen Lesen und einer gewissen Kulanz in der Interpretation kann ich den Beitrag nicht anders bewerten. Herr Posener intendiert einen Antisemitismusverdacht gegen Kubicki ohne ihn aber konkret auszusprechen. Ihm reicht es, auf eine frühere persönliche Nähe zu Möllemann hinzuweisen: „Der [Kubicki] ist für mich fatal. Er war ja Vertrauter Jürgen Möllemanns, der mittels einer antisemitischen Kampagne gegen Michel Friedman die FDP in die Spur der FPÖ setzen wollte.“
Weiter verweist Posener auf Kubickis einstige Kritik an der Antisemitismuskeule: „Antisemitische Denunzierung reicht immer aus, um jemanden komplett hinzurichten.“ (Kubicki anläßlich Möllemanns Tod 2003) Selbst diese damalige Kritik an Denunziation wird von Posener heute noch genau für eine solche benutzt, um Kubicki als Antisemit einzustufen, was aus Poseners Text weiter unten indirekt(!) geschlossen werden muss: „Das ist eine Ungeheuerlichkeit [Kubickis Kritik von 2003], die nicht besser wird, weil sie für den antisemitischen Diskurs typisch ist.“, schreibt Posener.
Fazit: Obwohl Posener kein einziges belegbares Zitat für Antisemitismus seitens Kubicki anführt, rückt er ihn in exakt diese Ecke, indem er diesen unterstellt, einen „typisch […] antisemitischen Diskurs“ zu führen. Und da einen solchen Diskurs natürlich nur Antisemiten führen, sollen Leser wohl den Schluss ziehen: Kubicki ist Antisemit! Das kann Posener natürlich nicht direkt schreiben, schon gar nicht bei einem Anwalt, deshalb wird subtil und zielgerichtet assoziiert. Was Kubicki bereits 2003 beklagte, nämlich die Denunziation von Personen mittels Antisemitismusvorwürfen, exekutiert Herr Posener heute 14 Jahre später auf’s Neue, und dies auch noch durch Rückgriff auf eine Äußerung von vor 14 Jahren. Ob vorsätzlich, oder Poseners Denken einfach so strukturiert ist, muss offen bleiben.
Viele Grüße und besten Dank für Ihre immer wieder lesenwerten Beiträge!“
Meine Antwort dokumentiere ich hier:
Lieber Kollege,
Sie leiten eine Mail an unsere Redaktion weiter, deren Absender nicht zu erkennen ist. Er schreibt meinen Vornamen falsch („Alain“), Sie meinen Nachnamen („Posner“). So viel zur journalistischen Sorgfalt und zur genauen Lektüre.
Weiter sagen Sie, dass Sie diese Mail „veröffentlichen“ wollen, ohne zu sagen, wo. Auf Ihrem Blog, nehme ich an. Dagegen habe ich natürlich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, es wird auf meine Kolumne in der WELT verlinkt, damit sich jeder Leser eine eigene Meinung über die Substanz der Argumentation machen kann, die Ihnen anscheinend einleuchtet.
Zunächst möchte ich erwähnen, dass mein Hauptvorwurf an Herrn Kubicki nicht seine Nähe zum verstorbenen Herrn Möllemann ist, sondern seine Lobbytätigkeit für eine Pipeline, deren Bau in der geplanten Form nach meinem Dafürhalten nicht im deutschen, wohl aber im russischen Interesse ist. Diese Lobbytätigkeit hat Herr Kubicki bisher nicht dementiert.
Nun aber zum Vorwurf Ihres anonymen Korrespondenten:
„Obwohl Posener kein einziges belegbares Zitat für Antisemitismus seitens Kubicki anführt, rückt er ihn in exakt diese Ecke, indem er diesen unterstellt, einen „typisch […] antisemitischen Diskurs“ zu führen. Und da einen solchen Diskurs natürlich nur Antisemiten führen, sollen Leser wohl den Schluss ziehen: Kubicki ist Antisemit!“
Das ist eine Unterstellung. Zunächst möchte ich betonen, dass weder Herr Kubicki noch der empörte Leser die Fakten leugnet, die ich referiere. Wenn er sie nicht empörend findet, so ist das sein gutes Recht. Ich finde sie empörend, und das festzuhalten, ist keine „Denunziation“. Denunziation bedeutet die Enthüllung von Tatsachen, die jemand aus welchen Gründen auch immer geheim halten will. Die Behauptung unwahrer Tatsachen ist Verleumdung. Das Referieren von Tatsachen ist weder das Eine noch das Andere.
Der Grundfehler Ihres anonymen Lesers besteht in der Behauptung, einen antisemitischen Diskurs könnten „natürlich nur Antisemiten führen“. Das ist Unsinn. Der antisemitische Diskurs ist ein objektiver Tatbestand. Er umfasst bestimmte Denk- und Sprachfiguren wie zum Beispiel: „Was Israel den Arabern antut, ist genauso schlimm wie das, was die Nazis den Juden angetan haben.“ Oder: „Israel darf man nicht kritisieren.“ Oder wie im Fall der Äußerungen des Herrn Kubicki – und Ihres anonymen Lesers – die Umdrehung der Beweislast und des Vorwurfs: Wer eine antisemitische Äußerung kritisiert, soll beweisen, dass der Sprecher Antisemit ist, oder die Kritik unterlassen, sonst wird ihm eine böse Absicht unterstellt.
Es kann selbstverständlich jemand, der kein Antisemit ist, eine Äußerung tun, die antisemitisch ist. So wie jemand, der möglicherweise einer Frau ein Kompliment machen will, etwas Verletzendes und Sexistisches sagen kann. Es gibt ein ganzes Genre amerikanischer Witze und Sitcoms über die Fauxpas von Weißen, die Schwarzen beweisen wollen, wie wenig rassistisch sie sind.
Ob also Herr Kubicki Antisemit ist, weiß ich nicht, und darum habe ich das auch nicht behauptet. Ich habe auch nicht behauptet, dass Herr Möllemann Antisemit war. Gott allein sieht das Herz, wir Menschen müssen uns mit den Äußerungen und Taten der Mitmenschen zufrieden geben. Herr Möllemann führte eine antisemitische Kampagne. Herr Kubicki hielt zu ihm und meinte, Möllemanns einziger Fehler sei gewesen, die Macht der Juden zu unterschätzen. Das ist eine antisemitische Äußerung, und die hat Herr Kubicki nie zurückgenommen.
Ich bin, wie soeben telefonisch besprochen, einverstanden, dass Sie diese Mail als Entgegnung auf meinen unbekannten Leser (der MIR nicht schreiben wollte!) veröffentlichen, wenn Sie sie vollständig abdrucken (außer dem zweiten Absatz, der entfallen kann, weil er nur Erläuterungen zum Vorgang enthält, und diesem letzten Absatz, auf den das Gleiche zutrifft).
Beste Grüße
Alan Posener
Passen Sie bloß auf, dass der Begriff „Antisemitismus“ sich durch inflationären Gebrauch nicht so entwickelt, wie der des „Nazi“ oder „Rassisten“.
Der Vorwurf ein „Nazi“ oder „Rassist“ zu sein, löst bei den meisten Bürgern rechts der Mitte nur noch Schulterzucken aus, während sich wenige ungerührt „Antisemit“ nennen lassen.
Um im Gegensatz zu „Nazis“ oder „Rassisten“ gibt es leider noch ein paar echte Antisemiten, wie ich leider begreifen musste.
Aufgrund dieses Artikels
http://www.faz.net/aktuell/pol.....ml?GEPC=s2
schrieb ich an die AfD Fraktion in Stuttgart:
„Ich dachte die causa Gedeon sei schon lang erledigt. Ist sie offenbar nicht! Meinerseits eine klare Ansage an die AfD. Eine Partei, die den Anitsemitismus in ihren Reihen nicht in den Griff kriegt, werde ich nicht mehr wählen.
Bislang habe ich das immer als Geburtswehen einer neuen Partei rechts der Mitte gesehen, und gehofft, dass die AfD sich der Spinner in ihrer Mitte entledigen wird. Aber zuviel Einzelfälle sind eben keine mehr, sondern ein System. Aus Quantität wird irgendwann Qualität.“
Eine Antwort habe ich noch nicht direkt erhalten.
Lieber Waldgänger, wenn es viele Beispiele für den Antisemitismus gibt, kann man nicht denjenigen, die sie benennen, vorwerfen, sie würden einen „inflationären Gebrauch“ vom Begriff machen. Das ist unlauter. Der Ex-Maoist Gedeon ist unsäglich. Andererseits ist er eben kein „Spinner“, wie Sie behaupten. Es ist schlechterdings unmöglich, eine nationalrevolutionäre und identitäre Bewegung ohne Antisemitismus aufzuziehen. Das heißt, der Antisemitismus (und das schließt den Unwillen ein, sich mit ihm auseinanderzusetzen) ist (und das begriff Möllemann) eine Ressource, auf die Populisten nicht verzichten können. Auch Linkspopulisten nicht: Was in der Labour-Party unter Jeremy Corbyn abgeht, und in Teilen der Linkspartei hier, ist ein Trauerspiel. Sie können mir glauben, mich langweilt und bedrückt das Thema. Aber wenn dem Gebot „Wehret den Anfängen!“ der Vorwurf entgegengehalten wird, „Nun macht doch keinen inflationären Gebrauch von dieser Kritik“ – dann ist etwas faul im Staate D.
Übrigens habe ich, so weit ich weiß, noch niemanden einen „Nazi“ oder „Rassisten“ genannt, der nicht einer war. Sie können mich gern korrigieren. Sie können gern – wie Ihr linker Bruder im Geiste 68er oben – mir nachzuweisen versuchen, dass meine Kritik an Ken Jebsen falsch und dass Norbert Härings Verteidigung Jebsens stichhaltig ist. Allein mit dem allgemeinen Vorwurf der Inflationierung kann ich wenig anfangen.
„Es ist schlechterdings unmöglich, eine nationalrevolutionäre und identitäre Bewegung ohne Antisemitismus aufzuziehen. “
Eine identitäre Bewegung – Wieso nicht?
Sich auf die eigene Identität zu besinnen, sie zu schätzen, und sie zu bewahren, ohne andere herab zu setzen, ist doch denkbar.
Das Judentum, das Jahrtausende in der Diaspora überlebte, ist doch ein Beispiel dafür.
„Allein mit dem allgemeinen Vorwurf der Inflationierung kann ich wenig anfangen.“
Selbst wenn Sie von Antisemiten umzingelt wäre, wäre es unklug auf alle gleichzeitg los zu gehen. Steht man einer Übermacht von Feinden gegenüber, sollte man dort angreifen, wo eine Lücke in der Phalanx zu erkennen ist.
Dazu bedarf es aber der Fähigeit zu erkennen, wo diese Risse im Lager der einde erlaufen.
Reiben sie der AfD Gedeon und Genossen nur immer wieder unter die Nase.
Wenn die dann erledigt ist, können sie den nächsten angehen. Aber gehen Sie im eigenen Interesse nicht auf Gedeon, Lindern, Kubicki, und wen noch alles gleichzeitig los.
BTW: Ich misstraue grundsätzlich geläuterten Ex-Kommunisten im rechten Lager. Da erscheint die illiberale Haltung oft wieder durch. Gedeon ersetzte den Klassenfeind, die Bourgeoisie, einfach durch das Judentum und erkärt damit alles Übel in der Weltgeschichte.
„Sie können gern – wie Ihr linker Bruder im Geiste 68er oben – mir nachzuweisen versuchen, dass meine Kritik an Ken Jebsen falsch “
Unterlassen Sie es bitte mich zu irgendjemandens Bruder zu erklären. Menschen anhand ihrer Gesinnung zu sortieren, ist typisch marxistisches Denken (proletarische, kleinbürgerliche, bourgeoise Denkweise, etc). Das meine ich mit dem Durchscheinen alter Denkgewohnheiten bei geläuterten Ex-Linken.
Ich werde mich mit Ihrer Kritik an Ken Jebsen nicht auseinander setzen. Diese irrlichternde Figur interessiert mich nicht.
Lieber Waldgänger, ich stimme Ihnen absolut zu, was das Prinzip „den Feind einzeln schlagen“ angeht. Wie Mao sagte: „Strategisch mag die Einnahme einer großen Mahlzeit einem Schwierigkeiten bereiten; taktisch nehmen wir einen Bissen nach dem anderen.“ Was nun die Identitären angeht, so leben sie in einer idealen Welt, in der es sauber getrennte Völker und Kulturen und die ihnen entsprechenden Räume und Verfassungen gibt. Diese Welt hat jedoch nirgendwo und nirgendwann existiert. Und alle Versuche, diese ideale Welt zu schaffen, müssen, wie alle Utopien, ins Elend führen.
Hier nun die Antwort der AfD-Fraktion in Stuttgart:
Sehr geehrter Herr …,
die causa Gedeon ist erledigt, eine Wiederaufnahme in die Fraktion ist komplett illusorisch.
Auf meine Nachfrage, ob ich das veröffentlichen dürfe, kam die Antwort:
————–
Warum nicht? Gegen Dr. Gedeon läuft ein Parteiausschlussverfahren. Er ist aus der Fraktion ausgeschlossen worden. Ein Antrag auf Wiederaufnahme liegt nicht vor. Würde er (rein hypothetisch) vom fraktionslosen Abgeordneten Dr. Gedeon gestellt, würde es einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedürfen, um ihn wieder in die Fraktion zu integrieren, Die ist nach Stand der Dinge absolut ausgeschlossen.
——————
Na also geht doch gegen den Antisemitismus zu kämpfen, wenn man kleine Brötchen zu backen bereit ist.
In besagtem Kubicki-Interview gibt es noch einen Klassiker des antisemitischen Diskurses: „XY ist kein Antisemit, weil er jüdische Freunde hat.“
/// Ich habe mit Möllemann und Paul Spiegel , dem verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, im Bundesvorstand der FDP gesessen. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sich Paul Spiegel mit einem Antisemiten an einen Tisch gesetzt hätte. Bei Möllemanns 50. Geburtstag waren Spiegel und ich die einzigen aus der FDP, die eingeladen waren. ///
http://www.zeit.de/2010/12/Ges.....ettansicht
Richtig. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sich Paul Spiegel mit einem Antisemiten an einen Tisch gesetzt hätte.“ Wenn sich Juden weigern würden, sich an einen Tisch mit Antisemiten zu setzen, würden sie bald allein sitzen müssen.
Wieso das denn, Herr Posener. Weil nur Antisemiten sich an Tische setzen? Oder weil es nur Antisemiten gibt, mit denen man sich an Tische setzen kann? Umgekehrt wird ein Schuh draus. Man muss sich nicht mit Jürgen Möllemann an einen Tisch setzen, wenn man keine Antisemiten an seinem Tisch haben will. Und es gäbe auch andere, mit denen man Geburtstag feiern kann.
Lieber Roland Ziegler, mein Vater, der 1961 in seine Geburtsstadt zurückkehrte, hatte fast nur mit Leuten zu tun, mit denen er nicht reden konnte über das, was sie 1933 bis 1945 getan hatten, weil er ihnen das Lügen ersparen wollte. Glauben Sie, deren Kinder sind alle 68ff plötzlich alle ihre anerzogenen Vorurteile los geworden? Ich habe mit Michel Friedman gesprochen: Er weiß doch genau, was die Leute hinter seinem Rücken reden. Ich sprach mit einem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin, der sicher war, einige der antisemitischen Drohbriefe, die er täglich erhielt, seien von einem Polizisten seiner Leibwache verfasst. Wenzel Michalski, Sohn eines Holocaust-Überlebenden und Director von Human Rights Watch in Deutschland, musste erleben, wie sein Sohn an der Schule bedroht, bespuckt und geschlagen wurde, weil er Jude ist. Ich selbst, obwohl kein Jude, habe viele Freunde, mit denen ich schlicht und einfach nicht über Israel diskutiere, weil ich gar nicht hören will, was da aus ihrem Mund kommt, und andere, die mir ganz unschuldig erklären, das Judentum bedeute das Gesetz der Rache, das Christentum das Gesetz der Liebe usw. usf. Hier auf „SM“ werde ich ermahnt, keinen „inflationären Gebrauch“ des Wortes Antisemitismus zu betreiben, weil ich damit Bürger rechts der Mitte in die Arme der Antisemiten treiben könnte. Was man auch als Drohung interpretieren könnte.
Das ist das stärkste Argument für den Zionismus: in einem Land leben zu können, in dem es normal ist, Jude zu sein. Hier ist es nicht normal. Ich sage das ungern, aber es ist so. Fragen Sie nicht die Arier. Fragen Sie einen Juden. Jeden Juden. Vielleicht sind sie alle meschugge?
Dass Juden hier alltäglich ausgegrenzt und bedroht werden, ist richtig. Schon alein die Notwendigkeit der täglichen polizeilichen Bewachung jüdischer Insitutionen ist bitter genug. Den Fall von der Steglitzer Schule habe ich (über eine ZDF-Doku in der Mediathek) erst kürzlich verfolgt und bin darüber immer noch entsetzt. Ich möchte das nicht kleinreden oder gar bestreiten. Aber es reicht nicht aus, um zu begründen, es gäbe hier nur noch Antisemiten. Und das wird ja gesagt, wenn man sagt, man könne sich mit niemandem mehr an einen Tisch setzen, wenn man nicht mit Antisemiten zusammensitzen will.
Auf der Schule meiner Tochter gibt es eine ganze Menge jüdische Kinder (und einmal habe ich in der Tat eine antisemitische Bemerkung dazu gehört, wahrscheinlich war es Neid). Insgesamt interessieren sich jedoch weder Eltern noch Schüler dafür, an dieser Schule ist das wirklich egal. Bei der anderen Schule meiner anderen Tochter weiß ich rein gar nichts dazu, habe aber eben auch noch nichts Beunruhigendes gehört und bin mir sicher, dass die Leitung und die Lehrerschaft – anders als bei der Steglitzer Schule, die das skandalös unter den Tisch kehren wollte – richtig reagieren würde.
Man sieht immer nur die Probleme und denkt dann, es gibt überall nur Probleme. Das ist aber falsch. Sie würden ja sicher für sich selber geltend machen, dass man nicht mit einem Antisemiten zusammensitzt, wenn man mit Ihnen zusammensitzt. Und hätten natürlich damit auch recht. Sie würden bestimmt auch noch ein paar andere Leute gelten lassen, die Sie kennen. Insgesamt kommen da schon eine nennenswerte Anzahl zusammen. Nicht-antisemitische Leute sind meist unsichtbar, aber es gibt sie, nicht nur als Ausnahmen.
Ja. Ich habe auch nicht gesagt, es gebe hier nur Antisemiten. Freilich bin ich der Meinung, dass Rassismus und Antisemitismus sozusagen die Default Position sind bei allen Menschen. Wer sich also seiner Vorurteilsfreiheit rühmt, ist m.E. bloß eingebildet, nicht wirklich vorurteilsfrei.
Das Problem ist, nach meiner Meinung, die aggressive Übergriffigkeit der heutigen Antisemiten. Nicht dass alle hier Antisemiten sind. D.h. wenn man mit einer Kippa herumläuft, muss man befürchten, attackiert zu werden. Man muss sich also verstecken. Das ist ein Skandal, der von einer ätzenden Minderheit ausgelöst wird und gegen den die bürgerliche Mehrheit nicht viele Mittel zur Verfügung hat. Oft wird er ignoriert, auch aus Scham. Wenigstens kann sie ihn offensiv zugeben, reglementieren, im Schulunterricht ansprechen (wurde im Ethikunterricht meiner Tochter gemacht) usw.
Das ist EIN Problem, lieber Roland Ziegler. Leider nicht das einzige.
Sehr interessant. Vielen Dank.
Jürgen Kubicki? Ist bei dem zufällig etwas Möllemann ‚reingeraten oder ist das Absicht? Ich assoziiere mit einem FDP-Politiker namens Kubicki den Vornamen Wolfgang.
Wird geändert. Freud’sche Fehlleistung.