Die witzigste Überschrift zum Brexit war auf der Titelseite der britischen Boulevard- Zeitung „SUN“ zu lesen: „See EU later“. Diese Prophezeiung könnte eines Tages in Erfüllung gehen. Wenn sich das Vereinigte Königreich demnächst in seine Bestandteile auflöst, weil sich Schottland und Nordirland abspalten, hätten England und Wales die Nachteile des Austritts aus der EU alleine auszubaden. Die ökonomischen Erschütterungen am Tage nach der Wahl lassen nichts Gutes ahnen. Der wichtigste Einpeitscher des Leave-Lagers Nigel Farage (Ukip) musste schon am Tag nach der Abstimmung kleinlaut eingestehen, dass die eingesparten Mitgliedsbeiträge nicht in das britische Gesundheitssystem fließen werden. Der Beitrag für den Verbleib im Binnenmarkt wird nämlich nur unwesentlich kleiner sein als der ohnehin schon ermäßigte britische Mitgliedsbeitrag. Bald wird sich im Königreich Katzenjammer breit machen und die Briten werden dieselbe Lehre lernen wie die Russen: Patriotismus kann man nicht essen. Es könnte also durchaus sein, dass die junge Generation in England, die beim Brexit von der Generation Rollator düpiert wurde, eines Tages das Blatt wendet, und einen Neu-Eintritt in die EU durchsetzt. „See you later EU“.
Für die EU selbst muss der Austritt aus der EU Anlass sein, über das Projekt Europa grundsätzlich nachzudenken. Die Reaktionen aus Brüssel am Tag danach lassen eher vermuten, dass die alten Schlachten erneut geschlagen werden. Die Verfechter eines europäischen Bundesstaates verstiegen sich sogar zu der These, die Vertiefung der Integration lasse sich ohne den britischen Störenfried jetzt leichter bewerkstelligen. Auch die gegen GB gerichteten Bestrafungsphantasien, die unter den eingefleischten EU-Föderalisten grassieren, zeugen eher von einem stupiden „Weiter so!“ als von der Einsicht, dass sich am Gebäude der EU etwas ändern muss, will dessen Statik nicht weiter erodieren.
Es ist nicht zu übersehen, dass in den Völkern der Mitgliedsstaaten das Unbehagen darüber gewachsen ist, dass Brüssel immer mehr kleinteilige Regulierungen an sich zieht, während die großen Probleme – Wachstumsschwäche, Schuldenkrise, Flüchtlingsproblematik – ungelöst bleiben. Die Forderung gutwilliger Europapolitiker, Europa müsse sich bei den kleinen Fragen zurücknehmen, dafür aber in den großen Fragen stärker werden, hat sich bisher auf keinem Politikfeld durchgesetzt. Subsidiarität ist im Sprachgebrauch der Europa-Elite nicht mehr als eine Floskel geblieben.
Die Gründe für das Erstarken euroskeptischer Parteien in vielen EU-Staaten haben viel mit dem Unbehagen zu tun, im Zeichen der Globalisierung, die man als undurchschaubar und bedrohlich erlebt, von einer Macht abzuhängen – der Europäischen Kommission -, die man nicht beeinflussen kann. Deshalb eint die Euro-Skeptiker aller Länder der Slogan, man müsse die Kontrolle über die Geschicke des eigenen Landes zurückerobern.
In Großbritannien gelang es den EU-Gegnern, britische Mythen von Größe und Unabhängigkeit so in den Vordergrund zu drängen, dass ökonomische Erwägungen nicht mehr durchdringen konnten. Für ein Volk, dem man gemeinhin Pragmatismus und gesunden Menschenverstand als Eigenschaften attestiert, ist das eine traurige Entwicklung. In den Staaten, die den Euro als Währung haben, speist sich der EU-Hass aus der wirtschaftlichen Misere, die seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise nun schon 7 Jahre andauert. Die Populisten machen vor allem die Politik Deutschlands für die wirtschaftliche Schwäche verantwortlich, die den Ländern Austerität verordne und ihnen verbiete, sich weiter zu verschulden. Italienische Medien drückten unverhohlen ihre Freude darüber aus, dass die Briten der Welt gezeigt hätten, dass sie nicht länger „unter der deutschen Fuchtel leben“ wollten.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU den Weg hin zu einem föderalen Bundesstaat noch weiter gehen kann, ohne weitere Sezessionen auszulösen. Im Lissabonner Vertrag von 2007 steht in der Präambel: „ENTSCHLOSSEN, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben…“. Die EU wird gut daran tun, auf die Verwirklichung dieses Zieles zu verzichten, will sie nicht selbst die Völker der EU-Staatengemeinde gegen sich aufbringen.
Eine Umfrage des „Berenberg PEW Research Centers“ unter den Europäern spricht eine eindeutige Sprache. Die Frage, ob die EU Macht an die Länder zurückgeben solle, beantworteten die Befragten aus allen Ländern überwiegend mit Ja. Am geringsten war die Mehrheit in Spanien (35 zu 30), am größten in Griechenland (68 zu 8). In Deutschland, wo die euroskeptische AfD aktuell nur 12% Zustimmung erhält, sind es erstaunliche 43 gegen 26 Prozent. Dass die Befürworter der Re-Nationalisierung in Großbritannien besonders zahlreich sind (65 zu 6) verwundert nach dem Referendum vom 23. 6. 2016 nicht. Beunruhigend sind die Ergebnisse auf die Frage ausgefallen, ob es auch in ihrem Land ein Referendum für einen EU-Austritt geben solle. Im EU-Durchschnitt stimmten 45% dafür, 33% dagegen. Besonders zahlreich sind die Befürworter in Italien (58 zu 48) und in Frankreich (55 zu 41). Auch in Deutschland, wo es keine Volksabstimmungen auf Bundesebene gibt, plädiert eine Mehrheit dafür (40 zu 34). Nimmt man diese Zahlen ernst, kann es für die EU in den nächsten Jahren nur eine sinnvolle Agenda geben: Wichtige politische Entscheidungen müssen in die Nationalstaaten zurückverlagert werden. Darunter sollten auch ganze Politikfelder, wie z.B. die Umweltpolitik und die Verkehrspolitik, sein.
Eine wesentliche Ursache für Entzweiung, ja Verfeindung zwischen den europäischen Völkern ist der Euro. Immer mehr stellt sich heraus, dass dessen Einführung primär ein politisch-utopisches Projekt war als eine mit ökonomischem Sachverstand realisierte Maßnahme. Zu ungleich sind die Staaten hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft und vor allem ihrer kulturell geprägten Arbeitsauffassung. Dass die Franzosen ihre 35-Stundenwoche und den verkrusteten Arbeitsmarkt verteidigen, als gehe es um Leben und Tod, ist für Länder, die eine pragmatische Einstellung zur Ökonomie haben, kaum verständlich. Einige Länder hat der Euro tatsächlich in Armut gestürzt. Griechenland musste seit Ausbruch der Krise 2009 einen Wohlstandsverlust seiner Bürger von 30% hinnehmen. Und trotzdem ist kein Licht am Horizont zu sehen. Griechenland wird ewig am Tropf der Gläubiger hängen – und die Bürger werden die EU (und vor allem Deutschland) für ihre Misere verantwortlich machen.
Wenn man eine Transferunion nicht will – in der EU wollen das nur die Süd-Staaten – , kann es nur eine sinnvolle Perspektive geben. Den ökonomisch schwachen Euro-Staaten muss der geordnete Austritt aus der Euro-Zone ermöglicht werden. Dass der Maastrichter Vertrag dies nicht vorsieht, sondern von der Ewigkeit der Euro-Zugehörigkeit ausgeht, zeigt das Maß an Verblendung, das bei Einführung des Euro unter den Staatschefs geherrscht hat. Wenn ein Staat austritt, hat er die Möglichkeit, die neue eigene Währung so weit abzuwerten, bis die Produkte, die das Land herstellt, wieder konkurrenzfähig sind. Dann können die nötigen Strukturreformen durchgeführt werden, ohne gleich tiefe soziale Friktionen auszulösen. Eine Rückkehroption sollte auf jeden Fall offen gehalten werden. Dieses atmende Euro-System – Aus- und Eintritte sind möglich – wird vor allem dazu führen, dass die Länder und ihre Völker für ihr Tun und Lassen die volle Verantwortung tragen. Fallen sie ökonomisch weiter zurück, können sie niemanden als sich selbst dafür verantwortlich machen. Schreiten sie gut voran, können sie sich den Erfolg auf die eigenen Fahnen schreiben. Das jetzige Euro-Regime erlaubt den Ländern, die in die Krise schlittern, die Schuld immer bei anderen zu suchen: in Brüssel, bei Angela Merkel oder im Neoliberalismus – gerade wie es beliebt. Diese Flucht aus der Verantwortung hätte beim flexiblen Euro-System ein Ende. Wenn sich Selbstverantwortung als Lebensmaxime im Alltag der Menschen bewährt, warum sollte sie dann nicht auch bei Staaten gelten?
Wenn ein Land jederzeit aus dem Euro ausscheiden kann, wird sich auch der ewige Eiertanz um die Einhaltung der Maastrichtkriterien erledigen. Die Kommission müsste nicht ständig tricksen, um den Regelverstoß eines Landes zu kaschieren. Die Tatsache, dass seit Jahren die Maastrichtkriterien nicht mehr eingehalten werden und die Kommission dazu ihr Ja und Amen sagt, hat nicht unerheblich zum Vertrauensverlust gegenüber der EU-Kommission beigetragen.
Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat in einem SPIEGEL-Interview etwas Kluges gesagt: „Europa kann nie eine demokratische Konstruktion werden, weder als Föderation noch als Union. Zu vieles trennt uns. Es gibt keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Öffentlichkeit, keine wirkliche Identität.“(Heft 25 / 2016) Er werde aber, wenn sich Europa zu einem lockeren Staatenbund zurückentwickelt hat, weiterhin mit Genuss Thomas Mann lesen, wie das die (gebildeten) Europäer schon immer getan haben – auch vor der EU.
peeka: ‚Interessant, “blonder Hans”, dass Sie ganz nebenbei die Sowjetunion posthum zum demokratischen Staat erklären.
Ansonsten fragt sich doch lediglich, bei wem die Mehrheit zu bekommen ist.
Warum haben denn ausgerechnet Frankreich und Spanien Bedenken bei der unmittelbaren Aufnahme von Schottland?
Und wer soll denn Ihrer Ansicht nach bestimmen, ob das Baskenland, Korika oder Katalonien autonom werden sollen?‘
… ‚peeka‘, *rofl*, die Sowjetunion mag in Ihren Projektionen ein ‚demokratischer Staat‘ gewesen sein, ich habe das nie behauptet. Ich behaupte auch nicht, dass die EU eine demokratische Institution ist. Im Gegenteil. Selbst die ‚BRD‘ halte ich nicht für einen demokratischen Staat. Daher! u.a..
… nicht mal das Grundgesetzes ist ‚Volkswille‘, es ist ein ‚Produkt‘ der westalliierten Besatzungsmächte aus dem Deutschland der ’40er Jahre. Das GG ist weder vom deutschen Volk verabschiedet noch ratifiziert worden.
… und ‚peeka‘, was Basken, Katalanen, …, Inuit, Hotten-Totten, Buschmänner, …, oder auch Serben 😉 selbstbestimmt meinen, ist Sache der Basken, Katalanen, …, Inuit, Hotten-Totten, Buschmänner, …, oder auch Serben. Zum Beispiel.
Das nennt man Selbstbestimmungsrecht der Völker und das ist ein Grundrecht im Völkerrecht.
Lieber Oleander, nun habe ich ein paar Splitter im Auge der transatlantischen Brüder ausgemacht (die unseren Balken im Auge wesensgleich sind) und Sie kommen mir mit TTIP, CETA. Der Utilitarismus der oberflächlichen Amis macht mir viel weniger Sorgen, als unserer tiefgründlicher, denn dort koexistiert er weitgehend friedlich mit den Kontrapunkten der religiösen Parallelgesellschaften. Aber wenn der Deutsche das volle utilitaristische Programm von seinen kantischen Vulgäratheisten mal so richtig durchorganisieren lässt, bleibt dem selbstbestimmten Individuum zwischen Nanny-Staat, Stamokap, Klimapädagogik, Sterbehilfe und Abgabenlast bestimmt keine Luft zum Atmen mehr (Polemik kann ich auch).
Aber reden wir von VW: Es handelt sich hier keineswegs um ‚unsere‘ Firma, sondern um einen internationalen Konzern mit milliardenschweren dynastischem Investoren, der hier besonders gehätschelt wird, dabei stockautoritär und hierarchisch seine Ingenieure und Manager an der Kandarre hat, seinen Betriebsrat mit Prostituierten ruhigstellt und im Zweifelsfalle seine Mitarbeiter ins Messer laufen lässt. Da wurde ein Ignacio Lopez eingestellt um nicht nur als sog. ‚Sanierer‘ Angst und Schrecken unter den Zulieferern zu verbreiten, sondern auch zwecks Industriespionage. Diese Fa. die trotzdem hervorragende Motoren und Autos baut, aber gefangen von Renditegier ihrer Eliten alles verspielt und meint, in seiner Überheblichkeit eine der kompetentesten Umweltbehörden der Welt hinters Licht führen zu können. Dabei wäre die Lösung mit dem Harnstoff möglich und machbar gewesen. Nun ist der Diesel tot – wg. Gier einiger Akteure und Gehorsam der Ingenieure – und wir bekommen mit dem Batterieauto Technologie des 19 Jh.
USA-bashing diente hierzulande nie einem anderen Zweck, als die Angst der kleinen Leute zu schüren: Ihr habt es ja soo gut hier mit euren Familienunternehmern, die sich teilweise wie feudalistische Landvögte aufspielen. Und dazu, lieber Oleander, fiele mir noch seitenweise was zu ein (ich verschone Sie damit) aber die Linken, die Rechten, die ‚Querfront‘, die ‚Brexit‘-Protagonisten, die Anti-TTIP-Demonstranten, die AfD, Pegida und Marine-Le-Pen, alle sind nützliche Idioten von genau den Leuten, die in den 80ern, 90ern unserer Arbeitsplätze und unserer Industriekompetenz für schnelle Rendite verhökert haben und die merkwürdigerweise immer noch Respekt hier genießen: Es sind unsere eigenen Leute. Und sie sind nicht nur nützliche Idioten: Wenn sie auch nur eine Spur Ehre im Leib hätten, würden sie für die Interessen der Leute, die ihnen zujubeln tatsächlich eintreten und die Akteure von Deindustrialisierung und Arbeitsplatzabbau beim Namen nennen, statt Politik auf Kosten der Schwächsten der Schwachen – der Flüchtlinge – zu machen.
Und: Warum sollen US-Unternehmen ihre „Küchen, Kühlschränke, Computer, Achtzylinder, Ahornsyrup, ihren besten Wein, Jeep(s)“ nicht hier verkaufen wollen? Ich freu‘ mich drauf: ich mag den style.