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Arabischer Frühling: zum Winter erstarrt

„Ihr lacht wohl über den Träumer,
Der Blumen im Winter sah?“

(Wilhelm Müller: „Winterreise“)

 

Als im Dezember 2010 in Tunesien lokale Proteste gegen die schlechten Lebensbedingungen und die Perspektivlosigkeit der Jugend ausbrachen, nahmen westliche Beobachter davon noch kaum Notiz. Wenige Monate später sollte sich das ändern. Denn die Proteste wuchsen sich zu einem Volksaufstand gegen die autoritäre Regierung des Präsidenten Ben Ali aus. Gleichzeitig verbreitete er sich wie ein Flächenbrand im ganzen Maghreb und führte zum Sturz der Präsidenten Ägyptens, Mubarak, und Jemens, Salih. In Libyen mündete der Aufstand in einen Bürgerkrieg, der durch eine NATO-Intervention zugunsten der Opposition entschieden wurde. Der Diktator Gaddafi wurde von aufständischen Milizen gelyncht. Ein ähnliches Szenario entfaltete sich in Syrien. Als der Diktator Assad die moderaten Proteste oppositioneller Gruppen mit Gewalt unterdrücken ließ, radikalisierte sich der Protest, in den sich bald auch benachbarte Mächte (Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Libanon) einmischten. Der Bürgerkrieg dauert nun schon länger als vier Jahre an und hat mehr als 250.000 Menschen das Leben gekostet. Ein Viertel der syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht. Inzwischen ist das Land zum Spielball ausländischer Mächte geworden, die entweder Assad stützen (Iran, Russland, Hisbollah) oder ihn stürzen wollen (Türkei, Saudi-Arabien). Gleichzeitig hat die radikale Terrororganisation „Islamischer Staat“ große Teile des Landes besetzt und ein mittelalterlich anmutendes Kalifat errichtet, in dem die Scharia in ihrer brutalsten Form gilt. In seinem Herrschaftsgebiet hat der „IS“ eine brutale Kulturzerstörung ins Werk gesetzt.

Fünf Jahre nach Ausbruch der „Arabellion“, wie die Aufstands-Bewegung auch genannt wird, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Hat der Aufstand wirklich die historische Zäsur bewirkt, von der Geschichtswissenschaftler euphorisch sprachen? Maßstab kann allein das ursprüngliche Ziel des Aufstandes sein: der Wunsch nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung und einer ökonomischen Entwicklung, an der das ganze Volk partizipiert. Legt man diese Maßstäbe an, muss man feststellen, dass der Aufstand – Tunesien ausgenommen – auf ganzer Linie gescheitert ist. Ja, er hat vieles zum Schlechteren verändert, statt die Tür für eine moderne Entwicklung zu öffnen.

Ohne den Zerfall Syriens und die fragile Staatlichkeit im Irak wäre der „Islamische Staat“ nie entstanden. Ohne den Bürgerkrieg in Syrien wären die Flüchtlingsströme, die in erster Linie die Anrainer-Staaten Türkei, Libanon und Jordanien heimsuchen, sich inzwischen aber auch nach Europa ergießen, nie entstanden. Und – das sollte doch das wichtigste Kriterium sein -: Hunderttausende Menschen, die in den Bürgerkriegen ihr Leben gelassen haben, wären heute noch am Leben.

Der syrische Bürgerkrieg hat durch das militärische Eingreifen Russlands eine neue Dimension gewonnen. Der Krieg wird noch weiter eskalieren, weil sich die Kontrahenten Assads – die Türkei und Saudi-Arabien – dadurch herausgefordert fühlen müssen und ihrerseits die Unterstützung der bewaffneten Opposition verstärken werden. Die Bombardements der Russen, die überwiegend den Stellungen der Opposition gelten, haben nach Schätzung des UNHCR neuerlich 120.000 Menschen in die Flucht getrieben.

Legt man das Demokratie-Kriterium an, ist die Bilanz des „Arabischen Frühlings“ ebenfalls negativ. Nur Tunesien hat es geschafft, ein Staatswesen aufzubauen, das unserer Demokratievorstellung ziemlich nahe kommt. Es wurde auch schon in weitgehend friedlich verlaufenen freien Wahlen erprobt. In den anderen Staaten, die von der arabischen Rebellion heimgesucht wurden, haben sich entweder Militärdiktaturen etabliert (Ägypten) oder kämpfen lokale Milizen gegen eine schwache Zentralregierung und um die nationalen Ressourcen (Libyen). Im Jemen tragen Saudi-Arabien und Iran einen Stellvertreterkrieg aus, indem sie ethnische Gruppen gegeneinander hetzen und deren Milizen bewaffnen. Von Demokratie, Menschenrechten, vor allem Meinungs- und Religionsfreiheit kann nirgendwo die Rede sein.

Man muss es klar sagen: Der Keim der Demokratie, den die ursprünglichen Proteste in sich bargen, ist nicht aufgegangen. Er wurde durch die politische und militärische Radikalisierung des Protests zertreten, die zugleich eine islamische Radikalisierung war. Überall trat der zuvor unerhebliche Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten hervor. Der zivilgesellschaftliche Protest gut ausgebildeter demokratisch gesinnter junger Menschen („Facebook-Revolte“) hatte angesichts der wilden Entfesselung totalitärer gesellschaftlicher Kräfte – z. B. der Muslim-Bruderschaft in Ägypten – keine Chance.

An dem fulminanten Ausbruch religiös begründeter Gewalt kann man eine Gesetzmäßigkeit ablesen, die man auch schon beim Zusammenbruch des Kommunismus in Ost-Europa studieren konnte. Wenn der rigide staatliche Zwang weicht, brechen sich die Strömungen Bahn, die über Jahrzehnte im Geheimen schlummerten, aber nie gänzlich erloschen waren. Im Süden der Sowjetunion erwachten religiöse Identitäten (Tschetschenien, Dagestan), in den baltischen Staaten und in Polen und Ungarn nationale. Die Ukraine erlebt gegenwärtig genau dieses Szenario. In Jugoslawien brachen heftige ethnische Konflikte aus, die schließlich in einen offenen Krieg mündeten. Es wird noch Jahre dauern, bis die ehemals verfeindeten Balkan-Völker unter der moderierenden Regie der EU zu halbwegs friedlichen Nachbarn werden.

In Arabien fehlt diese Moderation. Keine außenstehende Macht könnte sie glaubhaft, vor allem aber wirksam leisten. Die Konflikte sind in einer Weise religiös aufgeladen, die wenig Aussicht auf eine friedliche Beilegung aufkommen lässt. Ernüchternd muss man feststellen, dass alle arabischen Gesellschaften (Ausnahme wiederum Tunesien) noch nicht reif waren für den demokratischen Prozess. Demokratie ist mehr als ein Regelwerk für Staatsaufbau und Regierungshandeln. Sie kann nur funktionieren, wenn sie von Menschen getragen wird, die die Demokratie auch dann akzeptieren, wenn ihnen aus der Politik der gewählten Regierung Nachteile erwachsen. Wie kleine Kinder lernen müssen, beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel zu verlieren, ohne vor Wut die Figuren vom Brett zu fegen, so muss in der Demokratie vor allem die Niederlage gelernt werden. Dieser Lernprozess kann, wie wir in unserer eigenen Geschichte erfahren haben, Jahrzehnte dauern. Wer erinnert sich nicht an den Untergang der Weimarer Republik nach nur 15 Jahren fragiler Existenz. Wenn Historiker diese Übergangsstaatsform zwischen autoritärem Kaiserreich und brutaler Nazi-Diktatur als „Demokratie ohne Demokraten“ bezeichnen, hat das seine volle Berechtigung. Zu wenige Deutsche waren bereit, die Republik gegen die Verlockungen einer autoritären Herrschaftsform zu verteidigen. Das Urteil, die arabischen Staaten seien noch nicht reif für die Demokratie, ist kein Ausdruck eurozentrischer Überheblichkeit. Wir Deutsche haben doch selbst schmerzliches Lehrgeld dafür bezahlt, dass es uns beim ersten Versuch nicht gelungen ist, die Demokratie festzuhalten.

Wie könnte der weitere Weg der arabischen Staaten aussehen? Ich sehe nur den Weg   einer autoritären Zwischenlösung, möglichst in Form einer säkularen Diktatur. Prädestiniert für die Herrschaft ist in der Regel das Militär, das in allen arabischen Staaten einem religiösen Fanatismus abhold ist. Eine solche Erziehungsdiktatur müsste vor allem innere und äußere Sicherheit garantieren, die Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Prinzipien modernisieren und die Gesellschaft an das freie Spiel der Kräfte in demokratischen Wahlen gewöhnen. Demokratie gelingt immer dort, wo ein selbstbewusster Mittelstand eine funktionierende Zivilgesellschaft etabliert, die bereit ist, das „große Ganze“ gegen die Partikularinteressen einzelner Gruppen zu verteidigen. Zur Demokratie-Erziehung gehört vor allem auch die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols.

In der griechischen Antike nannte man eine solche autoritäre Herrschaftsform Aristokratie, die Herrschaft der Besten. Die griechischen Herrscher in der vorchristlichen Zeit – Drakon, Solon, Themistokles, Perikles – waren Adelige, die dem Volk in der städtischen Demokratie, der Polis, nur solche Mitwirkungsrechte gewährten, die mit dem System als Ganzem kompatibel waren. Vier Jahrhunderte lang funktionierte diese die unterschiedlichen Interessen klug austarierende Staatsform gut, bis sie dann Stück für Stück auseinander brach. Schuld am Niedergang waren nicht nur äußere Einflüsse, wie z.B. die Eroberung griechischer Regionen durch die Römer, sondern auch die innere Überdehnung der Demokratie. Aristoteles warnte schon im 4. Jahrhundert v. Chr. vor der „äußersten Demokratie“, womit er die Aushöhlung des demokratischen Konsenses durch radikal verfochtene Partikularinteressen meinte.

Das bürgerliche Zeitalter in Mitteleuropa knüpfte an die positiven Elemente der Polis-Demokratie an und entwickelte sie zur parlamentarischen Demokratie mit Gewaltenteilung und Menschenrechtsgarantie weiter. Zwischen den Ursprüngen in der Polis und der Vollendung in der Französischen Revolution sollten noch über 2000 Jahre vergehen. So lange werden die Araber wohl nicht warten müssen.

Alle, die an den „arabischen Frühling“ große Hoffnungen geknüpft haben (ich selbst eingeschlossen), sollten erkennen, dass ihre Euphorie keine reale gesellschaftliche Basis hatte. Vielleicht war diese Demokratie-Hoffnung nur eine Projektion unserer eigenen Sehnsucht auf einen Kulturraum, den wir jetzt erst – in der blutigen Krise – richtig kennen lernen.

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Ein Gedanke zu “Arabischer Frühling: zum Winter erstarrt

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    Naja, man könnte eine Vielzahl dieser Konflikte als Erbe der Entwicklungsdiktaturen sehen, als die ja fast alle irgendwie gestartet sind, die Monarchien ausgenommen. Baath Partei, Gaddafi, Ägypten – im Grunde kann man dort gerade das komplette Versagen der Entwicklungsdiktatur sehen. Die Folgen sind verheerend, nicht nur Politisch, gerade ökologisch/nachhaltig waren die alle nicht (Man-made-River in Libyen oder die Sümpfe Mesopotamiens, industrielle Verwüstung und ähnliches). Ich bin überzeugt, dass am Beginn der Diktaturen von Saddam, Nasser etc die gleichen Hoffnungen herrschten. Auch mit dem jungen Assad wurden Erwartungen verknüpft. Im Grunde ist der Trümmerhaufen, den wir beobachten, das Erbe der 50/60 Jahre Befreiungsbewegung mit anschließender Erziehungsdiktatur. Der Übergang von Diktatur zur Demokratie hat in manchen Gegenden mehr oder minder Funktioniert (in Süd Amerika mancherorts und in Süd Korea bestimmt), in den arabischen Ländern (außer Tunesien) eben nicht. Und jetzt, zurück auf Anfang?

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