Sarah Wagenknecht, die Stil-Ikone der LINKEN, tourt zur Zeit durch die Lande und unterhält ein bildungsbürgerlich geprägtes Publikum mit einer Goethe-Lektion. Dabei wendet sie eine Masche an, die sie schon bei der Vereinnahmung des Urvaters der westdeutschen Marktwirtschaft, Ludwig Ehrhard, für ihr sozialistisches Projekt praktiziert hat. Sie erklärt Goethe zum Antikapitalisten! Dabei beruft sie sich vor allem auf eine Passage im fünften Akt von „Faust II“. Dort entwickelt der alternde Faust (Goethe?) die Vision einer Landkultivierung für Millionen von Menschen, die von einer „kühn-emsige[n] Völkerschaft“ ins Werk gesetzt wird. Faust möchte Teil dieser tätigen Gemeinschaft sein: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn! / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“. Diese Textstelle hat schon die marxistische Literaturinterpretation der DDR für ihre Ideologie missbraucht. Sie hat in den Text das Bekenntnis Goethes zum schaffenden Volk, ja, zum Sozialismus (Stichwörter: „Volk“/“Gemeindrang“/“Völkerschaft“) hinein gelesen. Dabei hat sie die für den DDR-Sozialismus unangenehmen Textstellen schamlos umgedeutet. Allein viermal kommt in dieser Textpassage nämlich das Wort „frei“ bzw. „Freiheit“ vor. Von dem „freien Volk“, das Faust (Goethe) hier verherrlicht, kann in der DDR ja wohl kaum die Rede gewesen sein. Nach der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft haben Tausende „freier“ Bauern die Freiheit im Westen gesucht. Mich erinnert die dialektische Rabulistik, mit der die DDR-Ideologie mit dem Begriff der Freiheit umging, an den sarkastischen Ausspruch des polnischen Autors und Dissidenten Slawomir Mrozek: „Die wahre Freiheit findet man nur dort, wo es keine wirkliche Freiheit gibt.“
Faust und (mit ihm Goethe) nachträglich zum Sozialisten stilisieren zu wollen, ist eine grobe Fehlinterpretation des Faust-Stoffes, der ja nun erforscht ist wie kaum ein anderes Projekt Goethes. Diese Lesart widerspricht auch allen Lebenszeugnissen, die wir von diesem Dichter in Hülle und Fülle besitzen. Als er seine rebellische Sturm-und-Drang-Zeit abgelegt hatte – inzwischen war er in den Dienst des Herzogs von Weimar getreten – , entwickelte er sich zum konservativen, jeglicher Rebellion abholden Dichter. Sein Festhalten an der überkommenen Ordnung war sprichwörtlich, seine Ablehnung der Französischen Revolution unmissverständlich und radikal. Wenn er überhaupt ein politisches Programm vertrat, dann das einer friedlichen Evolution, einer Kooperation der Stände zum Wohle des ganzen Volkes.
Um Ludwig Erhard für den Sozialismus a la Sarah Wagenknecht zu reklamieren, muss man ihn seiner ökonomischen Kernaussagen berauben. Wagenknecht spricht von einer „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ (FAZ vom 115. 10. 2015). Wenn Worte überhaupt noch einen Sinn besitzen, kann das ja wohl nur heißen, dass sie einer Neuauflage staatlichen Eigentums das Wort redet, das dann die Marktwirtschaft gestalten soll. Aufguss der DDR-Ökonomie mit verbalen Girlanden geschmückt.
Erhard gilt als der Vater der Währungsreform vom 20. Juni 1948. Die Politik, die er damals verfolgte, galt selbst im eigenen poltischen Lager als zu marktradikal und war deshalb höchst umstritten: Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung von Gütern, Beendigung der Preisbindung. Beides führte zu massiven Preissteigerungen, als deren Konsequenz die Gewerkschaften im November 1948 den Generalstreik ausriefen. Erst als ein starkes Wirtschaftswachstum einsetzte, verstummte die Kritik. Wagte heute ein konservativer oder liberaler Politiker auch nur im Ansatz eine solche „neoliberale“ Rosskur, erntete er einen Sturm der Entrüstung der vereinigten Linken. Ehrhard wusste jedoch, dass nur ein solides marktwirtschaftliches Fundament (Kapitalismus) die Gewähr bot, dass sich „Wohlstand für alle“, wie sein erfolgreichstes Buch hieß, verwirklichen ließ.
Was steckt hinter der Taktik von Sarah Wagenknecht, deutsche Geistesgrößen, die man gemeinhin in der Mitte oder rechts davon verortet, für sich und ihre kommunistische Sache zu vereinnahmen? Sie weiß, dass das Projekt Sozialismus für lange Zeit „verbrannt“ ist. Zu erbärmlich ist seine ökonomische und soziale Bilanz, von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen. Dort, wo es in der Gegenwart Versuche der Neubelebung gegeben hat, sind sie kläglich versandet (Occupy-Bewegung), in Chaos und Gewalt versunken (Venezuela) oder an Inkompetenz gescheitert (Syriza). Auch den anderen Retro-Sozialismen wird es ähnlich ergehen (Podemos). Wagenknecht schmeißt sich an das Bildungsbürgertum heran, indem sie seine Ikonen gegen den Strich bürstet: Seht, im Grunde ist Goethe / Erhard (wer kommt als nächster?) einer von uns, zumindest jemand, den man für die Sache des „guten“ und „wahren“ Sozialismus nutzbar machen kann. Hat der reale Sozialismus sein hässliches Gesicht enthüllt, muss es der „wahre“ Sozialismus richten.
Beschämend finde ich, dass Sarah Wagenknecht mit dieser Masche tatsächlich Erfolg hat, zumindest auf der Ebene der Performance in den Glitzersälen der noblen Hotels. Macht sich wirklich keiner aus der ehrenwerten Gesellschaft, die ihr applaudiert, klar, dass dieses Rosa-Luxemburg-Double sich bis heute nicht glaubhaft vom Stalinismus distanziert und sich auch nicht ehrlich für die Opfer, die die Gewaltherrschaft der SED gekostet hat, entschuldigt hat. Wie die anderen Hardliner aus der Kommunistischen Plattform verharmlost sie die Verbrechen Stalins getreu dessen Motto: „Wo gehobelt wird, fallen Späne“. Vorbild einer solchen zynischen Haltung ist eine Figur aus „Dantons Tod“ von Georg Büchner: St. Just: „Soll überhaupt ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt der Menschheit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane und Wasserfluten gebraucht.“ Populär formuliert: Der gute Zweck heiligt die grausamen Mittel.
Man stelle sich vor, ein ehemaliges (gebildetes) NSDAP-Mitglied hätte nach 1945 eine Tour durch die Republik begonnen und Goethe-Lektionen – „Warum Goethe heute Nationalsozialist wäre“ – gehalten: völlig unvorstellbar! Der Partei, deren Vorgängerin die zweite Diktatur auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert verschuldet hat, lässt man vieles durchgehen. Sie hat es geschafft, sich von der Erbschaft einer Gewaltherrschaft reinzuwaschen, die ein ganzes Volk einem unmenschlichen Gesellschaftsexperiment unterzogen hat. Während man den Faschismus (zurecht) als per se menschenverachtend betrachtet, halten selbst humanistisch gesonnene Menschen aus dem Bildungsbürgertum dem Sozialismus/Kommunismus immer noch zugute, dass er „wenigstens das Gute gewollt“ habe. Ein Freispruch zweiter Klasse! Auf diesem Ticket kann Sarah Wagenknecht ihre peinlichen Goethe-Vorlesungen halten.
danke, für die lehrreiche und kluge Kritik am medialen
und vortragsreisenden Wirken der Pop Ikone und ab und
an guten Rednerin Sarah Wagenknecht. Ich muss zugeben,
ich war bei der Gründung der Grünen doch auch ein wenig
von meiner Faust und Goethelektüre beeinflusst,nur so,
dass ich Ende der 70ger Jahre daraus Kritik an blindem
Fortschrittsoptimismus und Naturbeherrschungswahn rausgelesen habe, gleichzeitig nun aber ne Menge
Gedichte von Goethe, ein wenig sein Leben kannte,Doch passierte es mir nach einem Vortrag zur weltweiten grünen Bewegung in Honolulu vor Professoren aus Indien und KOrea u,a,.dass man mich fragte,
ob meine Vorstellungen nicht viel mit Goethe zu tun hätten.Da fühlte ich mich erwischt und gerührt,denn immerhin verbanden die Zuhörer Deutschland noch mit Goethe und die Gründungsvisionen der Grünen, bevor
die K gruppen und andere Mängel die Grünen befielen,
auch noch ein wenig zumindest verwandt mit diesem
weiten Geist.Eva Quistorp
ihn also nur einmal bei einem Vortrag in Honolulu
für die Vision einer harmonischeren Welt vereinnahmt
habe,bzw die Zuhörer aus Honolulu und Indien und Korea