Alexis Tsipras, der Führer der linkspopulistischen Partei Syriza, hat das umstrittene Referendum zum 2. Rettungspaket der EU mit den pathetischen Worten verteidigt, seinem Land, der „Wiege der Demokratie“, müsse es erlaubt sein, in so wichtigen Angelegenheiten wie dem Schuldenstreit mit der Euro-Zone das Volk zu befragen. Kein vernünftiger Mensch wird dem griechischen Volk ein solches Votum verwehren wollen, wenn die Verfassung des Landes einen solchen Volksentscheid erlaubt. Allerdings müssen die Griechen dann auch mit den Folgen ihres Votums leben. Ob denen, die beim Volksentscheid mit Nein gestimmt haben, klar ist, was es bedeutet, wenn eine Athener Wandparole wahr wird: „Lieber hungrig als Sklaven“?
Vorsicht ist angebracht, wenn Staatsmänner die eigene Unwilligkeit, vielleicht auch Unfähigkeit, notwendige gesellschaftliche Reformen durchzuführen, mit hehren Worten und pathetischen Gesten kaschieren, oft auch mit patriotischen Girlanden. Ein Meister darin ist der französischen Präsident Hollande, der sich seit seinem Machtantritt dagegen sträubt, sein Land effektiv zu modernisieren, und dies damit begründet, in Frankreich sei seit der Revolution von 1789 die „Egalité“ so in die Mentalität des Volkes eingebrannt, dass er das französischen Sozialmodell (das inzwischen unbezahlbar geworden ist) nicht preisgeben könne. Ähnlich verhält es sich mit der Beschwörung des demokratischen Erstgeburtsrechts durch Alexis Tsipras, die den Unwillen der Links- und Rechtspopulisten in der Regierung kaschiert, mit dem Krebsübel des Klientelismus in der griechischen Politik zu brechen.
Der zurückgetretene Finanzminister Giannis Varoufakis verabschiedete sich mit einer besonders schäbigen demagogischen Volte von der politischen Bühne. In sein pompöses Rücktrittsschreiben schrieb er den Satz: „Ein kleines Volk hat sich gegen die Schuldknechtschaft erhoben.“ – Jedes Schulkind in Griechenland kennt den Herrscher Solon (640-560 v. Chr.) und seine bahnbrechende Sozialreform. Er verbot die Schuldknechtschaft, die arme Bauern in die Versklavung geführt hatte. Kein Mensch, der seinen Verstand beisammen hat, käme auf die Idee, die Jahrzehnte lang andauernde Alimentierung Griechenlands (inklusive Schuldenschnitt von 50%) durch die EU mit „Schuldknechtschaft“ gleichzusetzen. Uns Deutsche erinnert die Demagogie des Ex-Ministers an die Dolchstoßlegende und die Versailles-Hetze, die von den Nationalkonservativen und den Nationalsozialisten zu Beginn der Weimarer Republik zur Aufwiegelung des Volkes gegen das „System“ benutzt wurden.
Wie steht es nun um die griechische „Wiege der Demokratie“? Die Griechen haben die Demokratie tatsächlich „erfunden“. Allerdings nur in einem kleinen Teil des Landes, in Attika, also der Stadt Athen und dem umliegenden Land. In Sparta, dem Rivalen Athens, herrschte eine rigide Militärdiktatur, die alle gesellschaftlichen Bereiche dem Ziel der Wehrertüchtigung unterordnete. Auch die Demokratie in der attischen Polis hatte gravierende Schönheitsfehler: Sie galt nur für freie Männer, also nicht für Frauen, Fremde und Sklaven.
Was machte die demokratischen Anfänge in Athen so bemerkenswert? Im 6. Jahrhundert vor Christus führte Kleisthenes die Bestallung der Beamten durch das Losverfahren ein. Aus der Volksversammlung heraus konnten jetzt auch Menschen ohne Bildung und ohne Beziehungen zu den „wichtigen“ Familien Athens zu Beamten oder Richtern ernannt werden. Um Vetternwirtschaft zu vorzubeugen, betrug jede Amtszeit nur ein Jahr. Am Ende des Jahres musste der Beamte vor der Volksversammlung öffentlich Rechenschaft ablegen. Wichtigstes Kriterium war, ob er sein Amt zum Wohle der Allgemeinheit, der Polis (Stadtgesellschaft), ausgeübt hatte. Der Areopag, eine Art von Aufsichtsgremium, besetzt mit „Elder Statesmen“, wachte über alle Amtshandlungen der Beamten, um sicher zu stellen, dass sie nicht in die eigene Tasche wirtschafteten und so dem Gemeinwesen schadeten. In Athen gab es noch ein anderes, sehr wirksames Instrument gegen Politiker, die das Gemeinwesen für egoistische Interessen missbrauchten: das Scherbengericht. Die Bürger hatten das Recht, den Namen eines unliebsamen Herrschers oder Beamten in eine Tonscherbe zu ritzen. Wenn auf der Volksversammlung gegen den Angeschuldigten 6000 Stimmen zustande kamen, wurde er für zehn Jahre aus der Stadt verbannt. Man muss zugeben: Dies war ein starker demokratischer Beginn. Vierhundert Jahre später war der kurze Frühling der Demokratie allerdings schon wieder zu Ende.
Im 2. Jahrhundert vor Christus wurde Griechenland als Provinz in das römische Imperium eingegliedert. Im 4. Jahrhundert fiel es nach der Reichsteilung an den Kaiser von Byzanz. Im 14./15. Jahrhundert wurde Griechenland dem Osmanischen Reich einverleibt, wo es bis zur Freiheitsrevolution 1830 verblieb. Fast zweitausend Jahre lang gab es keine freien Bürger mehr, sondern nur noch Untertanen fremder (despotischer) Herrscher. In dieser Zeit wurde die feindselige Haltung der griechischen Bürger gegenüber dem Staat geprägt, die bis heute fortdauert – Steuerverweigerung inklusive.
Überschaut man die griechische Geschichte über den langen Zeitraum von 3000 Jahren, so gab es nur ein kleines „demokratisches Fenster“ [etwa von Kleisthenes (508-507 vor Chr.) bis Perikles (443-428 vor Chr.)] – aber viel Despotie, Unterdrückung und Fremdherrschaft. Der blutige Bürgerkrieg zwischen 1945 und 1949 und die Errichtung einer rechten Militärdiktatur 1967 waren nur möglich, weil Griechenland gerade nicht über eine gefestigte demokratische Kultur verfügte. Die demokratischen Anfänge in der Zeit der „klassischen Antike“ waren längst verschüttet. Gegen totalitäre Herrschaftsformen konnten sie die griechische Gesellschaft nicht mehr immunisieren.
Vergleicht man die radikaldemokratischen Anfänge der griechischen Demokratie mit dem heutigen Zustand des Staatwesens, kann man unschwer erkennen, dass er meilenweit von der Gemeinwohlorientierung aus der demokratischen Blütezeit entfernt ist. Alle Parteien, die in Griechenland seit dem Zusammenbruch der Militärdiktatur im Jahre 1974 an der Macht waren, betrachteten den Staat als Beute. Das Wahlvolk hielten sie sich dadurch gewogen, dass sie ihre jeweilige Klientel mit finanziellen Zuwendungen und lukrativen Staatsposten belohnten. Zum Vergleich: In Griechenland arbeitet jeder vierte Bürger beim Staat, in Deutschland jeder zwölfte. Von allen Regierungen wurde den Reichen nachgesehen, dass sie keine Steuern bezahlen, wenn sie nur für die politischen Parteien spenden. Auch Tsipras machte hier mit seiner linken Syriza-Partei keine Ausnahme. Die Kultur der Ehrlichkeit, die er im Wahlkampf versprach, galt nur für seine politischen Gegner und deren Anhänger. Die eigene Klientel wurde sofort nach Machtantritt im Februar 2015 üppig bedient: selbstverständlich mit Staatsposten. Viele Syrzia-Politiker stellten nach dem Wahlsieg ihre Verwandten als „Berater“ in den Staatsdienst ein – Vetternwirtschaft, wie sie im Buche steht.
Das Pathos, das Tsipras mit seinem Verweis auf die „Wiege der Demokratie“ entfaltete, ist verlogen. Das heutige Staatswesen in Griechenland erfüllt auch nicht annähernd die Standards der demokratischen Ur-Zeit, geschweige denn die der Partner in der Europäischen Union. Gemeinwohlorientierung der Verwaltung, öffentliche Rechenschaftspflicht der Amtsträger, Absetzung bei missbräuchlicher Amtstätigkeit – all dies mutet an wie Botschaften von einem fremden Stern.
Wenn Griechenland zu den demokratischen Staaten der Europäischen Union aufschließen will, sollte es sich an den Tugenden des eigenen demokratischen Anfangs orientieren. Der Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat das Motto vorgegeben: „Das oberste Ziel der Gemeinschaft ist somit das Gemeinwohl, in welchem sich die Gerechtigkeit verwirklicht und in welchem die menschliche Natur vollendet wird. Die beste menschliche Ordnung ist zu erkennen, inwieweit sie das politisch Gute – das Gemeinwohl – gewährleistet.“ (Aristoteles, „Politeia“)
Also, Alexis Tsipras: Alles zurück auf Anfang!
Lieber Herr Werner,
Sie haben natürlich vollkommen Recht mit Ihrem historischen Exkurs.
Allerdings ist Griechenland seit 1981 Mitglied in der EG/EU. Seit dieser Zeit ist das Land mit Geld das andere Länder (bzw. deren Steuerzahler)verschenkt haben regelrecht überschwemmt worden.
Damals entsprach das Land in seinen Verwaltungsstrukturen einem Land der Dritten Welt, um es nach der Militärdiktatur zu stabilisieren sah man darüber hinweg und nahm es dennoch auf.
Nach 34 Jahren in der EU hat das Land immer noch keine Verwaltungsstrukturen wie ein entwickeltes europäisches Land, durch das viele Geld seit 1981 ist es wahrscheinlich noch korrupter als damals.
Durch den irrsinnigen Euro-Beitritt hat sich der Geldfluß noch verstärkt, die griechischen Politiker konnten noch ungehemmter ihrem Klientelismus frönen.
Warum haben die deutschen Regierungen Schmidt (SPD/FDP), Kohl (CDU/FDP), Schröder (SPD/Grüne), Merkel (CDU/egal was)in all den Jahren die Geldzuwendungen nicht an Strukturreformen geknüpft ?
War ihnen der Kleinstaat egal solange nur die eurokratische Vision aufrechterhalten wurde ?
Die Finanzkrise 2010 hat das Problem nicht geschaffen, sondern nur das Dauerproblem seit 1981 offenkundig werden lassen. Aber der deutschen Regierung war Griechenland immer noch egal, Priorität hatte die Bankenrettung.
Ob die Griechen Tsipras gewählt haben weil sie endlich genug hatten von der korrupten Mischpoke oder weil sie ihm zutrauen daß er es schafft weiterhin Geld ins Land fließen zu lassen ist mir eigentlich egal.
Tsipras scheint aber zumindest eine Vorstellung davon zu haben was sein Ziel ist; damit unterscheidet er sich positiv von der Altparteien-Mischpoke, die in den meisten europäischen Ländern einschließlich dem Unseren regiert.
Es wurde doch gerade erst ein Volksentscheid durchgeführt. Den haben Sie im ersten Absatz ja sogar anerkannt. Was soll denn dann „Alles auf Anfang!“ bedeuten? Dass man das Ergebnis dieses Volksentscheides ignoriert? Oder dass man diesen Volksentscheid nun umsetzt? Die Antwort hängt davon ab, was man glaubt, was am „Anfang“ gewesen ist: Demokratie oder Autokratie. Auch das Problem am „Gemeinwohl“ ist, dass jeder etwas anderes darunter versteht.