Von Igor Mitchnik
Die Hölle bleiben die anderen: Wie die drei Haupt-Figuren in Jean-Paul Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“ leiden die Ungarn an der Gegenwart ihrer Mitmenschen. Die ungarischen Juden leiden am Mainstream-Antisemitismus. Die Roma und vor allem die Flüchtlinge im Land leiden an gesellschaftlicher Ablehnung und Rassismus. Und die restlichen Ungarn ertragen die Gegenwart der anderen drei Gruppen nicht.
Dieses Phänomen ist in Ungarn keineswegs neu und schon gar nicht erst in den letzten Jahren entstanden. „Anders“ durfte man bereits in der ungarischen Bauerngesellschaft der 1960er und 1970er Jahre nicht sein. Das lehrt die Mutter den Protagonisten des Buches „Die Mittellosen“ von Szilárd Borbély. „Sie riechen bei dem, der nicht so ist wie sie, den Fremdengeruch“, erklärt die Mutter. Wer auffällt, wird niedergemacht.
Mit dem Roman gelang es dem 49-jährigen ungarischen Autor, Dichter, Übersetzer und Literaturwissenschaftler, ein Stück Zeitgeschichte und – wie man Dank der Essays im Anhang des Romans weiß – ein Stück seiner eigenen Vergangenheit zu verewigen.
Durch den verfremdeten Blick eines kleinen Jungen zeigt sich die Zerrissenheit der verarmten ungarischen Dorfgemeinschaft – zwischen den rassistischen Resten der hitlerfreundlichen Horthy-Ära und dem real existierenden Sozialismus. Die Kinderaugen lügen nicht: schonungslos ehrlich, in kurzen, streckenweise staccato-haften Sätzen erzählt der Protagonist die Abgründe und Intrigen der Bauern. Sein Dorf stinkt, nach Kadavern, Menschen, Blut und Fäkalien.
Die detail-verliebten sprachlichen Bilder schmerzen beim Lesen: Sein Alltag ist gewaltdurchtränkt, wo nicht körperliche Gewalt herrscht, ist es verbale – wie Erniedrigung, Sexismus und sozialer Zwang. Die Blicke der anderen im Dorf, derjenigen, die aus purem Rassenhass den Roma „Messias“ verachten, ihn bespucken und zum Spaß beleidigen, lasten wie ein dunkler Schleier über dem Denken und Handeln des Ich-Erzählers und seiner Familie.
Durch seine Augen erkennt man auch diejenigen, die beschämt stumm blieben und wegguckten, als die Gendarmerie des Horthy-Regimes die Juden in den sicheren Tod deportierte. Man erkennt die, die nach der Deportation die Häuser plünderten. Nach der Ermordung von fast einer halben Million ungarischer Juden im Jahre 1944 verschwanden die Gendarmen und nach ihnen auch die faschistischen Pfeilkreuzler – der Hass auf die Juden blieb im Dorf.
Borbély beschreibt das bedrückende Schweigen unmittelbar nach dem Holocaust – auch das der verbliebenen ungarischen Juden und derer, die als Juden gebrandmarkt werden. „Der Jude ist das schlechte Gewissen, und der Jude ist das Schuldbewusstsein, das sich nur durch Verachtung beschwichtigen lässt“, erzählt die Mutter dem jungen Protagonisten. Dem Juden Mózsi schmieren die Bewohner regelmäßig Schweinekot an die Eingangstür. Bevorzugt zum Shabbes, wenn er ihn nicht wegmachen darf.
Die Familiengeschichte väterlicherseits bleibt völlig im Vagen. Hat der Vater des Protagonisten nun einen jüdischen Vater oder nicht? Die Wahrheit spielt keine Rolle, wenn das Stigma schon steht: Im Dorf bleibt er ewig der uneheliche Jude. Denn „der Jude ist der, den alle hassen“, erklärt die Mutter immer wieder. „Den sie verstoßen, nur weil er Jude ist.“ Die Hauptfigur steigert sich in die Angst hinein. Man liest sie aus seinen rasenden Gedanken: „Ich erschrecke, wenn ich den Buchstaben J sehe.“
Angst hatte auch Borbély – um die Zukunft seiner Heimat. Aus den angehängten Essays geht hervor, dass er die Auswüchse der „illiberalen Demokratie“, wie sie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán letztes Jahr modellhaft beschwor, schon länger fürchtete. Viele Jahre litt Borbély an schweren Depressionen. Kurz nach der Veröffentlichung seines einzigen Romans brachte er sich dann im Februar 2014 um. In einer verzweifelten E-Mail schrieb er seiner deutschen Übersetzerin Heike Flemming bereits 2010: „Es ist hoffnungslos. Die Idee der Demokratie scheint zu sterben, und die Freiheit des Geistes ist etwas, womit man sich lächerlich macht.“
Dabei ist Streben nach Freiheit Dreh- und Angelpunkt der ungarischen Geschichte. Jeden März feiert das ganze Land den Aufstand gegen die Habsburger 1848, in dessen Zuge 1867 die Österreichisch-Ungarische Monarchie entstand. Keine Rede Orbáns ans Volk kommt an diesem Tag ohne die Verse des Nationaldichters und Volkshelden Sándor Petőfi aus, der während des Aufstandes ’48 an vorderster Front kämpfte. Der Personenkult um Petőfi blieb auch im Kommunismus bestehen. „Die mittellosen“ Kommunisten rezitieren ihn bei einer Versammlung: „Sklaven waren wir bis heute, unsere Ahnen, freie Leute, die gelebt an freiem Herde, ruh’n verdammt in Sklavenerde.“
Die Angst wieder „versklavt“ zu werden, sei es nun vom Diktat der Europäischen Union oder anderen – im Zweifelsfall jüdisch-kapitalistischen – Mächten, ist bis heute tief in der ungarischen Gesellschaft verankert. Deswegen werden in Ungarn bis heute „andere“, die nicht als Ungarn zählen, angefeindet: Ob antisemitische Verschwörungstheorien, die von hochrangigen Politikern des Parlaments vorgebracht werden, der bis in die intellektuelle Mitte der Gesellschaft verbreitete Rassismus gegen Roma oder aktuell gegen Flüchtlinge aus „andersartigen Kulturen“.
In dieser Logik wirken die aktuellen Ereignisse eigentlich nur konsequent: Im Zuge der Flüchtlings-Debatte innerhalb der Europäischen Union „schützt“ sich Ungarn – das 1989 getrieben vom Freiheitsdrang als erstes Land den eisernen Vorhang einriss – bald mit einem vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien vor Flüchtlingen. Die ungarische Realität heute und das Buch wecken gleichermaßen die Sorge, dass in Ungarn – wie in „Geschlossene Gesellschaft“ – auf ewig zu gelten scheint: „Die Hölle, das sind die anderen“.
Szilárd Borbély: „Die Mittellosen“, deutsch von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Suhrkamp 2014, 350 Seiten, 24,95 Euro
Igor Mitchnik ist freier Autor. Er wurde 1991 in Sankt Petersburg geboren und wuchs in Berlin auf. Mitchnik studierte Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Budapest
es muss „175 km“ langer Zaun heißen