Wenn Sie das lesen, bin ich in Israel. Sie entschuldigen also, wenn ich keine aktuelle Betrachtung anstelle, etwa über die Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen, sondern ein Vorkommnis beschreibe, das länger zurückliegt: einen Brief dem Jahr 1963, um es genau zu sagen.
Unter den nachgelassenen Papieren meines Schwiegervaters fanden wir ein Schreiben der „Heimatauskunftstelle Polen I Bereich Lodz (Litzmannstadt)“ beim Landesausgleichsamt NRW.
Es ging um die Entschädigungsansprüche eines 1958 in Los Angeles verstorbenen Mann namens Louis Lawrence, geboren 1886 als Ludwig Luchtenstein.
Dessen Erben hatten geltend gemacht, dass Luchtenstein Eigentümer eines später als Kaserne genutzten Gebäudekomplexes in Plock (Schröttersburg) gewesen und 1939/40, also nach der Annexion des Gebiets durch Deutschland, „aus Rasseverfolgungsgründen“ enteignet worden sei. Das Landesausgleichsamt sah den Anspruch skeptisch, was auch sein gutes Recht war, und fragte nun bei meinem Schwiegervater an, der als Stadtoberinspektor aus Berlin abgeordnet worden war und die Stadtkasse in Schröttersburg unter sich gehabt hatte.
Als Vertreter des Amts fragte ein Dipl-Kfm. Lieske:
„1. Stimmen die Angaben, dass Luchtenstein seit 1927 Alleineigentümer der erwähnten Militärkasernen war und diese ihm erst durch Enteignung 1939/40 entzogen worden sind?“ (Eine legitime Frage, wenngleich man sich fragen kann, was der Verwalter der Stadtkasse darüber gewusst haben könnte. Dafür gibt’s Grundbücher.)
„2. Ist Ihnen etwas darüber bekannt, auf welcher Grundlage es möglich gewesen ist, dass Luchtenstein Alleineigentümer von Objekten militärischen Charakters war?“
(Siehe oben. Polnische Wirtschaft? Aber jetzt kommt’s.)
„3. Ist Ihnen bekannt, ob Luchtenstein sich zum deutschen Volkstum bekannte, d.h. indem er vor dem Kriege“ – da das Gebiet des späteren „Warthegaus“ zu Polen gehörte – „stets das Bewusstsein und den Willen erkennen ließ, stets Deutscher zu sein und keinem anderen Volke anzugehören?“
(Oder hat er sich gar mit den polnischen Okkupanten gemein gemacht? Wie man es von Juden so kennt. Denn achtgegeben:)
„4. Galt die Familie Luchtenstein etwa als Mitglied der jüdischen Minderheit oder gehörte sie zur deutschen Minderheit in Polen?“
(Schließt sich natürlich aus. Deutsche sollen – selbst wenn sie Juden sind – entschädigt werden. Juden, die sich nicht seit 1918 zum deutschen Volkstum bekannten, nicht. Aber wie entscheidet man das? Nun, folgendermaßen:)
„5. Ist Ihnen bekannt, wie im Familienkreis gesprochen wurde? (Polnisch, jiddisch oder deutsch, wobei ich darauf aufmerksam mache, dass der jiddische Jargon nicht mit der deutschen Sprache verwechselt werden darf.)“
(Wäre ja noch schöner, einen jüdischen Jargon mit einer echten Sprache zu verwechseln.)
„6. Wer könnte zu diesen Fragen noch Auskunft erteilen?“
Die Auskunft meines Schwiegervaters hat sich nicht erhalten. Er wird vermutlich Nichtwissen angegeben haben, vermutlich zu Recht. Darum geht es mir nicht. Mir geht es um die Geisteshaltung, die noch 1963 in westdeutschen Ämtern vorherrschte, und nicht nur in irgendwelchen Ämtern, sondern in Ämtern, die neben der Entschädigung deutscher Vertriebener (darunter auch meiner Schwiegereltern) für erlittene Verluste im Osten auch mit der so genannten Wiedergutmachung befasst waren.
Wir haben hier über die Begriffe „Volk“ und so weiter diskutiert. Vielleicht erhellt aus diesem Schreiben, zufällig aufgefunden, aber einer von Tausenden, warum ich gegen den Begriff eine solche Abneigung empfinde.
@ Stevanovic
Umso besser, wenn es auch ohne deutsche Familienaufstellung funktionieren würde. Ich wollte nur darauf hinaus, dass es durchaus Alternativen zu dem „alternativlosen“ Status quo gibt. Und die deutsche Wiedergutmachung hat gezeigt, dass sie trotz solcher Beispiele, auf die Posener hinwies, letzlich funktioniert hat. Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg ist steinig und schwar … Was die von Ihnen angeregte deutsche finanzielle Beteiligung angeht, wäre ich prinzipiell dafür, dass jedes Volk für seine Sünden bezahlt. Aber Sie können beruhigt sein: Deutschland wird sich – egal über welche Sondersteuer – beteiligen.
@Rotgardist
Technisch kann ich mir eine Variante mit Entschädigung vorstellen, auch eine Geste der Versöhnung. So wie sie das beschreiben klingt das aber nicht nach einem Friedensplan, sondern eher nach einer deutschen Familienaufstellung. Wäre fair, wenn sich Deutschland dann wenigstens über die Ausländermaut finanziell daran beteiligen würde.
Unübersehbar, dass ich zuweilen über die Rechtschreibregeln stolpere, insbesondere dabei das scharfe Eß und EssEss vertausche. Danke für die Belehrung; ich werde in Zukunft meine Kommentare überprüfen, bevor ich sie abschicke. Wenn Ihnen die Indizien reichen, „Rotgardist“ mit Ihrem „lieben Othmar Kaufmann“ zu identifizieren, nun gut; vielleicht sind Sie dabei etwas zu obsessiv, der gute Mann scheint so etwas wie Ihr Dr. Moriarty zu sein, den Sie zur Strecke bringen wollen. Vielleicht ist „Rotgardist“ das Alter Ego von „Dr. Holberg“, den Sie auch gerne enttarnen würden.
Zur Sache: Es ist ja signifikant, dass Sie in Israel über Recht und Unrecht in Bezug auf „Volk“ und „Land“ meditieren und dabei an einen 50 Jahre alten deutschen Casus erinnern. Ich könnte verstehen, dass Sie die Fragestellung in Bezug auf Israel für ein zu heißes Eisen halten, das Sie nicht direkt anfassen wollen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, scheinen Sie meine Frage „Werden diese Rechtfragen unter “völkischen” Gesichtspunkten diskutiert?“ bejaht zu haben: „Kurzantwort, “Rotgardist”: ja.“ Sie geben mir zu merken auf „Jede Nation muss für sich das Verhältnis zwischen Blut und Boden – Genen und Kataster – “Volk” und “Land” klären.“ – ich darf doch davon ausgehen, dass eine an völkischen Kriterien orientierte „rechtliche“ Behandlung, die damals in Deutschland für Sie Unrecht und darüber hinaus inhuman war, jetzt in Israel nicht Recht ist? Aus Ihrer Erwiderung an „Dr. Holberg“ v. 22. September schließe ich, dass Sie in dieser Frage die Behandlung der Palästinenser (bzw. „Araber“) durch die Juden für Unrecht halten. Sie plädieren dafür, dass eine Lösung für die „Menschen in Israel“, die Sie lieben, gefunden werden müsse, aber ich vermute, Sie halten die Lage für zu verfahren, um an eine politische Lösung zu glauben. Status quo aus Defätismus. Der springende Punkt dürfte ja das „Recht auf Rückkehr“ der Palästinenser sein. Was meinen Sie, bei all dem, was bei der deutschen „Wiedergutmachung“ zu kritisieren war, war sie doch ein Verfahren, in dem Unrecht zwar nicht „wiedergutgemacht“ werden konnte, jedoch als Unrecht anerkannt wurde und eine Verrechnung vereinbart wurde. Vielleicht ein Vorbild für die „Wiedergutmachung“ des Unrechts, das den Arabern angetan wurde? Was meinen Sie zu dem Vorschlag: im Zuge und in der Folge des Unabhängigkeitskrieges bzw. der Naqba wurden ca. 600.000 Araber in Palästina von ihrem Grund und Boden vertrieben, den sich die Israelis bisher entschädigungslos angeeignet haben. Israel anerkennt dieses Unrecht, wie Deutschland sein Unrecht an den Juden anerkannt hat. Bei einer Schätzung des damaligen Verkehrswert arabischen Eigentums von ca. 10.000 $ bei ca. 100.000 Familien und einer Verzinsung von 3% seit 1947 wären 2017 (im 70. Jahr seit der Naqba) pi x Daumen 80 Mrd. $ zu entschädigen, pro Familie 800.000. Wollen Sie diesen Vorschlag nicht mal ventilieren? Das ist doch machbar; die Fed und die EZB schöpfen ja Geld aus Nichts, warum nicht auch die israelische Nationalbank? Eine flankierende Maßnahme könnte sein, dass man auf die Ortschildern die alten arabischen Ortsnamen schreibt und an alten arabischen Häusern Schilder mit den Namen der ehemaligen Eigentümer anbringt.
@ Alan Posener
Blödsinn.
Lyoner: „Mit Franziskus teile ich verschiedene Vorlieben: Tango hören, Jorge Luis Borges lesen, Fan eines bedeutenden Fußballclubs“…
http://starke-meinungen.de/blo.....ment-19900
Ich habe noch nie einen Grammatikfehler bei dem Mann gesehen, Schreibfehler höchstens aus Länge im Sinne von Flüchtigkeit.
Im Plural ß zu Doppel-S zu machen, kommt bei Älteren öfter vor. Alte Rechtschreibung vielleicht, die sich da einmengt. Dennoch könnte Ihre These stimmen. Nur die Begründung ist verkehrt, sehen Sie: „Fußball oder aus einer Pilzvergiftung ein Argument gegen die Pilzküche. Leider Gottes kommen Kopfstöße“…
Sie erkennen das am Stil und am mindset. Jeder kann das erkennen. Obsessionen sind absolut unverkennbar. Sie erkennen sofort das Gerüst. Ich kenne auch jemanden, der plötzlich versuchte, in alte ungute Gewohnheiten zurückzufallen. Es bekümmert mich ein wenig, dass wir uns so wenig ändern können, wir Menschen, einige Dinge durch Prägung wie verbacken sind in unserem Gehirn, dass man bei anderen auf einen Knopf drücken kann, und dann produziert man dieselbe alte Obsession, immer wieder neu.
Also geben Sie doch nicht den Broder, der selbst dem Melzer regelmäßig seine Pleonasmen aufzählte. Schreiben kann Lyoner schon, das ist nicht sein Fehler. Der Fehler liegt woanders. Man könnte das vermutlich mit PET messen. Ein Stichwort, und dann entsteht im Gehirn ein leuchtend roter Fleck wie „er sieht rot“. Kampfstiere kriegen den vermutlich auch.
@ Alan Posener
Guckma: http://www.achgut.com/dadgdx/i....._2000_2014
Jedes Mal werde ich von neuem verbittert: Die wurde 14 und unserer nur sechs. Der Bauer fragt, ob er eine tote Ratte gefressen hätte. „Alles hat der Arsch gefressen“, sage ich böse, Socken, Haarbänder, eine Magen-Op deswegen. Jetzt hat der arme Wicht sich vielleicht selbst umgebracht. Er hat uns alle so geliebt und wir ihn. Uns und alles Essbare. Drei Tage vor seinem Ableben klaute er eine 20 cm lange französische Salami, ganz still, in ca. zwei – drei Minuten, genau geplant. Es ist so still. Ständig schlug seine Rute irgendwo an, knock-knock, am Tisch, an Stühlen, an der Wand. Politik interessiert mich derzeit nicht, aber das kommt wieder. Wenn die wirklichen siebenfachen Blitzschläge passieren (Benjamin Button), von denen man sich mit Mühe erholt, findet man Politik extrem seicht. Achguts finanzielle Klage geht mir daher im Moment am A. vorbei, der Tierschutzverein München kann was haben. Apropos, man hat oft den Eindruck, dass Schreibtischtäter noch nie gelitten haben. Ich bin jetzt reif für ein paar gute jammernde Romanciers, aber nicht so Matratzenjünger kurz vorm Shrink wie Philip Roth. Thomas Mann, Herr und Hund eher.
Aber damit Sie was Politisches kriegen zum Ausgleich für die Klage: Kaufen Sie das aktuelle Heft „Foreign Affairs“. Exzellentes, langes, gut geschriebenes Elaborat von Mearsheimer, wie der Westen Russland provoziert. Sehr nüchtern. Sehr logisch. Ich hab’s an einem Flughafen aufgetan. Must-read, würde ich sagen.
Lieber Othmar Kaufmann, nun „Rotgardist“: Ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Rechtschreibung verraten Sie:
Kopfstösse (falsch) und Kopfstöße (richtig)
Fußball (richtig) und Fussball 8falsch)
Mißbrauch (falsch)
Merke:
Nach langem Vokal (Fuuußball): ß
Nach kurzem Vokal (Missbrauch ist zwar mies, aber dennoch): ss
Merke auch: Jede Nation muss für sich das Verhältnis zwischen Blut und Boden – Genen und Kataster – „Volk“ und „Land“ klären. Deutschland, noch vor zwanzig Jahren „kein Einwanderungsland“, also dem Staatsvolk vorbehalten, ist auf einem guten Weg, meine ich. Aber selbst in einigen anderen EU-Ländern, von den Ländern des Nahen Ostens einmal ganz zu schweigen, herrschen andere Auffassungen, die übrigens bis Mitte des letzten Jahrhunderts weitgehend (außer in den USA) Konsens waren und den Beschlüssen etwa der Vereinten Nationen zugrunde lagen.
Tja, die 68er haben doch was positives bewirkt.,
Verehrter Herr Posener,
was solche Altnazibeamten in der frühen Nachkriegsbundesrepublik für widerliches Zeug fabriziert haben schlägt eine so übel ins Gesicht, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, was Ihr Schwiegervater, die Erben Luchtensteins und andere Betroffene empfunden haben müssen, wenn Sie solche „Briefe“ so kurz nach dem Holocaust in den Händen hielten.
Das verschlägt mir wirklich die Sprache. Mir fällt dazu nichts mehr ein.
Das einzige was da noch passen könnte wäre das bekannte Zitat von Max Liebermann:
„Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte.“[
Hier unter der Überschrift: ‚Zeit des Nationalsozialismus‘ nachzulesen
http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Liebermann
Dass der Ungeist in deutschen Amtsstuben – zumal 1963, als noch viele aus dem alten Beamtenapparat in Amt und Würden waren – herrschte, oder wie Sie meinen, vorherrschte, das ist Gemeingut. Ihre Aversion in allen Ehren – aus diesem „völkischen“ Verständnis ein Argument gegen „Volk“ zu gewinnen, das kommt mir in etwa so vor, als ob Sie aus Foulspiel und Kopfstössen (http://www.focus.de/sport/fuss.....44580.html, http://www.derwesten.de/panora.....62412.html) ein Argument gegen den Fußball oder aus einer Pilzvergiftung ein Argument gegen die Pilzküche. Leider Gottes kommen Kopfstöße und Pilzvergiftungen immer wieder vor, ohne dass der Fussball oder die Pilzküche damit in Frage gestellt ist. Ich glaube, so ist das auch mit Volk, das ist corps d´esprit, den man nicht zwingend auf Mißbrauch reduzieren müßte.
Sie sind ja jetzt in Israel und haben wohl nicht zufällig über dieses Thema meditiert. Ihre Meditation über „Volk“ könnten Sie vor Ort mit einer Meditation über „Am Israel“ (das Volk Israel) ergänzen, sowie mit der Behandlung von Eigentums- und Entschädigungsfragen im Heiligen Land, das Geburtsrecht von Juden aus aller Welt auf Heimstatt in Israel 1945 Jahre nach der Zerstörung des Tempels und des konkurrierenden „Rechts auf Rückkehr“, das die Palästinenser 67 Jahre nach der ihrer Katastrophe „Naqba“ beanspruchen. Werden diese Rechtfragen unter „völkischen“ Gesichtspunkten diskutiert?
Kurzantwort, „Rotgardist“: ja.
Das ist nicht zu glauben.Dieser Brief sollte tausendfach vergrößert in die Kuppel des „Reichstages“ gehängt werden.
Lieber Herr Posener,
auch wenn ich selbst einen anderen Bezug zum Begriff Volk habe kann ich nachvollziehen, daß Sie mit diesem Begriff Schwierigkeiten haben.
Das von ihnen angebrachte Beispiel aus dem Nachlass Ihres Schwiegervaters ist m.E. nicht unbedingt ein Beispiel für die von Ihnen beklagte Geisteshalt in deutschen Amtsstuben.
In diesem Fall ging es doch wohl darum, daß der Besitz 1940 vom deutschen Staat gestohlen wurde, aber 1945 nach dem Untergang dieses Staates nicht wieder an den rechtmäßigen Eigentümer zurückfiel.
Die Frage, die sich diesen wackeren Beamten stellte war die, warum bekam Luchtenstein 1945 seinen Besitz nicht vom (jetzt polnischen Staat) zurück ?
Ich gehe davon aus, daß das nun kommunistische Polen nicht nur Deutsche vertrieb und enteignete, sondern auch andere die den neuen Herren nicht paßten.
Ich kenne die damalige Gesetzeslage nicht, aber ich gehe davon aus daß Deutsche, die vom polnischen Staat enteignet und vertrieben wurden vom deutschen Staat entschädigt wurden.
Wenn Luchtenberg von den Polen als Deutscher vertrieben wurde hatte er Anrecht auf eine Entschädigung.
Wenn Luchtenberg jedoch als Jude oder Klassenfeind oder politsch Verfolgter enteignet und vertrieben wurde ist dies zwar verbrecherisch, aber geht letztlich den deutschen Staat nichts an.
Vor diesem Hintergrund sehe ich die Fragen dieser Behörde, und dann sind diese Fragen absolut nachvollziehbar.
P.S.: Nach dem Krieg war es ja nicht ganz einfach an die Grundbücher heranzukommen, da erscheint es bei einem angeblich enteigneten Grundstück doch recht vernünftig, einen ehemals höheren Beamten, der die Stadtkasse verwaltete, zu befragen, der eventuell von dieser Enteignung Kenntnis erlangt haben könnte.
Lieber Herr Posener,
diese Abneigung kann ich sehr gut nachvollziehen.
Durch Zufall habe ich auch einmal einige „Widergutmachungs“-Akten in die Finger bekommen. Man liest da mit allergrößtem Erstaunen, wie tief sich dort eine Sprache, ein Denken in den Menschen festgesetzt hat, und zwar auf allen Seiten. Die Akten die ich gelesen habe, stammen von einem jüdischen Rechtsanwalt, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in NRW für jüdische Familien solche Verfahren betreut hat. Nicht nur bei den Beamten bei der Entschädigungsstelle, sondern auch in den Briefen der Opfer mit ihrem Anwalt wird mit allergrößter Selbstverständlichkeit mit diesen Begriffen umgegangen. Da wird vom „Halbjuden“, „Vierteljuden“ etc. gesprochen, die Menschen werden dazu genötigt, ihre „deutsche Gesinnung“ nachzuweisen, die Ehrenzeichen aus dem 1. Weltkrieg werden erwähnt etc. pp.
Dazu kommen die Absonderlichkeiten z.B. anhand von Kaufbelegen nachweisen zu sollen, welche Bücher man in seiner Bibliothek besessen hat und welchen Erlös man erzielt hat, als man Hals über Kopf im letzten Moment aus Deutschland floh oder morgens um 4 von der Gestapo oder SS abgeholt wurde. Das ist alles sehr erschütternd.
Solche Akten müssten die Kinder eigentlich in der Schule lesen. Auf jeden Fall sollten alle Juristen in ihrer Ausbildung anhand solcher Schicksale erklärt bekommen, wie Bürokratie und formaljuristische Argumentation zu weiterer Traumatisierung führen kann.