Als ich im Jahre 1969 die Universität Tübingen und meine schwäbische Heimat verließ, um mich im damaligen ummauerten Westberlin niederzulassen, schlug mir in der neuen Heimat, als man mein schwäbisches Idiom vernahm, durchaus Sympathie entgegen.Die Schwaben galten als klug („Cleverle“), als pfiffige Erfinder („Tüftele“) und als Schnelldenker („Käpsele“). In den studentischen Wohngemeinschaften waren sie gerne gelitten, galten sie doch als gesellig, aber auch als diszipliniert.
Vierzig Jahre später hat sich die Stimmung gedreht. Wenn man heute durch den Szene-Bezirk Prenzlauer Berg flaniert, kann man nachgebaute Entfernungsschilder finden, die eine implizite Aufforderung zur Rückkehr enthalten: „Nach Stuttgart 511 km!“ – Für Begriffsstutzige gibt es auch die drastische Variante, auf Betttücher gepinselt und aus Altbauwohnungen flatternd: „Schwaben verpisst euch!“.
Tiefpunkt des Schwabenhasses war die Parole „Kauft nicht bei Schwab´n!“, die Erinnerungen an den Beginn der antisemitische Pogrome in Nazi-Deutschland wachrief. Woher kommt dieser ätzende Hass auf die Schwaben? Die „neuen“ Schwaben, die sich seit der Wiedervereinigung Berlins in den schicken Wohnbezirken der Hauptstadt niedergelassen haben, gelten als besserwisserisch, arrogant und angeberisch. Ihnen wird nachgesagt, dass sie mit dem im „Ländle“ erworbenen Wohlstand protzen und die Berliner gerne spüren lassen, dass sie am Tropf des von den Schwaben maßgeblich gespeisten Länderfinanzausgleichs hängen. Auch die typischen schwäbischen Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, Ordnungssinn und Eigeninitiative werden im schlampigen Berlin eher als Bedrohung denn als Ermunterung wahrgenommen.
Natürlich spielt auch Neid eine Rolle. Menschen, die sich auf der Verliererseite der Geschichte sehen, prügeln gerne auf die Erfolgreichen ein. Auch in der Politik ist Neid ja hoffähig geworden. Das Wort „Besserverdienende“ avancierte in links-grünen Kreisen zum Schimpfwort. Ihnen soll es nach der nächsten Bundestagswahl steuerlich an den Kragen gehen. Auch in der Schule haben die Leistungsstarken einen schweren Stand. Als „Streber“ dürfen sie gemobbt werden. Anscheinend ist es schwer erträglich zu erleben, dass es Gleichaltrige gibt, die einen an Geistesgaben weit überragen. Also in den Staub mit ihnen!
Die Schwaben gelten vor allem wirtschaftlich als besonders erfolgreich. In Baden-Württemberg gibt es die meisten Patentanmeldungen pro Einwohner in Deutschland. Ein breit gefächertes Netz mittelständischer Unternehmen sorgt für Innovation und technische Entwicklung. Die Nobelmarken Daimler, Bosch und Porsche stehen für diese Erfindergabe. Resultat ist eine extrem niedrige Arbeitslosenquote. Auch in Sachen Integration ist Schwaben erfolgreich. Die dort ansässigen Ausländer (Stuttgarts Ausländeranteil ist höher als der in Berlin) gelten als gut integriert. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir bezeichnet sich nicht zu Unrecht als „anatolischen Schwaben“. Anscheinend bewirkt die in Schwaben allgegenwärtige soziale Kontrolle – Kehrwoche inklusive – einen Anpassungsdruck, dem sich auch widerborstige Ethnien nur schlecht entziehen können. Alles in Allem gibt Baden-Württemberg das Gegenbild zu Berlin ab: wirtschaftlich erfolgreich mit privatem Reichtum, geringer Arbeitslosigkeit und einem intakten sozialen Gefüge.
Was die meisten Berliner Schwaben-Hasser nicht wissen: Berlin erhielt entscheidende Entwicklungsimpulse von der schwäbischen Herrscherdynastie der Hohenzollern. 1411 wird Friedrich I. (1371-1440) von Kaiser Sigismund zum „Obersten Verweser und Hauptmann der Mark Brandenburg“ bestellt. 1415 erhält er die Mark als Lehen. 1417 wird er auf dem Konzil von Konstanz zum Kurfürsten und erblichen Markgrafen von Brandenburg erhoben. Ihm verdankt das Haus Hohenzollern den Eintritt in den Kreis der Kurfürsten, die damalige Elite des Reiches. Im Anschluss an die Regentschaft von Brandenburg-Preußen stellen die Hohenzollern von 1701 bis 1918 die preußischen Könige, die seit 1871 zugleich die deutschen Kaiser sind.
Der kometenhafte Aufstieg Brandenburgs, der auch durch die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges nicht dauerhaft unterbrochen werden konnte, war vor allem einer Eigenart der Hohenzollerndynastie geschuldet. Das Hausgesetz dieses Adelsgeschlechts sah ein striktes Erstgeburtsrecht vor. Dadurch wurde die Zersplitterung des Besitzes infolge von Erbteilungen verhindert.
Eine Tugend der Hohenzollern sollte sich als besonders segensreich auswirken: die Toleranz. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges und dem daraus resultierenden starken Bevölkerungsrückgang forderte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688) fremde Bevölkerungsgruppen auf, sich in der Mark Brandenburg niederzulassen. 1671 ließen sich 50 jüdische Familien, die aus Wien vertrieben worden waren, in Berlin nieder. Gerade die Ansiedlung von Juden wurde für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins und für sein geistig-kulturelles Klima wichtig. Ab 1685 kamen rund 6000 aus Frankreich vertriebene Hugenotten (evangelische Christen) in die Mark. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts folgten Belgier, Holländer, französische Schweizer, Pfälzer und Böhmen in großer Zahl. Legendär ist der Ausspruch von Friedrich dem Großen (1712-1786): „Hier muss jeder nach seiner Facon selig werden.“ Die religiöse Toleranz war kein bloßes Lippenbekenntnis. Sie wurde in die Tat umgesetzt. Im Jahr 1732 ließ der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. – der „Soldatenkönig“ – in Potsdam am Langen Stall einen Gebetssaal für zwanzig seiner türkischen Gardesoldaten und damit die erste Moschee auf deutschem Boden errichten. 1739 erfolgte dann die erste islamische Gemeindegründung auf deutschem Boden.
Nicht nur schwäbische Adelsgeschlechter, auch schwäbische Geistesgrößen haben Berlin geprägt. Der bekannteste unter ihnen ist der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). 1818 folgte er einem Ruf an die Universität von Berlin, wo er Nachfolger auf dem Lehrstuhl des Philosophen Fichte wurde. Seine Vorlesungen, die er auf Schwäbisch hielt (Er sagte „Äbbes“ für Etwas), waren sehr populär. Auch Kollegen und Staatsbedienstete wollten an seiner Gedankenwelt teilhaben. 1829 wurde Hegel zum Rektor der Universität ernannt. Zwei Jahre später starb er. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof liegt er begraben, inmitten einer illustren Gesellschaft aus Wissenschaftlern, Künstlern und Literaten.
Eine aufstrebende Großstadt lebt immer von den Menschen, die von außen zuziehen. In Zeiten starken wirtschaftlichen Wachstums – wie z.B. zu Ende des 19. Jahrhunderts während der „Gründerzeit“ – waren die meisten der Einwohner Berlins Eingewanderte. Theodor Fontane, selbst kein geborener Berliner, spottete darüber, dass die meisten Berliner Schlesier seien. Der bekannteste Bezirksbürgermeister Deutschlands Heinz Buschkowsky erklärt die Probleme seines Bezirks Neukölln gerne mit dem Hinweis, dass hier Menschen aus 160 Nationen leben – weitgehend friedlich und ohne giftige „Raus!“-Parolen. Es ist schon bemerkenswert, dass mit Wolfgang Thierse (SPD) ein bekannter Spitzenpolitiker (Vizepräsident des Deutschen Bundestages) in dieselbe Kerbe hieb wie die dumpfen Schwaben-Hasser, als er sich darüber mokierte, dass bei „seinem“ Bäcker von den Kunden neuerdings schwäbische Wecken statt Schrippen verlangt werden. Hätte er sich gegen türkische Sidimi oder arabische Maamoul verwahrt, wäre der Aufschrei der politisch Korrekten groß gewesen: „Fremdenhass!“, „Islamphobie!“. Die Schwaben sind im Schutzkatalog der politischen Korrektheit (noch) nicht verzeichnet. Deshalb kann man ungestraft auf sie einprügeln.
Die Schwaben werden es verkraften, angefeindet zu werden. Sie sind ein wehrhaftes Völkchen. Götz von Berlichingen war Schwabe. Auch ihre geistigen Waffen sind nicht zu unterschätzen. Hier zum Schluss eine kleine Kostprobe von ihrem Lieblingsdichter Friedrich Schiller:
„Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.“ („Die Jungfrau von Orleans“, III, 6)
Es gibt zum Glück auch Berliner, die den von Rainer Werner beschriebenen Tendenzen entgegenwirken. Das Bündnis `Berliner Mehrwert´ beispielsweise hetzt nicht ausschließlich gegen die wirtschaftlich erfolgreichen Schwaben, sondern auch gegen Hessen und Bayern. Ins Feld geführt wird vom Bündnis vor allem die gesellschaftliche Vorreiterrolle der Hauptstadt, die eine Besserstellung durch den Länderfinanzausgleich rechtfertigt.