Flankiert vom Gutachten der bestellten „Ethikkommission“ haben sich die Unionsparteien schnell auf Szenarien zum Atomausstieg geeinigt. Die FDP hingegen begnügt sich mit der Rolle des Mahners und warnt vor einem zu schnellen Abschied von der Atomenergie.
Das ist schwer verständlich. Oder sagen wir es so: es wäre nur verständlich, wenn sich die FDP als Partei der Wirtschaft, nicht des Wirtschaftsliberalismus, verstünde. Für eine wirtschaftsliberale Partei der Bürgerrechte hingegen würden eine Reihe grundsätzlicher Überlegungen gegen die Atomkraft sprechen. Atomenergie und Liberalismus sind nicht vereinbar.
- Da sind die enormen Kosten der Entwicklung der Atomenergie, des Baus neuer und der Entsorgung alter Kernkraftwerke. Diese Kosten führen dazu, dass nur Großkonzerne – wie die vier den deutschen Markt dominierenden Stromproduzenten – überhaupt AKW bauen und betreiben können. Der Atomstrom begünstigt also die Monopolbildung und erschwert den Marktzugang mittlerer und kleinerer Anbieter und damit den Wettbewerb am Markt, der für Liberale so wichtig ist.
- Diese Kosten sind überhaupt nur zu tragen, wenn sie zum Teil vom Staat übernommen werden, was ja in Sachen Forschung und Entwicklung weitgehend geschieht. Der Staat übernimmt auch die Haftung bei Unfällen, weil kein Versicherer für die Summen bürgen will, die ein Unfall von der Größenordnung Fukushimas verursacht. Das heißt, der Atomstrom begünstigt, ja erfordert die Bildung einer Art Staatskapitalismus, bei dem Staat und Großkonzerne voneinander abhängig sind. Liberale, die für die Zurückdrängung des staatlichen Einflusses auf allen Gebieten eintreten, können solche Konstrukte nicht gutheißen. Die Kohlesubventionen haben Liberale bekämpft – zu Recht; warum schweigen sie zur massiven Subvention der Atomenergie?
- Im Falle eines Unfalls wird die Rolle des Staates noch größer. Nicht nur muss er die Opfer versorgen, Evakuierungsmaßnahmen organisieren und so weiter, sondern – wie jetzt bei Tepco – den angeschlagenen Konzern mit Staatsgeldern stützen, weil ein AKW-Betreiber per definitionem nicht pleite gehen darf: das AKW ist too dangerous to fail. Wie bei Großbanken und Großkonzernen wird der Staat von Sonderinteressen, die sich als allgemeine Interessen ausgeben, erpressbar. Liberale, die für einen unabhängigen Staat eintreten, können das nicht richtig finden.
- Hinzu kommt, dass bei Unternehmen, die too big to fail sind, die für Liberale entscheidende Kategorie des moral hazard entfällt. Das heißt, ein Individuum oder Unternehmen ist gerade deshalb moralisch berechtigt, viel zu verdienen beziehungsweise große Profite zu machen, weil es selbst im Falle des Scheiterns das Risiko trägt. Bei Banken mit ihren toxic papers war das nicht der Fall –sie wurden vom Steuerzahler gerettet. Bei einem AKW mit toxic leakage ist das auch nicht der Fall. Auch hier springt der Steuerzahler ein. Die liberale Losung no risk, no fun wird auf den Kopf gestellt. Bankern und AKW-Betreibern macht das Wirtschaften gerade deshalb Spaß, weil sie kein Risiko eingehen. Das Risiko tragen die Steuerzahler. Das Abwälzen von Verantwortung auf andere widerspricht elementaren liberalen Prinzipien.
- Da AKW hochradioaktiven Abfall produzieren, die noch in 2000 Jahren gefährlich sein wird und geschützt werden muss, zementiert auch dieser Teil des atomaren „Kreislaufs“ die Rolle des Staates in der Energiewirtschaft Wird der Abfall wiederaufbereitet, so wächst aufgrund der Möglichkeit des Missbrauchs zu Waffenzwecken die Kontrollfunktion des Staates noch.
- Wo Plutonium produziert wird, entsteht die Möglichkeit, es zu Waffen zu verarbeiten. Je mehr Atomkraftwerke es weltweit gibt, desto schwieriger wird es, den Verbleib des Plutoniums zu kontrollieren, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich weitere Staaten – und eventuell Terrororganisationen – Atomwaffen bauen. Zivile und militärische Nutzung sind nicht voneinander zu trennen, wie das Beispiel Iran zeigt. Liberale sind keine Pazifisten, aber sie sind für Abrüstung, insbesondere für die atomare Abrüstung. Darum können sie nicht für das weitere weltweite Wachstum der Atomwirtschaft sein.
Kurz: Die Atomenergie fördert die Monopolbildung, führt zur Entstehung eines staatskapitalistischen Sektors, schaltet das Risiko für die Betreiber aus, während es für die Bürger das Risiko erhöht – finanziell und im Falle eines Unfalls auch physisch. Ihre weitere Ausbreitung führt notwendig zur weiteren Verbreitung von Kernwaffen. All das hat mit Liberalismus nichts zu tun. Liberale müssten die dezentrale Energiegewinnung unterstützen, die zu mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt führt, den Mittelstand stärkt, gleichzeitig das Risiko richtig verteilt und die Gefahr der kriegerischen Nutzung ausschaltet. „Grüne“ Energietechnik ist eher mit liberalen Grundsätzen vereinbar als Atomenergie.
Noch einmal: ist die FDP eine Partei des Wirtschaftsliberalismus oder nur der Wirtschaft?
@J.M.Backhaus: Mit Ihren ganzen Ausführungen über den politischen Liberalismus schießen Sie gegen Strohmänner. Die FDP behauptet gleichzeitig eine Wirtschaftsliberale wie auch eine Bürgerrechtsliberale Position zu vertreten. Alan Posener ging es einzig um die erste Facette und wollte zeigen, dass die Befürwortung der Atomenergie nicht mit einem WIRTSCHAFTSliberalen Ansatz vereinbar ist. Das hat zunächst noch gar nichts mit dem politischen Liberalismus zu tun, über den Sie die ganze Zeit sinnieren
Don’t feed the trolls. D’accord.
@Alan Posener
Sie haben natürlich recht, dass die FDP als Partei der Wirtschaft auftreten „müsste“, sie sich aber als Partei des Liberalismus ausgibt.
Was die Auseindandersetzung mit dem Begriff Liberalismus jedoch offenbart, sind Zweifel an der politischen Arbeitsteilung, die gesellschftlich geleistet werden sollte, also im Wettstreit der Bedürfnisse um ihre Erledigung.
In diesem Wettstreit, der in seinem „vagen Wesen“ nicht nur einen Wettbewerb um Ressourcen darstellt, geht es auch um Freiheit vs. Gleichheit, um Vernunft vs. Rationalität, um einige Merkmale zu benennen, die mir interessant im Sinne der politischen Theorie erscheinen. Wenn der Liberalismus prozedural gedacht wird, verschiebt sich das innere Gefüge in Richtung Vernunft, die für zentrale zukunftsträchtige (!!!) Entscheidungen auch entsprechend gewichtet sein sollte. Die Rationalität, die ich einmal als kleine Schwester der Vernunft titulieren möchte, kommt im allgemeinen Sprachgebrauch als „Vernünftigkeit“ daher und hat sich auch im Bereich des Politischen sehr breit gemacht, was ihr aber nicht zukommt, wenn es um wirklich weichenstellende Fragen geht.
Das Verständnis eines politisch liberalen Verständnisses müssen trotz der oben skizzierten Arbeitsteilung aber alle (!!!) Parteien teilen um den erreichten Pluralismus aufrecht erhaltenzukönnen, denn dieser hat sich als „vernünftig“ eingepegelt. Parteien, die vorgeben den politischen Liberalismus zu vertreten, müssten nach meinem Verständnis nach als „Parteien des Prozedere“ auftreten, was natürlich dahingehend verstanden werden sollte, dass sie sich für mehr Qualität/Vernunft (vs. Rationalit !) in der allgemeinen Gesetzgebung einsetzen würden, was jedoch kaum praktiziert wird, da die Partikularinteressen das eigentliche Anliegen aller Parteien sind. Unsere Verfasssung scheint dieser Schwäche des Systems nicht hinreichend gerecht zu werden. Nichts für ungut, völlig durchgeknallt bin ich noch nicht, aber wie Sie selbst am besten wissen, lebt es sich ganz ungeniert, wenn der Ruf erst mal ruiniert.
Lieber Herr Posener, gute Punkte! Da in der FDP aber niemand irgendwelche Überzeugungen hat und es auch keine Ziele oder Programme in der FDP geht, die über den seit 1990 uninteressanten Begriff „Freiheit“ hinausgehen, da Wirtschaft und Marktwirtschaft ausschliesslich als persönliches Bereicherungsprogramm gelebt werden, nicht als Teil einer Gesellschaftsordnung, kann auch keine Haltung im Widerspruch zu einstmals als liberal geltenden Werten stehen.
Oder, kürzer: Die FDP muß für oder gegen gar nix sein, da sie im werte- und überzeugungsfreien Raum ihre Kernkompetenz hat.
Deshalb ist die FDP da, wo sie jetzt ist. Ihr Wählerpotential ist trotz dieses Umstandes noch sehr hoch, denn zumindest in der Wirtschaft gilt Opportunismus noch immer als wesentliches Erfolgskritrium.
… ooops? noch einmal:
http://www.welt.de/debatte/hen.....Woche.html
… EJ hat recht. Hier ’nachbearbeiten‘ zu können, wäre schon schön,
o.t.: Es gibt keine hässlichen Frauen, es gibt nur nicht genug Wodka.” 😉
Ehrlich? ich mag HMB.
„„Grüne“ Energietechnik ist eher mit liberalen Grundsätzen vereinbar als Atomenergie.“
Grüne Energietechnik ja, „grüne“ Energietechnik ist die Wiederkehr des Fünfjahresplanes.
@Alan Posener
Ich stimme Ihnen zu, eine „Partei des politischen Prozedere“ zu sein, wird die FDP nicht beanspruchen, jedoch, wie ich darzulegen versucht habe, erscheint mir der Anspruch eine Partei des Liberalismus zu sein. obsolet, weil Liberalismus post-modern gedacht werden kann, bzw. wird, d.h. prozeduralistisch.
@ J.M. Backhaus: ich würde es für fatal halten, die FDP auf eine Partei des demokratischen Prozedere zu reduzieren, bei dem es zu einem Ausgleich berechtigter Interessen kommt. Dafür sind nicht Parteien zuständig, sondern Parlamente. (Oder habe ich Sie missverstanden?) Eine liberale Partei ist eine Partei des Mittelstands auch deshalb, weil Monopole für die Wirtschaftsfreiheit genauso gefährlich sind wie der Staat. Im übrigen sind Monopole auch für die politische Freiheit gefährlich, weil sie den Staat erpressen können, wie in der Finanzkrise geschehen. Das heißt, „wirtschaftsfreundlich“ ist für Liberale kein Kriterium. Es kommt immer noch sehr darauf an, von was für einer Art Wirtschaft wir sprechen. Franklin D. Roosevelt definierte sogar seine staatgsinterventionistischen Maßnahmen als „liberal“, weil sie sich gegen die Banken, Trusts usw. richteten, die „Royalisten unserer Wirtschaftsordnung“.
@ Serdar. So sehe ich das auch. Die Atomkraft war ein ur-sozialdemokratisches Projekt.
Lieber Herr Posener, leider war ich mit meinem Beitrag, versehentlich, bei Herr Friedman gelandet. Hier nochmals:
@Alan Posener: Den”Stamokap” hatte ich schon am Wochenende, in anderem Zusammenhang, reklamiert.
Bei der Atomenergie und der FDP, das tragende Argument.
Die Versicherungsfrage und die militärische Verwendbarkeit von “Atommüll” wird von den Befürwortern der Kernenergie grundsätzlich nicht thematisiert. Daher auch bisher keine öffentliche Duskussion darüber.
Bei den ersten vier Punkten habe ich beim Lesen sofort gewusst, warum die FDP für Atomkraft ist – eben genau aus diesen Gründen.
Ist es eigentlich nicht so, dass auch ein wahrer Konservativer Atomkraft ablehnen würde? Neben dem Liberalismus müsste das auch für den Konservativen gelten.
Aber die Bezeichnungen Liberaler und Konservativer spiegelen halt nicht unbedingt das wieder, was man unter Liberalismus und Konservatismus versteht.
Ergänzung:
Unter der Prämisse, dass es sich bei politischem Liberalismus um ein prozedural bestimmtes politisches Verständnis handelt, wäre die These von Posener „Atomenergie und Liberalismus sind nicht vereinbar“ jedoch hinfällig, weil hier Äpfel mit Birnen verglichen würden.
Der politische Liberalismus (nach Rawls) formuliert ein Instrument, das er den „Schleier der Unwissenheit über die zukünftige Entwicklung“ nennt, und dem alle an der Prüfung einer gesellschaftlichen Frage involvierten Gruppen unterworfen sind.
Unter dieser Bedingung würde die Frage des Einsatzes von Atomenergie von allen Beteiligten zu bejahen sein. Prozedural verstandener Liberalismus beschreibt nur die Nebenbedingungen für die Beurteilung, urteilt aber nicht selbst.
Also stellt sich die Frage nach moderner Lesart nicht so, wie sie Herr Posener stellt.
Falls sich die FDP auf ihrem anstehenden Parteitag nicht nur mit Personalrochaden beschäftigen möchte, sollte sie Herrn Posener mit diesem glänzende Artikel als Gastredner auftreten lassen.
So isses.
Im Übrigen kann man hierzulande nicht liberal denken. Nur „arbeitnehmerfreundlich“ und „arbeitgeberfreundlich“ und letzteres hält man offensichtlich für liberal. Wieso nur so wenig Freiheitswille???
Zutreffende und klar dargestellte Überlegungen. Anzumerken hätte ich nur, dass es schade ist, dass meist erst eine Katastrophe passieren muss, bis solche Überlegungen überlegt werden. Es sind vorausschauende Überlegungen, die im Nachhinein angestellt werden. Die FDP bildet daraus die Summe, errechnet Null und überlegt gar nicht.
Glänzende Zusammenfassung.
Den politischen Liberalismus auf die Stellung des Staates in der Gesellschaft zu verkürzen, wäre fatal. Im Kontext des klassischen Wirtschaftsliberalismus, sind die Gründe von Ihnen, Herr Posener jedoch absolut plausibel und nicht von der Hand zu weisen.
Was könnte ein Fazit sein ? Der Verdacht, dass es sich bei der FDP um eine Clientelpartei handelt, konnte bisher im Bereich der Energiewirtschaft nicht ausgeräumt werden, wäre eine defensive Formulierung.
Für den politischen Liberalismus moderner Prägung, stehen jedoch Verfassungsfragen und die Form einer gerechten Gesetzgebung unter auseinanderstrebenden und auf Wahrheitsansprüchenden pochenden, jedoch im Sinne der praktischen Vernunft, „vernünftigen“ Glaubens- und Interessensgemeinschaften innerhalb der Gesellschaft im Zentrum. (siehe z.B. Rawls in Habermas, die Einbeziehung des Anderen oder Rawls Politischer Liberalismus). Dieser Beitrag erschien mir lesenswert.