Von Alexander Görlach, Herausgeber und Chefredakteur „The European“:
Das Staatskirchenrecht muss abgelöst werden. Von einem Religionsrecht. Die Neutralität des Staates in weltanschaulichen Fragen ist ansonsten nicht gegeben.
Das Staatskirchenrecht, das das Verhältnis von Staat und Religion im Raster der christlichen Organisationsstruktur begreift, ist antiquiert und wird den neuen Religionsgemeinschaften auf der Scholle des Heiligen Bonifatius und Martin Luthers nicht mehr gerecht. Das sagen die Kritiker des Status quo. Die Debatte flammt nun im Kontext der Islamkonferenz wieder auf.
Ein Teil unserer Religionsparagrafen stammt aus der Weimarer Reichsverfassung. Sie wurden nach dem Ende des Dritten Reiches in das Grundgesetz der neuen Republik integriert. Das betrifft zum Beispiel die christlichen Sonn- und Feiertage, die der Staat schützt. Die Kritiker sagen: Das darf ein säkularer Staat nicht tun.
Hat sich die Weimarer Republik nicht als säkulare Republik verstanden? Die Säkularisation zumindest fand schon über 100 Jahre vor ihrer Gründung statt. Religionsgemeinschaften treten dem Staat daher heute nicht in ihrem sakralen Geltungsanspruch entgegen, sondern als – es ist genauso technisch, wie es klingt – Körperschaften öffentlichen Rechts. Jede Religionsgemeinschaft kann diesen Status erreichen, wenn sie unter anderem Gewähr auf Dauer bieten, ein Mitgliederverzeichnis haben und ihre Lehre in verbindlicher Form definieren können. Gleichzeitig brauchen sie ein Gremium oder eine Instanz, mittels derer sie mit den zivilen Autoritäten in Korrespondenz treten. Keine dieser Bedingungen sind unfair. Die Kirchen – das sei zugegeben – haben, durch den Lauf der Geschichte, in Deutschland hier einen Vorteil, den es unfair wäre nun gegen sie auszulegen.
Wie ist es nun mit dem öffentlichen Raum? Auch darüber herrscht immer wieder Dissens: Dürfen Kruzifixe in Klassenzimmern oder Gerichtssälen hängen? Wie ist das mit einem Gebetsraum für Muslime in der Schule?
Wir müssen uns von einer Gleichmachung im Sinne von „Dürfen die einen das, müssen es die anderen auch dürfen“ oder umgekehrt „Dürfen es die einen nicht, dürfen es die anderen auch nicht“ verabschieden. Dass Religionen vom Staat grundsätzlich gleich behandelt werden, ist das eine (und Richtige). Der öffentliche Raum gehört aber nicht etwa dem Staat, sondern allen, die sich diesen Raum teilen. Der Staat muss sich hier auch als Akteur behaupten. Er muss Angebote an seine Glieder machen. Er steht im Wettbewerb. So gibt es kein Monopol auf Erziehung in Kindertagesstätten oder Schulen, sondern Pluralität. Übrigens: Die Kirchen haben darauf auch kein Monopol, auch nicht die Gewerkschaften oder die Arbeiterwohlfahrt.
Die Kirchen und damit die Christen in diesem Land müssen sich keineswegs in diesen kulturellen Fragen vom Staat bevormunden lassen. Deutschland ist kein religionsloser Staat, deswegen diskutieren wir glaubhaft über die Bedingungen der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen und arbeiten an Studiengängen, in denen die Lehrerinnen und Lehrer dafür ausgebildet werden. Wenn es einmal keine Christen mehr gibt, werden auch keine Kreuze mehr in der Schule hängen. Der Markt regelt auch dies.
Eine kritische Distanz der Bürger zu ihrem Staat ist ein lebendiger Impuls für Demokratien. Diese kritische Distanz kann im öffentlichen Raum bewusst ein Kruzifix im Klassenzimmer einschließen. Es ist nämlich nicht der Staat, der alles regelt: Er bildet nicht allein und ausschließlich das Gewissen des Menschen und er ist auch nicht die letzte Instanz, die auf alle Fragen eine Antwort geben kann und soll. Dann wäre es zumindest kein demokratischer, pluraler und zivilgesellschaftlich verfasster Staat mehr.
Die Botschaft von Religion im öffentlichen Raum und damit auch in der Schule – das ist das Paradoxe – markiert den säkularen Raum dahingehend, dass der Staat sich in einem solchen Gemeinwesen nicht zu einer Quasi- oder Ersatzreligion stilisieren darf. Das machen – wenn überhaupt – die Religionen. Eine Mitgliedschaft hier ist nicht zwingend und wird vom Staat weder privilegiert noch verhindert.
Säkularismus schließt immer ein Nebeneinander von Glaube und Unglaube ein. Säkularität meint nicht, dass Gott nicht mehr im Leben der Bürger und somit im öffentlichen Raum, der für die Bürger reserviert ist und nicht für die Doktrin des Staates, vorkommen darf, sondern dass gesetzgeberisches Handeln nicht von religiösen Geboten und Gesetzen legitimiert wird. Das sittliche Empfinden oder die Moral hingegen sind häufig religiösen Ursprungs.
So kann ein säkularer Staat in einem christlichen Umfeld gedeihen und umgekehrt. St.-Martins-Umzüge müssen nicht in Lampionumzüge umbenannt werden und wir dürfen uns noch „Frohe Weihnachten“ wünschen und müssen nicht „Frohe Feiertage“ daraus machen, nur um eine Religionspluralität in eine Religionsneutralisierung und -blindheit zu verwandeln.
Deswegen ist es folgerichtig, dass muslimische Schüler an Mohammeds Geburtstag oder dem Opferfest einen Tag freibekommen, so wie Schüler in katholischen Gebieten Bayerns an Mariä Himmelfahrt freibekommen. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass christlicher Religionsunterricht ausgesetzt wird, bis die Muslime sich zu Körperschaften öffentlichen Rechts zusammengefunden haben. Und das festliche Geläut in der Osternacht – welches immerhin Goethes Faust vom Selbstmord abhält – nicht mehr stattfinden darf, nur weil wir nicht jede Nacht um fünf vom Frühgesang des Muezzins geweckt werden wollen.
Zuerst erschienen auf www.theeuropean. de. Alexander Görlach ist Herausgeber und Chefredakteur des Debatten-Magazins The European.
Nachtrag zum Beitrag vom 14. April 2011, 16:13 Uhr:
Im Anschluß an (1) sei an dieser Stelle der in unserem Kontext formulierte Säkularitätsgedanke noch einmal unter der Frage nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums in seinem Verhältnis zum Staat, insbesondere zu dessen Gesetzgebung und Rechtssprechung in die Diskussion geführt. Glaubensaussagen stellen in der Tat keinerlei Ansatzpunkte gesetzgeberischen Handelns dar. Oft genug sind selbige innerhalb der Kirchengeschichte mit aus heutiger Sicht inakzeptablen Herrschaftsansprüchen vermittelt gewesen. Christlicher Wahrheitsanspruch indes ist von Joh 14, 6 her keineswegs ein selbstreferentieller Anspruch des Glaubens, sondern Anspruch, daß Jesus Christus glaubenskonstituierender Selbstzuspruch der Wahrheit ist, Wahrheit existiert. Mit dem Versuch hingegen, die Wahrheit christlichen Glaubens in Form von satzhaften Glaubensaussagen als eine Art Hypothese in den wissenschaftlichen Diskurs zu rücken, ist ein Geltungsanspruch f ü r den christlichen Glauben benannt, den dieser als solcher nicht erhebt, nicht erheben kann (2). Damit wird die Wahrnehmung des verfassungsbegründenden resp. verfassungsgemäßen Charakters des Christentums beträchtlich erschwert, wenn nicht zumindest zeitweise verunmöglicht.
Anmerkungen
(1) http://www.cicero.de/97.php?item=5999
(2) Siehe hierzu: J. Fischer, J.-D. Strub (2008) Grundkurs Ethik: Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Stuttgart, pp. 289/90
Die Präambel des Grundgesetzes nennt Beweggründe wie Zielsetzungen, die nicht nur bei dessen Auslegung zu berücksichtigen sind. Der ihm verpflichtete Staat definiert zwar keinerlei Antwort auf religiöse resp. weltanschauliche Fragestellungen, rekurriert jedoch auf seinen Vorspruch, wenn die Antwort dazu Widerspruch ist. Mit Allah für die Freiheit?
„Die Neutralität des Staates in weltanschaulichen Fragen ist ansonsten nicht gegeben.“
Diese Neutralität kann es auch nicht geben, denn zum Beispiel die Fage „Demokratie, Ja oder Nein?“ ist eine weltanschauliche Frage. Demokratie ist,unter anderem, ein weltanschauliches Konzept und hinter jeder Staatsform steckt eine Weltanschauung. Eine „weltanschaulich neutrale“Demokratie, wäre eine sehr schwache Demokratie. Vielleicht eine Art Weimarer Republik?