Am letzten Sonntag schrieb mein Kollege Harald Martenstein im „Tagesspiegel“ über die „Hysterie der Kulturbeobachter“ in Sachen Helene Hegemann. (Sie wissen schon, die Plagiatsvorwürfe gegen ihren Roman „Axolotl Roadkill“.) Martenstein schaffte es, seine ganze Kolumne diesem Phänomen zu widmen, obwohl er, wie er freimütig erklärte, den Roman nicht kennt und keine Absicht habe, ihn zu lesen: „Ich lese zurzeit Walter Kempowski“.
Das war, wie soll ich sagen, hintergründig – denn Kempowski wurden ja auch Plagiatsvorwürfe gemacht, weil er in seinem Roman „Aus großer Zeit“ ganze Passagen aus einem Rostock-Heimatbuch von Werner Tschirch abgeschrieben habe. Im Kern lautete die Verteidigung damals wie heute: Ein Künstler darf das. Das wird schon stimmen. Und darum geht es mir nicht, sondern um den Zufall, dass Martenstein auch gerade Kempowski liest. Ich war nämlich vorletztes Wochenende beruflich (musste ein Konzert von The BossHoss besuchen) in Rostock, kam am Kempowski-Archiv vorbei, und da ich für die Rückfahrt nichts zu lesen hatte (Tom Rob Smiths großartigen Thriller „Child 44“ hatte ich auf der Hinfahrt schon ausgelesen), ging ich spontan rein und kaufte mir „Tadellöser & Wolff“.
Wie bitte? Den hatte ich noch nicht gelesen? Nein. Ich hatte damals, als Mittzwanziger, wohl den Fernsehzweiteiler gesehen und war davon und vom Nachfolger sehr beeindruckt; gleichzeitig fand ich es furchtbar nervig, dass Freunde von uns, Grundschullehrer wie Kempowski, mit Begeisterung die blöden Sprüche der Roman-Familie auswendig lernten und sie selbst bei jeder Gelegenheit verwendeten: „Ansage mir frisch!“ „Klare Sache, und damit hopp!“; „Wie isses denn nun möglich?“ „Gut dem Dinge.“ Und so weiter. Auch mehr als ein Vierteljahrhundert später finde ich dieses Familienjargon der Uneigentlichkeit nicht weniger nervig als damals. Und es stellt sich mir die Frage, ob Kempowski nicht gerade das beabsichtigte. Diese Familie sollte nerven.
Auf dem Umschlag meiner btb-Ausgabe allerdings ist das Urteil eines gewissen Franz Schonauer vom „RIAS“ abgedruckt: „Mann kann diesen bürgerlichen Roman auch als Epilog lesen und verstehen. Als Epilog auf jenen Mittelstand, der, bei aller geistverlassenen politischen Naivität, durch seine konservative Struktur der faschistischen Barbarei doch mehr Widerpart geleistet hat, als man es heute wahrhaben will.“
Bullshit. Und damit meine ich nicht Schonauers merkwürdige Verwendung des Worts „Epilog“ als Mischung aus „Nachruf“ und „Apologie“. Man mag diesem Roman einiges vorwerfen, zum Beispiel dass er viel zu lang ist, aber eine Rechtfertigung dieser Familie, gar eine Stilisierung ihrer „konservativen Struktur“ zum „Widerpart der faschistischen Barbarei“, enthält er nicht.
Der Rassismus ist der Alltagssprache der Kempowskis eingeschrieben: alles, was sie an ihrem Mann ablehnt, schreibt die auf ihre angeblich französisch-hugenottische Abstammung stolze Mutter „dem Polnischen“ zu, und seinen Geiz erklärt sie damit, es müsse doch da „ein Jüdlein durchgegangen“ sein. Der Vater wiederum, vor dem Krieg freiwillig SA-Mann und später als Soldat im besetzten Polen in unklarer Mission tätig, verherrlicht ohne jede kritische Reflektion seine Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg.
Beide können mit „Schwarz-Rot-Senf“ nichts anfangen, glauben bis kurz vor Schluss an den Endsieg; nie geht irgendeinem Familienmitglied ein Wort des Bedauerns über die Vernichtung der Juden, das Anzetteln des Vernichtungskriegs, die Verfolgung der Oppositionellen über die Lippen. Dabei wissen sie von der Existenz der „Konzertlager“, wie sie das nennen (lustig, diese Sprachspielereien, nicht? Klare Sache, und damit hopp!) und der Fremdarbeiterlager. Der Vater wird in Polen dieses oder jenes über die „Endlösung“ gehört haben – alle haben das gehört. Aber darüber schweigt er – oder schweigt der Autor. Mit dieser Familie und ihresgleichen konnte Hitler machen, was er wollte, und er hat gemacht, was er wollte.
Der einzige nennenswerte Widerstand kommt übrigens nicht aus ihrer „konservativen Struktur“, sondern aus Walters ganz und gar nicht konservativer Liebe zur amerikanischen Jazzmusik und zu den Accessoires einer entsprechend coolen Erscheinung: lange Haare, weiße Schals. Das bringt ihn mit der Führung der HJ in Dauerkonflikt. (Zwanzig Jahre nach den hier geschilderten Ereignissen machten die Pimpfe von damals, inzwischen verbiesterte Lehrer, der von den Beatles und Stones begeisterten Jugend wieder das Leben schwer.)
Nein, man tut Kempowski keinen Freundschaftsdienst, wenn man „Tadellöser & Wolff“ als Apologie des Bürgertums liest. Kempowski gehört als Mensch zu meinen Helden, weil er sein Leben riskiert hat, um für die Amerikaner Informationen über die sowjetische Demontagepolitik aus seiner Heimatstadt herauszuschmuggeln und dafür auch Jahre gesessen hat. Dort kann man in der Tat von bürgerlichem Widerstand gegen die Barbarei reden. Er gehört auch deshalb als Mensch zu meinen Helden, weil er als Grundschullehrer neue Wege gegangen ist und die Kinder ernst nahm. Auch das mag man als im besten Sinne bürgerliche Haltung feiern. Aber es ist eben, und das macht dieser Roman klar, wenn man ihn nicht sentimental, sondern, wie er es verdient, kritisch liest, eine andere Haltung, eine andere Bürgerlichkeit als jene, die „Tadellöser & Wolff“ so gewissenhaft dokumentiert.
mea culpa cher M. Posener 🙂
Mein Deutsch bedarf wieder der Auffrischung 🙂
Was verstehen sie unter ein „gewisser“ Franz Schonauer??
Fuer mich ist das péjoratif.
Aber vielleicht hat meine “ Kritik “ auch die Ursache in der Lektuere von Wolf Schneider Woerter machen Leute
Es gruesst sie ein „gewisser“ Jean-Luc Levasydas
Was die unverzichtbaren Anmerkungen betrifft:
I´m not fishing for compliments 🙂
Da ich mir ihren bullshit video blog in der Welt nicht anschauen will … bin gegen die visuelle Inflation sowie die Zeitverschwendung (ich lese schneller 🙂 ) und ihr Gastspiel bei den achsoguten Leuten nicht goutieren konnte 🙂 habe ich mich für eine Zeit in die monacale solitude zurückgezogen 🙂
Ob starke Meinungen tatsaechlich so stark sind wie ihr apocalyse blog
laisser pisser les mérinos :-):-)
Alan Posener schreibt: „Auch die längere Passage, die Sie zitieren, macht das, was Schonauer schreibt, nicht richtiger, und das, was ich über die Rückgratlosigkeit dieser Familie gegenüber der faschistischen Barbarei schreibe, nicht falsch.“
Ihren Artikel hielt ich zunächst für eine sachlich nachvollziehbare Analyse des Romans, auch wenn sie nicht zu 100% meiner Sichtweise entspricht. Mit ihrem „Fingerpointing“ betreffes Rücksichtslosigkeit bekommt der Artikel aber wieder einen ziemlich skurril-lustigen Beigeschmack.
Da sitzt als der Herr Posener in den wärmenden Redaktionsstuben des Springerkonzerns, der sich der Solidarität mit Israel verschrieben hat. Israel klaut anderen Menschen Land, vetreibt diese Menschen, erschiesst Kinder, die sich auf dem Land ihrere Eltern bewegen, baut Zäune auf diesem Land und ein Ministrpräsident sagt noch, daß dies ein Zaun gegen wilde Tiere sei.
Wo ist ihr Rückgrat beim Eintreten für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, Herr Posener? Sie leben (noch) nicht in einer barbarischen Israel-Springer-Diktatur, wo die Welt in Juden und wilde Tiere unterschieden wird. Sondern können mitsamt ihrem Vermögen hingehen wo sie wollen, um in einem anständigen Medienkonzern ihr Geld zu verdienen ;).
Ah, Monsieur, vous voilà! Habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis Sie mit Ihren unverzichtbaren Anmerkungen wieder aufkreuzen. Willkommen! Jedoch weiß ich nicht, was Sie haben: ich habe die Quelle für das Schonauer-Zitat angegeben, nämlich die Umschlag-Rückseite der btb-Ausgabe (nein, nicht der Bild-Bibliothek, und auch nicht der Welt-Ausgabe, in der das Buch auch erschienen ist). Und den dort abgedruckten, sicherlich werbend gemeinten Textauszug habe ich vollständig zitiert. Auch die längere Passage, die Sie zitieren, macht das, was Schonauer schreibt, nicht richtiger, und das, was ich über die Rückgratlosigkeit dieser Familie gegenüber der faschistischen Barbarei schreibe, nicht falsch.
addendum
Hier der Textauszug eines gewissen Alan Posener von der Welt:
Mann kann diesen bürgerlichen Roman auch als Epilog lesen und verstehen. Als Epilog auf jenen Mittelstand, der, bei aller geistverlassenen politischen Naivität, durch seine konservative Struktur der faschistischen Barbarei doch mehr Widerpart geleistet hat, als man es heute wahrhaben will.“
Und hier der vollständige Text :
Tadellöser & Wolff ist ein bürgerlicher Roman, mehr noch: er ist die Tragikomödie der deutschen Bürgerlichkeit. Das Adjektiv >bürgerlich< bezieht sich also nicht auf die Form, sondern auf den Inhalt. In mehrfacher Hinsicht ein erstaunlicher, lesenswerter Text. Man kann diesen bürgerlichen Roman aus als Epilog lesen und verstehen. Als Epilog auf jenen Mittelstand, der, bei aller geistverlassenen politischen Naivität, durch seine konservative Struktur der faschistischen Barbarei doch mehr Widerpart geleistet hat, als man es heute wahrhaben will. Im Hinblick auf sein Bürgerliches Thema gewiß ein kritischer Roman, geschrieben aus der ironischen Distanz. Doch sollte nicht vergessen werden, daß Ironie ein Mittel ist, um der Trauer Herr zu werden.<< Franz Schonauer, RIAS
http://tinyurl.com/ybwfugs
Ich wusste nicht, dass Bild auch eine Bestseller Bibliothek veroeffentlicht:
Das Buch stammt aus der "Bild-Bestseller-Bibliothek" Band 11
🙂 🙂 🙂
ein gewisser Franz Schonauer..
Schade dass print-Journalisten wie Sie nicht mehr recherchieren:
http://www.zeit.de/1989/27/Fra.....r?page=all
http://www.ub.uni-paderborn.de.....auer.shtml
Wie heisst bei uns:
Tell It Like It Is
Wer im Glashaus mit bullshit um sich wirft, weiss nicht, dass dryed bullshit zum Glasbruch führt.