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Der EU den Friedensnobelpreis entziehen? – Kritik eines gefährlichen Framings

Gastbeitrag von Konstantin Sakkas

Das Flüchtlingslager in Moria auf Lesbos ist abgebrannt. Am Donnerstag nach dem Unglück trendete daraufhin auf Twitter folgender „Hashtag“: „Stück Scheiße Europa“. Europa, das heißt die Europäische Union, habe den katastrophalen Zuständen in dem Sammellager auf der griechischen Insel viel zu lange tatenlos zugesehen. Und am heutigen Freitag twitterte Michael Wildt: „Wäre es nicht eine angemessene Reaktion, wenn die Schwedische Akademie Europa angesichts dieses humanitären Versagens den Friedensnobelpreis wieder entzöge?“

Michael Wildt ist nicht irgendwer, sondern einer der profiliertesten deutschsprachigen Zeithistoriker. Er lehrt als Professor an der Humboldt Universität Berlin, 2003 wurde er mit einer Studie über die Generation des Unbedingten bekannt. Wenn jemand wie er sich Forderungen, der EU den ihr 2012 verliehenen Friedensnobelpreis wieder abzuerkennen, anschließt, dann hat das Gewicht. Die Frage ist nur: hat er damit recht?

Und hier sind Zweifel angebracht. Forderungen wie die, der EU den Friedensnobelpreis wieder zu entziehen, bedienen ein gefährliches und vor allem falsches Framing: das vom bösen Europa bzw. vom „bösen Westen“. Erinnern wir uns: seit den Anschlägen von 2001, diesem angeblichen Wendepunkt der Weltgeschichte – sie jähren sich heute zum 19. Mal – sind wir gewohnt, vom bösen Amerika zu reden: Bush, Guantanamo, Irak, Drohnenkrieg. Seit etwa 2010 reden wir zusätzlich vom bösen Europa: Finanzkrise, arme Griechen, arme Flüchtlinge, für die zu wenig getan wird, die wir in Lagern vegetieren und auf dem Mittelmeer sterben lassen.

Sollten wir nicht die Kirche im Dorf lassen? Europa, mit Deutschland an der Spitze, hat seit 2015 und schon vorher Millionen von Kriegsflüchtlingen aufgenommen. Aus Afghanistan, dem Irak, aus Syrien, aus Afrika. Deutschland und seine europäischen Partner werden auch weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, das ist gewiss. Sehr wahrscheinlich werden wir auch die Flüchtlinge aus Moria aufnehmen. Vermutlich alle. Etwa im Tagesspiegel hat Malte Lehming einen vernünftigen Appel hierzu veröffentlich (https://www.tagesspiegel.de/politik/feuer-im-fluechtlingslager-moria-nehmt-sie-auf-die-kapazitaeten-sind-vorhanden/26172396.html).

Bereits gestern haben Angela Merkel und Emmanuel Macron angekündigt, vierhundert unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Und kein Geringerer als der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Anwärter auf die Kanzlerkandidatur, hat die sofortige Aufnahme von fünftausend Flüchtlingen – und zwar notfalls auch durch Deutschland alleine – gefordert. Unterstützt wird seine Forderung von Grünen und Linken (!). Ein christemokratischer Spitzenpolitiker des reichsten Landes Europas plädiert für die Aufnahme von fünftausend Flüchtlingen aus dem abgebrannten Lager Moria und wird darin vom politischen Gegner unterstützt. Am selben Tag ging ein Brief von zehn deutschen Bürgermeistern bei Angela Merkel ein, worin sie die Aufnahme von Flüchtlingen durch ihre Kommunen anbieten. Nun frage ich mich: ist dieses Europa wirklich so moralisch heruntergekommen, wie manche es gern insinuieren, ja es womöglich gerne hätten?

Nun: nicht alle europäischen Partnerländern sind so humanitär eingestellt wie Deutschland und Frankreich. Schauen wir nach Osteuropa, auf die Visegrád-Staaten, aber auch nach Österreich. Dennoch: der humanitäre Reflex ist in der Europäischen Union weitgehend intakt. Die Seenotretterin Carola Rackete, die vergangenes Jahr auf Lampedusa verhaftet wurde – sie hatte dort mit einem Schiff voller Flüchtlinge angelegt –, wurde kurz darauf von einem italienischen Gericht wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie habe mit dem Aufnehmen der Flüchtlinge auf hoher See in Erfüllung ihrer seemännischen Pflicht gehandelt, hieß es im Gerichtsbeschluss. Und Griechenland? Ja, dort gibt es flüchtlingsfeindliche Mobs, aber ebenso gibt es dort eine breite Zivilgesellschaft, die sich für Geflüchtete engagiert, ungeachtet dessen, dass Griechenland selbst nun nicht gerade das reichste Land Europas ist.

Wer nach dem Brand von Moria, bei dem es nach bisherigem Stand offenbar keine Todesopfer gab, Europa den Friedensnobelpreis entziehen will, der sollte einmal auf andere Länder schauen. Zum Beispiel nach China. In China werden keine Lager angezündet. In China werden Lager gebaut. Konzentrationslager. In China werden Uiguren, Kasachen und Oppositionelle systematisch brutal und oft mit Todesfolge gefoltert und in ihre eigenen Fäkalien gehängt. Gerade jemanden wie Michael Wildt, der als Holocaustforscher bekannt wurde, sollte das nicht kalt lassen. Müssen wir Europäer, die wir aus unserer Geschichte weitgehend gelernt haben, uns nun auch noch selbst gegenüber Mächten desavouieren, die für die Flüchtlinge, um die es geht, nicht nur keinen Finger krumm machen würden, sondern die diese Flüchtlinge oftmals selbst produziert haben?

Denn die Flüchtlinge aus Syrien fliehen vor einem Krieg, den Russland mit chinesischem Geld und mit Baschar al Assad als willigem Vollstrecker führt. Iranische Baufirmen sichern sich derweil die Aufträge für den Wiederaufbau des halbzerstörten Landes, während Teheran die Palästinenser weiter gegen Israel aufhetzt und so zusätzlich Flüchtlinge produziert. Die Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative) lässt grüßen. Barack Obama, der gebildete, feinsinnige Intellektuelle im Weißen Haus, hat einst bewusst auf einen Einmarsch in Syrien verzichtet, denn er wollte nicht die Ursünde der beiden Bushs wiederholen, und sich auf die denkbar gehegteste Form des Krieges beschränkt: den gezielten Drohnenkrieg gegen Terrorhäuptlinge. Was aber sagt Twitter, und mit ihm viele kluge und gelehrte Köpfe? Böser Drohnenkrieg, böse, verbrecherische Amis. Wie aber haben Putin und Assad es Obama gedankt? Indem sie zwei Millionen Syrer auf die Bahn gesetzt haben. Also gar nicht.

Europa, Du Stück Scheiße? Dieses Stück Scheiße nimmt die Flüchtlinge auf, die uns Russland und China an die Küste spülen. Flüchtlinge, die vor korrupten Machthabern in Libyen oder vor den (mit russischem Geld gepamperten) Taliban in Afghanistan fliehen.

Und Moria? Moria war ein Lager, ja. Schmutzig, überbelegt, trist. Ja. Aber Moria war kein libysches KZ. Moria war kein chinesisches „Umerziehungslager“. Moria lag nicht im Kriegsgebiet, sondern auf der griechischen Insel Lesbos. In Moria mag es zuletzt mangelhafte sanitäre Einrichtungen gegeben haben, aber in Moria schlugen keine 15-cm-Granaten ein. In Moria gab es keinen Häuserkampf mit AK 47 und Gasgranaten. Und in Moria liefen auch keine Sklavenhändler des Islamischen Staates herum.

Ja, es sterben Menschen an den „Außengrenzen Europas“. Ja, es gibt Elend vor den Toren Europas. Aber Europa schaut nicht stumm zu. Europa hilft. Seit Jahren. Ja, viele Migranten sind gestorben auf ihrem Weg hierher, so mancher wird vielleicht noch sterben. Aber sie sterben nicht auf dem Weg in eine Region, die für sie „ein Stück Scheiße“ ist. Sie sterben auf dem Weg in eine Region, die für sie das gelobte Land ist. Und zwar zu Recht. Europa ist nicht die Ursache des Schmerzes. Europa ist das Heilmittel. Man sollte nicht das Heilmittel beschimpfen.

Wer nicht im Solde Russlands oder Chinas steht, sollte auch nicht so reden. Der EU den Friedensnobelpreis entziehen – und ihm dann wem geben? Assad? Lukaschenko? Putin? Xi Jinping? Wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Europa ist das gelobte Land der Gegenwart. Trotz Oury Jalloh, trotz der NSU-Morde, trotz der Banlieues und trotz Morias. Wenn irgendwelche Twitter-Trolle diese Tatsachen verdrehen, ist das schlimm genug. Noch schlimmer ist es, wenn es ein renommierter Geschichtsprofessor tut.

Konstantin Sakkas (Jahrgang 1982) studierte Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin und arbeitet seit vielen Jahren als Publizist. Seine Beiträge erscheinen u.a. im SWR2, Deutschlandfunk Kultur und Tagesspiegel

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3 Gedanken zu “Der EU den Friedensnobelpreis entziehen? – Kritik eines gefährlichen Framings;”

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    Sehr geehrter Herr Sakkas,
    Sie haben mit Ihrer Einlassung insoweit recht, dass es die Push-Faktoren (Krieg, Hunger, Armut, etc.) sind, die die eigentliche Ursache fuer die Existenz eines Schandfleckens wie Moria darstellen. Die Push-Faktoren verursachen Staaten, Regierungen und politische Gestalten, deren Existenz einem Horrorfilm zur Freude gereichen wuerde, waeren sie nicht real, haetten sie nicht Konten in der Schweiz, Handelsabkommen mit der ganzen Welt und eine Reputation als wichtiger Handelspartner, dem man den einen oder anderen Massenmord durchgehen lassen muesste, weil sonst Arbeitsplaetze bedroht sind.
    Bei der EU, die Push-Faktoren dann ignoriert, wenn Wirtschaftsinteressen tangiert werden, dominiert die vollgeschissene Hose vor den heimischen Extremisten, die in der Existenz eines sagen wie einmal menschenrechtskompatiblen Moria bereits den Untergang des Abenslandes sehen, dies sehr laut herausschreien und damit die Ruhe stoeren, die die Geschaefte mit den oben genannten Verursachern der Push-Faktoren und die politische Stabilitaet des status quo bedrohen.
    Stimmt, die EU ist nicht der Verursacher der primaeren Push-Faktoren, unschuldig ist sie nicht.
    Sie haben auch recht, dass die Vergabe des Friedensnobelpreises wegen dieser Frage nicht zur Disposition gestellt werden sollte, stehen auf der Vergabeliste doch diverse andere Gestalten, denen mehr Blut aus dem Aermel fliesst und dessen Hand zu schuetteln aus Pietaetsgruenden bei Menschen mit Gewissen einen Brechreiz ausloesen duerfte. Ein Friedensnobelpreis kann eine Auszeichnung sein, er war es sicher in manchen Faellen auch, aber eben nicht immer.
    Bleibt Moria im jetzigen Zustand. Neben der Tatsache, dass Brandstifung eine Straftat ist, die unabhaengig vom Motiv zur Strafe fuehren sollte, steht in zivilisierten Laendern vor der Strafe die Schadensbegrenzung, aber eben auch die Hilfe fuer die Menschen, die nicht Taeter waren. Abertausende in Sippenhaft fuer die Tat einzelner zu nehmen gibt das Recht zivilisierter Staaten nicht her, ein Fortschritt, der zu loben und nicht zu verdammen ist.
    Sprich: So oder so werden die Migranten auf die Staaten der Willigen verteilt werden muessen, unabhaengig von dem Pull-Faktor, der damit ausgeloest werden koennte, … koennte, nicht zwingend ausgeloest wird. Je schneller das passiert, desto handlungsfaehiger erscheint die EU. Besser agieren als getrieben zu werden, … also wie im richtigen Leben.
    Dann wird es aber wirklich Zeit sich als EU eine Position in einer Welt von Arschlochregimen zu ueberlegen, eine, die dem Kerngedanken der EU zur Wuerde gereicht. Viel Zeit ist nicht, denn die Push-Faktoren machen keinen Urlaub.

  2. avatar

    Die EU ist als Wirtschaftsunion gegründet worden. Weder kann sie, noch will sie ein Friedensprojekt sein.

    Diese moralische Überforderung der EU wird Europa in den Abgrund treiben. Sowohl die Verleihung als auch die Drohung mit Entzug des Friedensnobelpreis ist Teil dieses Irrweges.

    Das zu erkennen, scheint die intellektuellen Fähigkeiten sogenannter Intellektueller zu überfordern.
    Sie sind deshalb zum Kern des Problems der EU geworden

  3. avatar

    Nur weil Europa nicht so schlimm ist wie China und andere, ist es verkehrt, die europäische Migrationspolitik harsch zu kritisieren? Die Argumentation des Autors beruht darauf, dass Europa die etwa 13.000 Menschen aus Griechenland noch aufnehmen wird. Wir werden sehn. Bislang sieht es nicht danach aus. Die europäische Politik hat sich selbst blockiert und die Flüchtlinge, die in Griechenland angekommen sind, fallen durch den Rost. Die Kritik daran ist notwendig. Mit vielen Hintergründen macht das ein Beitrag von Michael Lehmann aus der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/ausland/griechenland-migrationspolitik-101.html.

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