Ein Gastbeitrag von Stefan Weinert
„Luthers Judenattacken besaßen eine Jahrhunderte überdauernde tödliche Explosivkraft.“
Martin Stöhr, evangelischer Theologe
Mit dem Doktor Martinus Luther und seiner vorangetriebenen Reformation der bisherigen allein selig machenden Kirche kam es erstmals zu dem theologisch und religiös begründeten rassistisch gemeinten Antisemitismus. Das Selbstverständnis der Christen als „Verus Israel“ führte dazu, den Juden die Zugehörigkeit zum Gottesbund abzusprechen. Als „Gottesmörder“ seien sie dazu verdammt, heimatlos in der Welt umherzuirren.
Diese theologisch begründete Auffassung vom Judentum und der jüdischen Existenz in der Diaspora (= konfessionelle Minderheit) ging als fester Bestandteil der kirchlichen Glaubenslehre ein. Erste und entscheidende Ausprägungen erhielt der religiöse Antijudaismus bereits in den Schriften des neuen Testaments und in den Werken der Kirchenväter. Von hier aus führt eine direkte Linie zur mittelalterlichen Theologie.
Die damalige Kirche verbot die Konversion von Christen zum Judentum. Ebenso galt das Verbot der Ehe zwischen Christen und Juden und sogar der gemeinsamen Speiseeinnahme. Mit dem IV. Laterankonzil 1215 erreichte die gesellschaftliche Absonderung der Juden von der christlichen Bevölkerung einen weiteren Höhepunkt. Die Juden sollten fortan auch äußerlich durch Kennzeichnung der Kleidung (!) als Angehörige des von Gott verworfenen Volkes markiert werden. In der Folge sollten sie nur noch in für sie bestimmte Viertel wohnen dürfen. Die Existenz der Juden in der Gesellschaft entsprach damit zunehmend dem Judenbild der christlichen Glaubenslehre.
Kirchliche Institutionen trieben die Juden zur Zwangstaufe, unterwarfen sie der Inquisition und beteiligten sich selber unmittelbar an Judenverfolgungen. Darüber hinaus anderen leistete die Kirche antijüdischen Einstellungen und gewaltsamen Ausschreitungen auch indirekt Vorschub, da das von ihr geformte negative Judenbild Eingang in Liturgie, Predigten, Gebete und Katechismen fand. Die Judenfeindschaft wurde fester Bestandteil der Volksfrömmigkeit. Antijüdische Mythen und Vorurteile prägten sich tief in das Bewusstsein und die Mentalität der christlichen Bevölkerung aller sozialen Schichten ein und bildeten den Ausgangspunkt zahlreicher gewaltsamer Ausschreitungen und Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung.
Wohl versuchten Bischöfe und andere Kirchenleute für den Schutz der Juden einzutreten; doch Volksfrömmigkeit und Aberglaube waren mächtiger und richteten sich vor allem seit Mitte des 12. Jahrhunderts gegen Juden. Sie wurden bezichtigt, die Tötung Jesu stets aufs Neue zu wiederholen. .
Der große Reformator, Martin Luther, auf den ab 1517 bis zu seinem Tode 1546 alle Welt aufmerksam geworden war und dem alle Welt auch zuhörte, hatte es in der Hand gehabt, dem religiösen und kirchlichen Antijudaismus Einhalt zu gebieten und den christologisch begründeten rassistischen Antisemitismus erst gar nicht aufkommen zu lassen. Seine Kreierung einer gemeinsamen deutschen Sprache und die fast zeitgleiche Erfindung der Buchdruckerkunst, die er für die Bibelverbreitung nutzte, waren für ihn die große Chance, auch und vor allem der deutschen und europäischen Geschichte eine Wende in Sachen Mitmenschlichkeit und Humanismus zu geben. Er, der aus dem griechischen „eleos“ und dem lateinischen „misericordia“ das für alle verständliche Wort „Barmherzigkeit“ (althochdeutsch „armherzi“ = ein Herz für die Armen haben) formte, tat jedoch genau das Gegenteil. Mit seinem Hass und seiner Hetze gegen die Juden ab dem Jahr 1530, in dem er einem protestantischen Pastor untersagte, eine taufwilliges jüdisches Mädchen zu taufen (denn es liege in der Art der Juden, die Christen zu täuschen), und die dann in seinen in deutscher Sprache verfassten und weit verbreiteten „Judenschriften“ gipfelten, begründete er den religiös-christologisch-kirchlichen Antisemitismus.
Bei Luther manifestierte sich gegenüber den Juden derselbe Vernichtungsmechanismus, wie er ihn bereits grundsätzlich gegen Andersdenkende und Andersgläubige anwandte: „Wenn der Jude sich nicht zum Christentum bekehrt, ist er des Teufels oder ein Teufel und soll dann entsprechend bestraft oder getötet werden.“ Die drei „Juden-Schriften“ Luthers atmen einen derart abartigen, perversen Ungeist, dass man sich sträubt, aus diesen Pamphleten zu zitieren. Dennoch muss dies getan werden, weil die sich in diesen Schriften ausdrückende Menschenverachtung nicht einfach Vergangenheit geworden ist (wie auch Hitlers „Mein Kampf“ nicht), sondern bis heute wie eine tiefbraune Wolke über der evangelisch-lutherischen Kirche schwebt. Da Luther seine Meinung und Erkenntnis mit denen seines Gottes identifizierte (!), war für ihn jeder ein antigöttlicher Teufel, der seine Lehre nicht akzeptierte. Dabei verstieg Luther sich sogar (allerdings ganz bewusst) darin, den Juden das Lesen der Heiligen Schrift (ihr ureigenstes Gut) zu verbieten: „Ihr Juden seid doch nicht wert, dass ihr die Biblia von außen solltet ansehen, geschweige, dass ihr drinnen lesen solltet. Ihr solltet allein die Bibel lesen, die der Sau unter dem Schwanz steht und die Buchstaben, so da selbst herausfallen, fressen und saufen.“
Luthers krankhafte Fäkalsprache feiert auch in Bezug auf die Juden peinliche Triumphe: „Der Teufel hat in die Hosen geschissen und den Bauch abermal geleeret. Das ist ein recht Heiligthum, das die Juden und was Jude sein will, küssen, fressen, sauffen und anbeten sollen …“
Indem Martin Luther die Juden so „überzeugend“ zu Teufeln erklärt hat, hat er auch die Grundlage für ihre brutale Verfolgung geschaffen. „Man solle ihnen überhaupt nicht nur „den Wucher verbieten“, sondern „nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold.“, so Luther. Die Nazis haben sich 400 Jahre später präzise an diese Devise Luthers gehalten, ebenso wie an weitere Anweisungen des Reformators. Er war kein Ignorant, er wusste, dass alle diese bösen Behauptungen gegen die Juden wahrheitswidrig sind. Aber in nicht mehr zu überbietender Bosheit gab er zu bedenken, dass all diese Gräuelmärchen auf einer höheren Ebene doch wahr seien, weil Juden aus ihrem tiefsten Wesen heraus eben zu allem Verbrecherischen fähig seien. Luther beruft sich gar auf Jesus: „Ich weiß wohl, dass sie solches und alles leugnen. Es stimmt aber alles mit dem Urteil Christi, dass sie giftige, bittere, rachgierige, hämische Schlangen, Meuchelmörder und Teufelskinder sind, die heimlich stechen und Schaden tun, weil sie es öffentlich nicht vermögen.“
Luther hat eine ungeheure Geschichtsschuld auf sich geladen. Denn da die Konstellation der Geschichte des 16. Jahrhunderts ihn zu einer außerordentlichen, wirkmächtigen Persönlichkeit gemacht hatte, musste auch seine Judenhetze gewaltige, aber eben fatal-negative Langzeitfolgen zeigen. Luthers These, alle Juden, die sich nicht zum Luthertum bekehren wollen, seien „Lästerer“, „Räuber“, „Mörder“ und „leibhaftige Teufel“ und daher zu enteignen, gefangen zu halten, zu verjagen oder totzuschlagen, war zwar religiös motiviert, weil der Reformator die Hauptsünde der Juden in der Ablehnung und Tötung des Gottessohnes sah, aber das auf diese Weise geschaffene Reservoir an Hass und Aggression in den Köpfen und Herzen der Nachfahren Luthers konnte nun von jedem antisemitischen Diktator ausgiebig genutzt werden, vor allem vom rassistischen Judenhasser Hitler.
Hitler selbst hat demgemäß auch mehrfach betont, dass er sich in der Judenfrage mit Luther eins wisse. Und wenn er gegenüber dem katholischen Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning 1936 erklärte, dass er in Bezug auf die Juden nur das tue, was die Kirche seit 1500 Jahren tut, so dürfte er auch bei dieser Aussage den gewaltigen Beitrag Luthers zu den vielen antisemitischen Aktionen beider Großkirchen nicht übersehen haben. Angesichts der strengen Bücherzensur und -kontrolle während der Nazi-Zeit kann es zudem kein Zufall sein, dass Luthers wichtigstes Anti-Juden-Buch unter Hitler neu aufgelegt wurde. Eine fatale, makabre Konsequenz zieht sich so von Luther bis Hitler.
Stefan Weinert, aufgewachsen in einer kinderreichen, katholischen norddeutschen Familie (Diaspora), konvertierte 1979 zum Baptismus (frei-evangelisch), wo er auch Theologie studierte. Seit 15 Jahren bezeichnet er sich als „konfessionslos, nicht aber gottlos.“ Als Humanist mit agnostischen Tendenzen ist sein Leitspruch: „Werde erst einmal Mensch, bevor du dich Christ nennst.
Hallo Herr Weinert,
haben Sie damals auch so unter dem Katholizismus gelitten wie ich ?
Ja. sehr richtig. Das Jahr 2017 war in den mir zugänglichen Medien voll von Luther-Lobpreisung. Mein Vater hatte als Jugendlicher in einem lutherischen Heim sehr gelitten und war über die gegenwärtige Luther- und Reformation- Rezeption entsetzt.
Leider ist er vor einem Jahr verstorben.
Der Kommentar von Monika Frommel verdreht (pervertiert) in typischer Manier des „aufgeklärten 21. Jahrhunderts“ die faktische Realitäten der vergangenen 1.900 Jahre und die „Historie des Antisemitismus“. Hitlers Antisemitismus nur ein Zeit-Phänomen? Luther, Hitler nur „Kinder ihrer Zeit“? NEIN NEIN NEIN !! Luther war der entscheidende Katalysator für den schon vor ihm seit 1400 Jahren herrschenden Antijudaismus und Judenhass in Kirche und Gesellschaft und ließ daraus den Antisemitismus entstehen (der Jude ist böse, weil er ein Jude ist). Der von ihm so ausgelöste Weltenbrand konnte im Laufe der Jahrhunderte trotz vieler Versuche nie wirklich gelöscht werden und fand seinen Höhepunkt im HOLOCAUST (wörtlich: vollständig verbrannt). Schon Martin Luther verstand den Juden als einen Parasiten, der andere Staaten und Völker aussaugt. So schreibt er 1543 aus Eisleben (nicht aus „Alzheim“) folgendes: „„Jawohl, sie [die Juden] halten uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“
Lieber Stefan Weinert,
eine gewagte These, die leider entscheidende Lücken aufweist. So berücksichtigen Sie nicht die katholischen und orthodoxen Judenprogromme, welche sich nicht mit Luther erklären lassen. Intreressanter wäre die Fragestellung zu beantworten, warum es trotz Luthers Schriften nicht zu Progrommen in seiner Zeit gekommen ist.
Zum Antisemitismus hat AP eigentlich alles gesagt. Er ist inherent im Christentum begründet, welches sich ja bewusst als Gegenthese zum Judentum versteht. Das Gerede von der jüdisch-christlichen Leitkultur hat in diesem Zusammenhang, sehen Sie mir den Ausdruck nach, eher sado-masochistische Züge.
Als Christ sollte man eher, gerade zu Weihnachten, darüber nachdenken, wie es einer kleinen Gruppe von 12 Juden gelungen ist, diesen Virus in die Welt zu setzen.
Der christliche Antijudaismus war nur eine Vorbedingung zum nationalsozialistischen Judenmord. Hinzu kamen die „Verwissenschaftlichung“ des Antisemitismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die Bereitschaft der Nationalsozialisten zum Exzess, wie er sich im Mord an geistig Behinderten zeigte, ein „Führer“, der die radikalste „Lösung“ der sogenannten Judenfrage stets mitgedacht hatte und schließlich der Krieg im Osten gegen die Sowjetunion, inklusive der Umvolkungspläne, derden Massenmord – nicht nur an den Juden -erst möglich machte. Ohne die Verantwortung der christlichen Kirchen kleinzureden: Ihnen allein die Schuld für die Shoah zu geben, ist nicht richtig.
Tja, was soll man mit so einer These anfangen? Hitlers Antisemitismus war ein Zeit-Phänomen. Hätte es dieses nicht gegeben, wäre Judenhass kein so beherrschendes Thema gewesen. Aber kausal von Luther auf Hitler zu schließen, ist schlicht unzulässig.
Meine „starke Meinung“: Stefan Weinert hat keine Ahnung von den Interessen des Martin Luther, den Interessen der von ihm kritisierten Hofjuden, der von ihm kritisierten Landesherren.
Des Weiteren setzt er die politisch-ökonomisch begründete Judenfeindschaft Luthers mit dem nationalsozialistischen Projekt Endlösung der Judenfrage gleich, was längst widerlegt worden ist https://wp.me/pxqev-2Lo
Bravo, ein hervorragender Beitrag. Dieses Thema wurde in vielen mir bekannten Städten im Luther-Jahr tabuisiert. So auch in Ravensburg, wo ich in eine Vorbereitungsgruppe zum Lutherjahr eingeladen war. In der 1. Sitzung wollte ich den zum Mord an den rebellischen Bauern aufrufenden „großen“ Prediger thematisieren (nicht weniger widerwärtig Melanchthon) –
und nicht nur in Bezug zu Theologen seiner Zeit setzen, u.a. Erasmus von Rotterdam, Thomas Müntzer, auch einen Giordano Bruno u.a., sondern die Theologen der Befreiung, Lateinamerika, Afrika. Aussichtslos. Ein zweites Treffen hatte sich damit für mich erübrigt. Auch der wildwütige Bauernschlächter wurde tabuisiert. Von seinem Frauenbild nicht zu reden. Es gibt für mich bedeutendere Theologen, Philosophen, Pädagogen als den „großen Reformator“. Von damals bis heute. Erbärmlich, wie – von wenigen mir bekannten Ausnahmen abgesehen – das Lutherjahr begangen wurde.