Ein Gastbeitrag von Karl Adam
Der Zustand der SPD gibt Anlass, erneut über die historische Funktion der Partei nachzudenken. Wer sich mit der Geschichte der Sozialdemokratie beschäftigt, wird schnell merken, dass viele der aktuellen Probleme, Widersprüche und innerparteilichen Konflikte keineswegs neu, sondern vielmehr altvertraut sind.
Vom Umfallen
Man könnte, würde man es böse meinen, eine Geschichte des Umfallens erzählen, die sich wie eine Aneinanderreihung von Unzuverlässigkeiten liest: Da ist der „Sündenfall“ der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914. In den Jahren zuvor hatte es stets geheißen: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ Und noch Tage vor der fast geschlossenen Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion hatte die Partei in der Julikrise zu Massendemonstrationen gegen die „Kriegshetzer“ aufgerufen. Nun aber, da man sich im Abwehrkampf gegen das reaktionäre Russland wähnte, galt „Burgfrieden“, und mit der vielbeschworenen internationalen Solidarität war es nicht mehr weit her.
Zum Ende des Weltkriegs tat Parteiführer Friedrich Ebert beinahe alles, um die Monarchie irgendwie noch zu bewahren. Selbst das insgesamt eher peinliche Zwischenspiel der Kanzlerschaft des Max von Baden trug seine Partei mit. Erst als alles nichts mehr nutzte und die Entwicklung hin zur vollständigen Parlamentisierung nicht mehr gestoppt werden konnte, nahm Ebert selbst die Verantwortung an: „Die MSPD verwandelte sich am 9. November 1918 nicht über Nacht von einer staatstragenden in eine Umsturzpartei. Sie nutzte vielmehr ein zeitweises Machtvakuum, um eine führungslose Revolution, die ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen begonnen hatte, in die von ihr gewünschte demokratische Richtung zu lenken.“ So hat es Heinrich-August Winkler in einem Essay zum 100. Jahrestag des Novemberumsturzes treffend formuliert.
Die Große Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD), die Deutschland von 1928-1930 regierte, und die sich als die letzte parlamentarisch getragene Regierung Weimars erweisen sollte, erinnert, was ihr Zustandekommen, ihre Instabilität und die ängstlichen Profilierungsbemühungen der einzelnen Parteien angeht, in vielem der aktuellen Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD.
Gleich zu Beginn geriet die Koalition aus SPD, Zentrum, links-liberaler DDP und rechts-liberaler DVP in schweres Fahrwasser, als es galt, die erste Zahlungsrate für das schon von der Vorgängerregierung verabschiedete Marineprestigeprojekt „Panzerschiff A“ zu bewilligen. Unter dem seltsam vertrauten Verweis, wegen dieses Themas nicht die gerade erst gebildete Koalition platzen lassen zu wollen, stimmten Müller und die SPD-Minister für den Bau, obwohl SPD und KPD zuvor mit der Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ Wahlkampf gemacht hatten. Dem daraufhin in Partei und Bevölkerung ausbrechenden „Shitstorm“ begegnete die Reichstagsfraktion, in dem sie gegen die Regierungsvorlage stimmte. Aufgrund der heiligen Fraktionsdisziplin stimmten auch die SPD-Minister gegen den eigenen Beschluss; ein Misstrauensvotum gegen sich selbst.
Als Wegscheide in der Geschichte der SPD gilt das Godesberger Programm vom November 1959 mit seinem Abschied vom Marxismus, seinem Anerkennen des Wettbewerbsgedankens und seiner zumindest stillschweigenden Aufgabe des Opponierens gegen die Westintegration. Wenig bekannt ist dagegen der „Deutschlandplan“ vom März 1959, der ebenso wie Godesberg und die nachfolgende „Politik der Gemeinsamkeit“ mit CDU/CSU maßgeblich von Herbert Wehner vorgetragen wurde. Der Deutschlandplan sah vor, in Mitteleuropa eine entmilitarisierte und atomwaffenfreie „Entspannungszone“ einzurichten, die von den USA und der Sowjetunion abgesichert werden sollte. In drei Stufen sollte dann die Wiedervereinigung Deutschlands vorangetrieben werden. Dazu sollte im ersten Schritt eine von Bundesrepublik und DDR paritätisch besetzte „Gesamtdeutsche Konferenz“ die weiteren Schritte vorbereiten. Ein Jahr später wurde der Plan zugunsten der Anerkennung des Unionskurses aufgegeben. Die Engländer sprechen von einem klassischen „U-Turn“.
Bundeskanzler Helmut Schmidt versprach 1976 eine Rentenerhöhung um zehn Prozent, falls die SPD die Wahl gewinnt. Tatsächlich wurde sie zunächst um ein halbes Jahr verschoben und fiel am Ende deutlich geringer aus. Weitere Beispiele für ein „Umfallen“ gibt es bis in die jüngste Vergangenheit: Unvergessen der Wahlkampf 2005, als die SPD gegen die geplante Mehrwertsteuererhöhung um zwei Prozent mit der Parole „Merkelsteuer – das wird teuer!“ anging – nur um dann in der Koalition mit CDU/CSU eine Erhöhung um sogar drei Prozent mitzutragen.
Vom Kompromiss
Ja, eine solche Geschichte der SPD ließe sich ohne Probleme schreiben. Es gibt aber auch noch eine andere Geschichte: Die Geschichte einer Partei nämlich, die mit ihrer Fähigkeit zum Kompromiss die Verankerung demokratischer Spielregeln in der politischen Kultur Deutschlands verankert hat wie keine zweite; die es sich nie leicht gemacht hat in der Abwägung zwischen den Erfordernissen des Augenblicks und der langfristigen Perspektive; die so sehr unter dem im Kaiserreich verpassten Stigma der „vaterlandslosen Gesellen“ gelitten hat, dass sie da ein ums andere Mal meinte, überkompensieren zu müssen – bis zum heutigen Tag. Das große Pathos, das Martin Schulz vor einem Jahr an den Tag legte, als es darum ging, mal wieder „in die Bresche“ zu springen, steht im angenehmen Gegensatz zur Ego-Shooter-Rhetorik eines Christian Lindner (FDP), wonach es besser sei, „nicht zu regieren, als falsch zu regieren“.
Souverän platziert sich die Partei immer wieder zwischen allen Stühlen. Und die Fragen, die sich in dieser Lage jeweils stellen, sind erstaunlich ähnlich: Revolution oder Reform? Reine Lehre oder Kompromiss? Regieren oder Opponieren? Mitgestalten oder außen vor bleiben? Vom bewussten Nichtregieren, um nicht noch mehr enttäuschte Wählerinnen und Wähler an die KPD zu verlieren Mitte der 1920er Jahre bis hin zu Franz Münteferings „Opposition ist Mist“ (2004). Vom Vorwurf der Linken, durch das „Mitmachen“ weiterreichende Fortschritte hin zu einer gerechteren Gesellschaft zu verhindern, den Kapitalismus im Gegenteil dadurch noch zu stärken und zu konservieren, bis hin zur Gegenrede, dass die Gesellschaft eben durch dieses beharrliche Bohren dicker Bretter in kleinen Schritten gerechter wird und der Kapitalismus dergestalt gezähmt und entschärft wird, denn: Die von Marx prognostizierte Massenverelendung hat nicht stattgefunden. Und wenn dann jeweils mitregiert wird: Welcher Anlass ist groß genug, um eine Koalition platzen zu lassen? Wäre das nicht unverantwortlich? Fahnenflucht?
Von Fernzielen
Wenn der Befund stimmt, das so vieles ähnlich geblieben ist, und die heutige Situation der SPD keineswegs ein Novum in der Parteigeschichte darstellt, was ist dann anders? Warum geht es mit den Umfragen auf Bundesebene immer weiter bergab? Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick zurück auf die Anfänge der SPD als die marxistische Partei, die sie spätestens während des Bismarck’schen Parteiverbots in der Zeit des „Sozialistengesetzes“ wurde (1878-1890). Im großen Revisionismusstreit erklärte der Parteitheoretiker Eduard Bernstein (1850-1932), dass die bisherige Ausrichtung auf Klassenkampf und Abschaffung des Kapitalismus durch die Realität überholt sei. Dieser habe sich als krisenfest und anpassungsfähig erwiesen, so dass die SPD nur im Rahmen der bestehenden Produktionsweise durch Sozialreformen Verbesserungen für die Arbeiter und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards erreichen könne („Der Weg ist mir alles, das Ziel ist mir nichts“). Dem gegenüber stand Karl Kautsky (1854-1938), der die Schriften und Inhalte des Marxismus wie kein zweiter in seiner Partei etabliert hatte. Er und andere Parteilinke wie etwa Rosa Luxemburg (1871-1919) traten für ein Festhalten an der marxistischen Programmatik ein und wurden dabei vom Parteivorsitzenden August Bebel unterstützt. Der schaffte einen klugen Ausgleich, indem er rhetorisch die marxistische Grundlage sozialdemokratischer Politik verteidigte, in der Tagespolitik jedoch durchaus einen reformistisch-pragmatischen Kurs verfolgte.
Die Bedeutung des Marxismus für die frühe Sozialdemokratie darf dabei nicht unterschätzt werden. Es ist vielfach beschrieben worden, dass er den Arbeitern als „Religionsersatz“ diente. Der feste Glaube an die Revolution, die unweigerlich und notwendig irgendwann kommen würde, verlieh Hoffnung, Halt und Sinn im oftmals trüben Alltag des Industrieproletariats. Die Formulierung von gemeinsamen „Glaubenssätzen“ war es erst, die aus der Sozialdemokratie eine Massenbewegung machte. Sie trug entscheidend zur Etablierung einer spezifischen Arbeiterkultur, eines gemeinsamen Ethos und einer weitgehend unwidersprochenen Gruppen- und Klassensolidarität bei, die sich bis weit in unsere Gegenwart erhalten konnte. Auch wenn der Marxismus, so wie „die letzten Dinge“ allgemein, in Godesberg aus der offiziellen Programmatik entfernt wurde, so konnten sich spezifische Traditionsbestände, nicht zuletzt was Rhetorik und Kultur angeht, noch lange halten – bis etwa zum Wahlsieg 1998 und dem Projekt der Neuen Mitte.
Traditionsbestände, die auf erloschenen Grundlagen basieren, sind irgendwann aufgebraucht. Sie erscheinen dann künstlich, manchmal fast peinlich, und entfalten schließlich keine integrierende Wirkung mehr.
Die SPD hat es aber in all den Jahren versäumt, ihre Sinnbestände wieder aufzufüllen und einen Ersatz für das Fernziel der Revolution und der klassenlosen Gesellschaft zu formulieren. Lange Zeit hat sie Herz und Verstand bedient. Heute hat sie sich dem reinen Pragmatismus verschrieben. Ohne mittel- und langfristige Vision ist sie zum Reparaturbetrieb des Bestehenden geworden. Erkennbar reicht das nicht, um gesellschaftliche Mehrheiten zu generieren. Der offizielle Erneuerungsprozess der Partei beschränkt sich bislang auf Oberflächenkosmetik. Im Regierungshandeln soll jetzt ein „Fahrplan“ definiert werden, der Themen herausstellt und mit Deadlines versieht. Es ist wohl nicht gewagt zu behaupten, dass dieses Vorgehen keine grundlegende Wende bringen wird.
Gefragt ist also ein neues Leitbild, damit die SPD nicht zum Opfer ihres eigenen Erfolges wird. Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen: Wie wäre es mit einer ökologisch nachhaltigen Postarbeitsgesellschaft mit sozial gestalteter Digitalisierung in einem vereinten Europa, die den Wachstumsgedanken ganz neu definiert? Auf dem Weg zu diesem Fernziel sollte doch einiges möglich sein.
Dr. Karl Adam, Historiker und Politologe, arbeitet als Portfolio Projektmanager bei einem Industrieunternehmen in Göttingen. Zuvor war er als Geschäftsführer der SPD Hamburg-Mitte und als Unternehmensberater in London tätig. Er bloggt regelmäßig unter https://imgegenlicht. wordpress.com.
Besonders wichtig wäre die Rückkehr zur Sozial-Demogratie: Die sozialen Errungenschaften, die klamm-heimlich in den letzten Jahrzehnten abgebaut wurden wieder auf zu bauen und der nächste Schritt in Richtung Demokratie. Beispiel zu 1: Warum müssen sich Menschen, die beruflich entsorgt wurden (wegen der halbjahrlichen Rausschmeißmöglichkeit) sich innerhalb von 3 Tagen Arbeitslos melden und verlieren finanziellen Anspruch, wenn sie völlig fertig sind und es nicht geschafft haben? Gängelung nenne ich das. Wieso muss man die (knappe) Rente versteuern? Wieso wird für HarzIV Empfänger und 450.-€ Kräfte kein Rentenbeitrag eingezahlt, sodass sie dann in Armut alt werden müssen? Warum bekomme ich nur noch Arbeitsverträge mit 40 Stunden + angeboten, wo ist das Bemühen zur 35 Stundenwoche? Wieso gibt es eine Frauenquote nur für den Aufsichtsrat und nicht für Firmenvorstände? Wieso müssen Gehälter nicht öffentlich einsehbar sein, sodass Ungerechtigkeiten sichtbar werden und endlich ausgeräumt werden können? Wieso wird keine Zuckersteuer zum Wohle der Gesundheit eingeführt?
Zu 2.: Die Politikverdrossenheit rührt daher, dass wir Bürger immer noch keine echte Mitbestimmung haben. In den technischen Zeitalter wäre das aber ein Leichtes: Abstimmung von Bürgern über die wichtigen Entscheidungen in unserem Land (freiwillig via Internet).
Früher hatte die SPD sich solcher Themen angenommen und sich Rückradstark gegen die Lobbys und Besitzenden/Ausbeutenden gestellt.