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Wen darf ich töten?

Von Alexander Görlach, Herausgeber und Chefredakteur „The European“:

Das fünfte Gebot lautet: Du sollst nicht töten. Es steht im 2. Buch Mose. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wenige Seiten weiter im heiligen Buch von Juden und Christen das Töten fröhliche Urständ feiert und Unschuldige massakriert werden? Meine Antwort darauf ist: weil die Adressaten des Gebots die göttliche Weisung nur auf die Angehörigen ihres Stammes bezogen. Der andere, der Fremde, der darf weiterhin getötet werden. Der Nächste – er lebt nur in meiner Sippe.

Das Christentum setzt eins drauf auf das mosaische Gebot. Die Frage des Pharisäers “Wer ist mein Nächster?” beantwortet Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk, 10,25-37), einem zentralen Element der Lehre des Nazareners, das zur Basiskenntnis über das Christentum gehört, zur Lektüre auch zu empfehlen für Nicht-Christen und Atheisten. Jesus weitet den Kreis über die eigene Sippe hinaus. Der Samariter, das war in den Augen der Juden kein Jude. Die Samariter galten als Ketzer, mit denen man sich nicht abgeben durfte. Er ist es aber, der den verletzten und halb Totgeschlagenen verarztet.

Der neue Weg, wie das Christentum am Anfang in Jerusalem genannt wurde, weitet das Gebot “Du sollst nicht töten” über die Grenze des Stammes. Jesus, so schreibt Paulus, reißt die Trennwand zwischen Juden und Heiden ein. Die Grenze nach außen bildet nun die nicht christliche Welt. Innerhalb der Grenzen sind “alle einer in Christus” (Gal. 3,28). Auch der Islam übersteigt die Grenzen der Stammeswelt in seinem neuen Bekenntnis: Die umma al islamiyya, die Gemeinde der Gläubigen, ist weltumspannend wie das universelle Christentum. Der gemeinsame Glaube bindet die jeweiligen Gruppenangehörigen aneinander. Das Christentum wird Reichskirche, die Völker, die den Islam annehmen, nehmen das Arabische an und damit eine neue, Einheit stiftende Kultur und Lebensweise. Zuerst bindet das Band der Familie, dann das Band der Religion.

Das “Alle Menschen werden Brüder”, das Schiller in seiner Ode an die Freude (eigentlich Ode an die Freiheit) formuliert, markiert am treffendsten den dritten Schritt, in dessen Wirkkreis wir uns heute befinden: Es wird das Band der Menschheitsfamilie beschworen. Die dem Menschen von Geburt an zukommende Freiheit ist hier das verbindende Element. Dort, wo sie nicht herrscht, muss sie zur Geltung kommen. Der Gesellschaftsvertrag von Rousseau beginnt mit der Beschreibung des Status quo:

“Der Mensch ist frei geboren und liegt überall in Ketten.” Das Zeitalter der Revolutionen schafft eine säkulare Welt, in der Herrschaft nicht mehr absolut ist und Untergebenheit kein Schicksal oder Wille einer höheren Macht. Aus der Freiheit des Christenmenschen wird die Freiheit des Bürgers. Was bedeutet das für das Gebot “Du sollst nicht töten”? Es gilt heute absolut, unabhängig davon, wie stark der Sippenverbund ist oder wie stark der Glaube.

Stimmt das “Seid umschlungen, Millionen”, sind wir uns als Menschen näher gekommen? Zwar ist uns das, was direkt um uns herum passiert, immer noch näher als das Ferne und Fremde. Dennoch spenden wir Rekordsummen nach einem Erdbeben auf Haiti oder einem Tsunami in Südostasien. Die Erderwärmung versetzt uns in Mitteleuropa nicht in Vorfreude, weil wir hier dann bei uns gewachsenen Chianti genießen können, sondern in Sorge, weil wir zur Empathie mit den Menschen in Bangladesch in der Lage sind, denen eine Erwärmung der Atmosphäre apokalyptische Überschwemmungen bringen und ihren Lebensraum nehmen wird.

Das Projekt Menschheitsfamilie funktioniert. Das Konzept ist rational, es ist nachvollziehbar. Es lebt für Menschen mit Gemüt besser mit etwas Pathos, kann aber auch für kalkulierende Geister in einem Kosten-Nutzen-Schema mithalten. Der Nächste, das ist jetzt nicht mehr mein Blutsverwandter oder mein Glaubensbruder. Es ist jeder Mensch. Diese Einsicht markiert den Beginn der Moderne.

Der Islam ist in diesem Sinne eine vormoderne Religion. Er kennt, in seiner Heiligen Schrift (Schritt zwei), eine gewisse Schutzbedürftigkeit von Juden und Christen an. Er leitet diese aber religiös her (Juden und Christen haben eine Heilige Schrift empfangen). Um unsere Menschenrechtserklärung (Schritt drei) macht die islamische Welt noch einen Bogen. Im Jahr 1985 haben Vertreter von Ländern dieser Hemisphäre in Kairo eine eigene Charta für islamische Menschenrechte verfasst und unterschrieben.

Das Wohl und Wehe von Nicht-Muslimen in weiten Teilen der islamischen Welt hängt derzeit noch von der Auslegung des Koran durch den Imam im Dorf, die Religionsgelehrten an der Universität, den Willen der herrschenden Elite ab. Es gibt keine unverbrüchliche, rechtliche Garantie auf ein unversehrtes Leben. Es gibt Voll-Bürger (Muslime) und minderwertige Bürger (Nicht-Muslime). Religiöse Minderheiten leben schlecht unter islamischer Herrschaft, gleich, ob in der Türkei oder in Ägypten oder andernorts.

Warum ist das so? Vielleicht, weil Christen und Muslime in der Geschichte ihrer Begegnung nie einander Samariter waren? Gibt es einen Weg für Muslime von Level zwei nach Level drei? Nach dem Dreißigjährigen Krieg schlossen Protestanten und Katholiken Frieden unter der Maßgabe “etsi Deus non daretur” – als ob es Gott nicht gäbe. Das kann der Weg sein. Muslime müssen dann nicht ihren Glauben aufgeben. Sie müssen nur erkennen, dass man mit ihm nicht alle Fragen beantworten und alle Probleme lösen kann. Der Glaube an die Freiheit ist schwieriger als der Glaube an das Dogma.

zuerst erschienen auf www.theeuropean.de

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3 Gedanken zu “Wen darf ich töten?;”

  1. avatar

    Lieber Alan,

    danke für Ihr Lob, wenngleich es an dieser Stelle natürlich vergiftet ist. Ich wollte mit meiner Kolumne ja nicht den Papst treffen.

    Das was Sie über den Papst schreiben entspricht in etwa, wenn ich Sie richtig verstehe, dem, was Sie über das Judentum sagen: Wenn alle Menschen Christen sind, wird es bestimmmte Probleme nicht mehr geben. Genauso, wenn alle Menschen sich an die sieben noachidischen Gebote halten.

    Die Vielfalt in der Realität ist es, die den Theoretikern aller Konfessionen und Religionen das Leben so schwer macht. Denn alle religiösen Systeme sind kohärent, wenn man ihre Prämissen akzeptiert. Prämissen, die keine empirische Grundlage haben,deswegen hoch spekulativ sind und nicht umsonst in der Nähe zur Philosophie stehen.

    Unsere Omi hat – als gute Katholikin – einen Satz parat gehabt, wenn es auf die komplexe Wirklichkeit zu sprechen kam, die sich nicht selten im Spannungsfeld mit dem Dogma oder der Moralvorstellung der Kirche bewegt: „Unsern Herrgott hat einen großen Tiergarten.“ Mit anderen Worten: Was möglich ist, kommt vor. Beziehungsweise: Die Welt ist das, was der Fall ist.

    So sind Christenmenschen wie meine Omi oder meine Wenigkeit in der Lage, unser religiös grundiertes Weltbild mit der Realität abzugleichen und unsere Perspektive zu erweitern. Alles andere würde direkt in Fanatismus und Radikalität führen.

    Herzlich
    Ihr
    Alexander

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    Lieber Alex, das ist ein schöner Text, und die überraschende Wendung am Schluss, nämlich dass erst „leben, als gäbe es keinen Gott“ den Frieden zwischen den Menschen stiften könnte, ein Schlag ins Gesicht Benedikts XVI., der alle Welt aufgefordert hat, zu leben „etsi deus daretur“ – als ob es Gott (den christlichen) gäbe. Mir darum sehr sympathisch. Was Sie aber über das Judentum schreiben, ist schlichthweg falsch. Der rabbinischen Tradition zufolge gelten die „noachidischen Gebote“ für alle Menschen.
    Eine Liste der sieben Noachidischen Gebote findet sich im Talmudtraktat Sanhedrin 13, aber auch in der Tora werden sie angedeutet (Genesis 9, 1-13), wo Gott ja einen Bund mit allen nachkommen Noachs – also allen Menschen der Erde – schließt.
    Im Talmudtraktat Sanhedrin 56a/b werden die folgenden sieben noachidischen Gebote definiert:
    Verbot von Mord, Diebstahl, Götzenanbetung, Unzucht, Brutalität gegen Tiere, Gotteslästerung; Gebot der Einführung von Gerichten als Ausdruck der Wahrung des Rechtsprinzips.

  3. avatar

    Benötigen Menschen tatsächlich eine modernisierte Religion a la „menschenfreundlichem“ Samariter-Christentum oder weltweitem Islam?

    nur die eigene Sippe zu akzeptieren und fremde Menschen nicht als Menschen, sondern allenfalls als Konkurrenten, zu erkennen – das ist die Stufe der Schimpansen.
    jeder Schimpanse, der nicht gerade als Sexualpartner genau in dem Moment attraktiv ist, ist Konkurrent und wird vertrieben oder erlegt.

    Menschen, die ein Hilfskonstrukt benötigen, um im anderen Menschen nicht Konkurrenz oder Beute zu sehen, sind nur einen Fingerbreit über der Stufe der SChimpansen…

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