Foto: Anton Corbijn, Offizielles Foto zum Album „Memento Mori“
Die legendäre Band Depeche Mode hat ihre „Memento Mori“-Tour 2024 in Mexico City beendet. Ist es die letzte Tour? Kürzlich erschien das Abschlusskonzert auf CD. Eine Verbeugung von Ulf Kubanke.
Mexico-City 2024: „Come with me into the trees.(…) Let me see you stripped down to the bone.“
Der knochige Beat weist den Weg gen Trance. Darin ergießen sich sinistre Schamanenvocals.
„Let me hear you crying just for me.“ Die lediglich angedeutete Zuckerwatte eingestreuter Soundscapes vermag die Dunkelheit nicht aufzuhalten, geschweige denn ihre Sinnlichkeit. Kein bisschen.
Willkommen in Gahan ’n‘ Gores dräuendem Temple aus Schmerz und Lust, aus Messe und Party, aus Empathie und Sarkasmus: Depeche Mode „Memento Mori live in Mexico“.
Das letzte Konzert der Memento Mori-Tour und damit eventuell ihr Final Gig erweist sich – das nehme ich gern vorweg – als Triumphzug. Ein klanglich wie atmosphärisch anmutendes Hörerlebnis auf ganzer Linie. Immer wieder ruft Gahan „Mexico City“ auf Englisch, seiner Muttersprache.
Dunkelheit, Sinnlichkeit und Sensenmann – alles zusammen bei Depeche Mode
Dabei war die Ausgangslage für so eine Veröffentlichung alles andere als rosig. Nüchtern betrachtet: „Vom Sensenmann dezimierte Synthiepop-Kapelle macht mit Ü60 ihr achtes Livealbum, na und?“
Doch getreu des obig zitierten Verführungskloppers „Stripped“ „aus dem Album „Black Celebration“ 1986, meinem persönlichen Lieblingsstück, also „Stripped“) erweisen DM sich einmal mehr als effektive Zeremonienmeister, an denen gängige Reichsgeneralbedenkenträger aus der musikpolizeilichen Provinzabteilung sich ihre vorurteilsbeladenen Zähne ausbeißen.
Warum ist das so?
Niemals ist im Hause DM die letzte Messe gelesen, ohne das jeweilige Studiowerk angemessen in ihrem Gesamttempel of Sound zu verankern.
Das methodische Prinzip führt mittlerweile zu einem ansehnlichen Livearchiv, welches Facetten und Phasen in verschiedenen Nuancen wie Produktionsstilen und Arrangements präsentiert und dergestalt nebenbei nahezu jeden Song in unterschiedlichen Live-Gewändern offeriert.
Was macht Depeche Mode so spannend? Überraschung: Die Weiterführung von Black Music
Weshalb nun sollte dies interessant sein?
Ganz einfach.
Bei Depeche Mode handelt es sich um keine stereotype Synthiekapelle. Weit gefehlt.
Im Grunde ist DM so etwas wie die Weiterführung von Black Music mit anderen Mitteln. Soul, Blues oder Gospel erweisen sich seit über vierzig Jahren als kraftvolles Fundament ihres Klangbildes (vgl. etwa „Pipeline“ von „Construction Time Again“ 1983).
Letzteres manifestiert sich mal rhythmisch (auf „Violator“, ihrem ikonischen Album aus dem Jahr 1990) nutzen sie zwischendrin einen auf Prince basierenden Beat, einen funky Einschlag), dann wieder gesanglich, besonders bei Gores Balladen-Vocals und ihrem gekonnt ästhetischen Harmonie- wie Duettgesang.
Depeche Modes ganz und gar eigener Weg der Entdeckungslust: Die Band mit zwei Seelen
Hinzu kommt: Szenen waren nie von irgendeinem Interesse. Sie folgen ihrem ganz und gar eigenen Weg kreativer Entdeckungslust, vom symbolisch pointierten Artwork bis hin zur Kombination scheinbar inkompatibler Stilmittel.
Daraus entwickelt sich über die Jahre – ca. seit „Violator“ ein Hinzufügen klassischer Rockelemente wie E-Gitarre und Piano. Schlüsselorgan ist jedoch besonders auch live das seitdem vorhandene organische Schlagzeug. Seit 30 Jahren haben sie nun mit Christian Eigner einen (österreichischen) Drummer der Extraklasse. Im Grunde ein Bandmitglied.
Mit seinem organischen Gewitter eignet er sich hervorragend, beide Seelen in ihrer Brust – das Blackmusic-Schwarz und das Gothic Industrial Schwarz – beim Gig perfekt homogen in große Popmelodien zu integrieren.
Die lieben Verwandten zu DM: Nine Inch Nails und Gary Numan
Im kontextuellen Ergebnis rangieren sie auf Konserve wie live folglich bei anderen großen Grenzgängern wie etwa artverwandten Klangmagiern Nine Inch Nails oder Gary Numan.
Mit letzterem teilt sich Martin Gore ohnehin die Goldmedaille für das Erfinden bzw. Popularisieren der Synthie-Hook. Ein Haken, von dem man nicht mehr recht los kommt.
Kein Wunder bei solch offenkundig musikgenetischer Ähnlichkeit, dass Gary sie fast entdeckt hätte.
Ja, „fast“.
Wie war das noch, Gary, stimmt es, dass du in der ersten Zeit f a s t Depeche Mode entdeckt hättest?
Gary: Ja, das stimmt. Ich war 1980 in einem Nachtclub in London und sie spielten da. Total kleiner Untergrundclub. Es gab nicht mal eine richtige Bühne. sie haben einfach auf dem Dancefloor gespielt. Ich fand sie wirklich fantastisch und wollte sie für Beggars Banquet gewinnen. Aber sie hatten schon ein paar Tage vorher einen Deal mit einem anderen abgeschlossen. Also habe ich leider keine wirklich coole Story zu erzählen. (lacht)[1]
Cool genug immerhin, dass DM bekanntermaßen bei Danny Millers Mute und im Studio von John Foxx (Urgestein, Hörbefehl: mit Ultravox, „Systems of Romance“ (1978) & solo „This City“ (1979)), wo sie ihren Signatur-Sound erfanden.
Lange Rede kurzer Sinn: DM bauen – auch live deutlich hörbar – oft und gern gut sichtbare Hommages ein.
Depeche Mode und die Kraftwerk-Anspielungen und anderen Reminiszenzen
Kraftwerk-Anspielungen ziehen sich dabei ohnehin als Faden durch ihren Katalog. Im obigen Zusammenhang empfehle ich den Konzertopener „My Cosmos is mine“. Die rhythmisch klangliche Grundierung liegt live deutlicher als im Studio bei Nine Inch Nails. Von der Seite lümmelt sich im Verlauf eine Synthie-Hook dazu, die eins zu eins den frühen Gary Numan „Down in the Park“ fragen lässt ob „Friends electric“ seien & das im obig erwähnten Soundstyle des John Foxx Studios anno 1983. Diesen Pro Ukraine Track dabei als Ouvertüre des Konzerts zu nutzen, mag man durchaus als Statement verstehen.
Mit all diesen gewaschenen Wassern können ihnen an diesem Abend zwei Dinge qualitativ nichts anhaben:
Der tragisch frühe Tod des Keyboarders Andy Fletchers – wie auch das mittlerweile existente Alter. Das Album „Memento Mori“ hatten sie vorher geplant. Und Fletcher starb mitten in den Vorbereitungen. Und so ist das nahezu Metaphysik, dass das ausgerechnet zu dieser Zeit passierte.
Im Gegenteil: die Katharsis Herz an Herz mit dem Publikum birgt Extase und Heilung simultan.
Das Alter? Gore hört man es null an. Gahan dimmt sein kraftvolles Organ einfach einen Halbton tiefer.
Klappt.
OK, jetzt brauche ich natürlich zwei Klopper, die alles untermauern.
Die electrobluesf… Ebene und der Hammer „Personal Jesus“
Auf der fett elektrobluesfuckenden Ebene tackern sich die Klassiker „I feel you“ und „Personal Jesus“ in Bauch wie Hirnrinde.
Ersteres aus Gahans heftigster Sex & Drugs & Rock’n’Roll Phase anno 1993 („Songs of Faith & Devotion“, natürlich mein persönliches DM Lieblingsalbum…ich bin so berechenbar…). Traditionell führt er den romantischen Text durch die offensiv bis aggressiv dargebotene Intonation ad absurdum. Heftig tanzbar und hypnotisch.
Und klar: „Personal Jesus“ vom Meilenstein „Violator“ (1990).
Wer spontan denkt: „Achso, haben die Jungs nett von Johnny Cash gecovert.“,
klickt zur Strafe bitte diesen Artikel 100 mal.
Der ikonische Song schlechthin, das Monster, verhalten zu Beginn: „Personal Jesus“
Erdig, sandig, abgerockt startet das Monster verhalten-atmosphärisch. Fährt fast ganz runter.
Synthigehechel.
Bratzgitarre.
Bämm.
Als industrieller Fabrikhallenblues shufflet sich die Kreatur voran.
Im folgenden Groovepart zeigt sich erneut das kickende Element von Eigners Schlagzeug.
Was fehlt? Natürlich könnte man eine Depeche Mode Kolumne verfassen, ohne „Enjoy the Silence“ zu erwähnen. Aber das wäre vollkommen sinnlos, oder?
„Enjoy the silence“ – Dave Gahan mochte die Idee des Videos nicht, aber es wurde eines der berühmtesten Videos der Musikgeschichte
Klar, die Hook für die Ewigkeit. Und gute Sitcom damals beim Clipshooting. Vor 35 Jahren stapfte Dave frierend und fluchend als „Petit Prince“ durch Corbijns excupereske Schneelandschaft. Anton Corbijn, der Mastermind hinter der optischen Ikonografie von Depeche Mode und den Videos, steht auf Saint-Excupery. Die Band fand’s hochkomisch.
Gahan hingegen war kein übertriebener Anhänger der Idee, holte sich ’ne ordentliche Erkältung & der Effekt: Eines der berühmtesten Videos der Musikgeschichte.
Tja, zumindest etwas wärmer hat er es hier in Mexiko. So enttäuscht die Live Version kein Bisschen. In punkto Groove orientieren sie sich an einer der damaligen 12 Inch Versionen des schönen Liedes.
Und dann – Mexico-Ciudad – kommt bitte wieder, Dave und Martin
Und dann?
Nach dem Gig?
Haben Depeche Mode alles gesagt?
Bis hierhin mit Bravour, schätze ich.
Kniefall & Chapeau.
War es das?
Enjoy the Silence forever? Hoffentlich nicht.
Erschöpft mögen sie sein.
Satt wirken sie keine Sekunde.
Mögen diese beiden kreativen Geister gestärkt zurückkommen, in welcher DM – Inkarnation auch immer.
Nicht nur nach Mexico, nicht nur am „Tag der Toten“, dem „Día de los Muertos“.
[1] Quelle: Interview von mir mit Gary Numan.
Depeche Mode, Memento Mori, Mexiko, Tour, Stripped, Martin L. Gore, Dave Gahan, Día de los Muertos
Warum trägt der Typ rechts im Bild eine Sonnenbrille? Es ist offensichtlich ein grauer, kalter Tag ohne Sonne.
Das ist Dave Gahan und die Düsternis gehört zu Depeche Mode. Deshalb, vermute ich, die Sonnenbrille auch an einem grauen Tag.