Die Kessler-Zwillinge, geboren in Nerchau (sächsisch: „Nerche“), heute ein Ortsteil von Grimma, sind gestorben. Alle beide. Am gleichen Tag. Im Alter von 89 Jahren. Alle beide.

Darf man so was überhaupt machen bei uns im christlichen Abendland? Falsche Frage, denn das „darf man“ auch im christlichen Morgenland „nicht machen“. Also dort, wo das orthodoxe Kreuz überm Zwiebelturm prangt. Fahren Sie doch mal an die chinesische Grenze nach Chabarowsk am Amur und fragen Sie den dortigen Popen. Er wird es Ihnen bestätigen: Das gehe gar nicht!
Warum eigentlich nicht?
In der Bibel ?
Können Sie mir ein einziges Gebot oder Verbot, nur eine einzige Mizwa in der Bibel nennen, die da heißt: „Du sollst Dir nicht das Leben nehmen“?
Können Sie nicht, gelle?
Aber Religionen sind kein Guß aus Urzeiten. Auch „unsere Religion“, die des christlichen Abendlandes, ist nicht das, was Gott der Herr vor dreitausendzweihundert Jahren oben auf dem Berg Horeb spruch. Oder was Jesus als das Evangelium verkündete. Religionen entstehen auch nicht dadurch, dass der Prophet Moroni am 21. September 1823 altägyptische Inschriften auf Goldtafeln in den New Yorker Slang übersetzte. Oder indem der Engel Gabriel ein heiliges Buch offenbart.
Religionen haben ihre Entwicklungsgeschichte. Glaube antwortet auf anderen Glauben. Schließt sich ihm an oder widerspricht ihm. Verwirft ihn als Ketzerei.
Die Erzketzerei unseres christlichen Abendlandes (und auch die des christlichen Morgenlandes) ist das Katharertum. Davon kommt dann auch die Verdeutschung „Ketzer“.
Die Katharer oder Albigenser lehrten es im Mittelalter in Südfrankreich und Norditalien und ihre Brüder, die Bogumilen lehrten es auf dem Balkan: Böse sei die Welt, erschaffen von einem Erzbösewicht. Beherrscht werde sie von einer bösen Kirche mit bösen Bischöfen, die alle dem Erzbösewicht dienten. Alles hoffnungslos. Der einzige Ausweg daraus sei der Tod und das Entschwinden ins himmlische Elysium. Zu erringen in einer hochheiligen Handlung: Der Endura, auch genannt „abstinentia“.
Der Heilige legt sich zur abstinentia hin, isst und trinkt nicht mehr und wartet auf das Himmelreich. Selbstmord durch Verdursten, gewissermaßen. Einzelne Akten der Inquisition behaupten, die Ketzer hätten auch Kinder so in den Tod geschickt.
Geht gar nicht, oder? Wo Gott der Herr den Menschen doch nach seinem Bild geschaffen habe und er allein über Leben und Tod entscheide?
Der Agnostiker in Ihnen wird jetzt fragen: Ist dem so? Hat Gott den Menschen erschaffen? Oder schuf der Mensch sich seinen Gott? Nach seinem Bilde?
Was müssen das für furchtbar lebensmüde Menschen gewesen sein, diese Katharer, dass sie den Tod herbeisehnten? Müde vom Leben und ziemlich verzweifelt, oder?
So etwas gibt es keineswegs nur im Vorgestern. Als ich 1993 in St. Petersburg meine Wahlstation im Referendariat ableistete, habe ich sie auch dort gesehen: Die jungen Männer in den langen weißen Gewändern, die in den U-Bahn-Stationen standen und ihre Prophetin Maria Devi Christos verkündeten. Am 24. November 1993 werde die Welt untergehen, wussten sie.
Tatsächlich war auch mir im Sommer 1993 nicht so recht klar, wie es hätte weitergehen können auf den Trümmern des Sowjetimperiums. In diesem Elend, in dem ein Stück Butter eine halbe Monatsrente der Babuschkas kostete und die Inflation mit 1000 % im Jahr galoppierte.
Verboten?
Sich umbringen verboten?
Noch mal: Finden Sie mir bitte ein einziges Gebot in der Tora, im „Alten Testament“, welches das verbietet!
Da finden Sie allenfalls das Verbot, die Toten zu befragen. Zu fragen, wie es denn im Elysium so sei, zum Beispiel. Was nicht gefruchtet hat, offensichtlich. In unseren Zeitungen und sogar auf diesem Blog finden Sie immer wieder Experten, die sehr präzise wissen, was diese oder jene verstorbene Autorität uns aktuell aus seinem Totenreich zu sagen wünsche. Über die AfD zum Beispiel.
Nein, die Bibel weiß nichts Genaues über die Toten und das Jenseits und will es gar nicht wissen. Im Gegensatz zu den Mythen in Israels Umgebung, den Mythen der alten Ägypter und Babylonier.
Das schrieb ich ja schon: Glaube antwortet auf anderen Glauben. Schließt sich ihm an oder widerspricht ihm. Verwirft ihn als Ketzerei.
Unser christliches Verständnis widerspricht der abstinetia der Ketzer besonders heftig:
Selbstmord sei ein Verbrechen, so sagen die Kirchen.
Wie sähe die Strafe aus?
Logisch, dass in der Bibel nicht beschrieben ist, wie der Selbstmörder zu steinigen sei, oder? Er ist ja schon tot.
Aber das wäre jetzt ein Gedanke der Aufklärung. Cesare de Beccharia legte ihn dar in seinem Buch über die Verbrechen und Strafen von 1764. Auf deutsch erschienen ab 1766 in mehreren Übersetzungen.

Man könne sowieso nur den versuchten Selbstmord bestrafen, so Beccharia. Aber das wäre sehr ungerecht gegenüber dem Geretteten. Oder es würde den Strafzweck verfehlen. Weil der verhinderte Selbstmörder bei Bestrafung unverzüglich den nächsten Versuch unternehmen wird.
Man könnte die Angehörigen bestrafen. Wegen ihres Wegsehens oder gar Mithelfens beim Selbstmord. Mit dem Entzug aller Erbrechte bestrafen, zum Beispiel. Aber das wäre noch ungerechter.

Mein Lieblingsphilosoph ist Beccharia übrigens aufgrund seiner daran anschließenden Überlegungen:
Kann man die Flucht außer Landes bestrafen?
Die „Republikflucht“? Sollte man das tun?
Auch hier stellt Beccharia fest: Ist die Tat vollendet, ist Strafe nicht mehr möglich. Weil der Flüchtige weg ist. Auch hier kann nur der Versuch bestraft werden. Ach, was heißt Versuch? Schon die Absicht müsse dann verfolgt werden. Und das würde den Staat in ein Gefängnis verwandeln. Das sei dann auch eine Warnung an jeden Fremden, sich dort auf keinen Fall niederzulassen.

Doch, Selbstmord war trotz allem bis in das vorige Jahrhundert hinein strafbar in einigen europäischen Ländern. Und „Beihilfe zum Selbstmord“, das ist so eine „Grauzone“, über die selbst die „Welt“ sich nicht einig ist.
Warum eigentlich ?
Schön, dass auch wir mal darüber geredet haben.
Ja ist das denn zu fassen? Und das von einem Juristen! Kein Link zu einer Suizidberatung?
Kein Warnhinweis:
„Wir berichten nur in Ausnahmefällen über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind, wenn sie Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlose Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123. Die Deutsche Depressionshilfe ist in der Woche tagsüber unter 0800 / 33 44 533 zu erreichen.“
Hab ich hier gefunden:
https://www.deutschlandfunk.de/berichterstattung-ueber-suizide-die-richtigen-worte-finden-100.html
Ja so ist das rechtlich und auch vom Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich bestätigt.
Aber ich habe dabei immer ein wenig Magengrimmen. Wenn man noch einigermassen klar im Kopf ist und das Leben nicht mehr lebenswert erscheint, hab ich dafür ein gewisses Verständnis.
Was ich immer problematisch fand, waren Leute wie Walter Jens, der verkündete, er wolle lieber sterben, wenn er einen Punkt erreicht habe, wo er so verwirrt seien, dass er nicht mehr wisse, wer er sei, wo er sei und wenn er seine Familie nicht mehr erkenne.
Sowas habe ich auch von anderen – vor allem Männern – dieser Generation gehört und da habe ich mich immer gefragt, ob das nicht der unmenschlichen und auch unchristlichen Ideologie des „unwerten Lebens“ entsprang.
Sie schreiben das alles sehr schön formuliert und gut begründet. Ja, das ist schön, wenn man so etwas schreiben kann und zeugt von Ihrem Intellekt.
Aber auch wenn das Hirn verfällt, bleibt man Mensch, und mich überzeugen die Worte des dementen Walter Jens genauso wie Ihr schöner Text, als er zu seiner Frau die Worte sagte: „Nicht totmachen, bitte nicht totmachen!“
https://www.morgenpost.de/printarchiv/kultur/article104306297/Walter-Jens-Bitte-nicht-totmachen.html
Ich weiss nicht, ob ich noch an Gott glaube und die Einzigartigleit der Schöpfung. Wenn ich über diese Geschichte von Walter Jens nachdenke, eher schon.
Lieber Herr Walther,
ich wünsche ein sonniges Wochenende!
Ihr 68er
B.W. ‚Verboten?
Sich umbringen verboten?
Noch mal: Finden Sie mir bitte ein einziges Gebot in der Tora, im „Alten Testament“, welches das verbietet!
… schon geschehen. … irgendwann werden auch Sie die Gelegenheit haben das auszudiskutieren. 😉