„Ich habe nicht die Macht, meiner Schwester Gesine Walther eine Karriere als DDR-Spitzensportler zu eröffnen oder zu verschließen.“
Sagte ich im Dezember 1980 dem Vernehmungsoffizier des Ministeriums für Staatssicherheit, dem Leutnant Zahn. Bei ihm saß ich ein seit dem Sommer des Jahres. In einer seiner Zellen. Im Untersuchungsgefängnis in Halle/Saale, am Kirchtor 20a.
Gefasst war ich worden an der ungarisch-österreichischen Grenze und war eines Verbrechens verdächtig. Ich hätte nicht in die DDR zurückkehren wollen. „Und nun,“ so hatte mich der Leutnant vorwurfsvoll angesehen in jenem Dezember 1980:
„Und nun haben Sie die Sportkarriere Ihrer Schwester beendet. Bevor sie überhaupt begann. Die Sportkarriere des derzeit größten Lauftalentes unsrer Republik, wie mir ihr Sportklub versicherte. Erst vor zwei Monaten ist sie volljährig geworden.“
Der Vorwurf war irgendwann zu erwarten. Deshalb hatte ich mir den eingangs zitierten Satz ja zurechtgelegt in meiner Zelle. Dass ich nicht die Macht hätte, in der DDR Karrieren zu eröffnen oder zu verschließen.
„Diese Macht, Herr Leutnant, haben allein Sie.“
Sichtlich zufrieden ob dieser Entgegnung strich sich Zahn über sein glattrasiertes Kinn:
„Stimmt! Deshalb müssen wir jetzt Einiges von Ihnen wissen.“
Dann verlas er mir eine Stellungnahme meiner Schwester zu meinem Verbrechen. Dass sie dieses verurteile und sich distanziere und so. Ja was sonst? Sie war das größte Leichtathletik-Talent der Republik. Nun Startläuferin in der 4 x 100-Meter Staffel der Damen.
Was hätte sie anderes sagen sollen, wenn sie denn als Reisekader in das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, – NSW“ bestätigt werden wollte? Wenn sie bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles starten wollte? Dass sie es nachvollziehen könne, wenn jemand aus der DDR weg will? Na schönen Dank auch!
Und was hätte ich sagen sollen? Ich hatte ihr doch allen Erfolg gegönnt. Sie ist meine Schwester. Und nun fühlte der Leutnant Zahn mir auf den Zahn. Tickte die etwa auch so wie ihr großer Bruder?
„Nö!“ sagte ich selbstverständlich.
Und dass sie völlig überzeugt sei vom Sozialismus. Was kein Wunder sei bei all diesen Privilegien, die sie genieße. Und dann schüttete ich noch etwas Soße über das zubereitete Gericht auf seinem Vernehmerschreibtisch:
„Kleine Schwestern sind ätzend, Herr Leutnant. Sie ist nicht mal zwei Jahre jünger als ich. Von Kindesbeinen an wollte sie immer das haben, was ich habe. Ich glaube, vor allem das hat unsere Geschwisterbeziehung völlig vergiftet. So vergiftet, dass wir schon seit längerem keinen Kontakt mehr zueinander haben.“
Bei der Bezirksverwaltung Erfurt des Ministeriums für Staatssicherheit kam das genau so an:
„Diese (ihre) positive Haltung bestätigte sich durch die Vernehmung ihres Bruders.“
Ich habe Ihnen das unten in einem Aktenausriss angestrichen. Ist kein großer Familien-Verrat. Meine Schwester hat es selbst in den Buchhandel geworfen, in diesem Buch auf Seite 96 . (Ich hätte es ja lieber als „bleibt in der Familie“ gehändelt.).
Und nicht nur nebenbei:
„Kam Ihnen vielleicht mal der Gedanke, Frau Historikerin,“ so hatte ich 2015 die Herausgeberin des Buches gefragt, „ob ich die Veröffentlichung meines Klarnamens überhaupt will? Dass Sie dazu meine Zustimmung bräuchten?“
„Ach so? Haben Sie denn etwas gegen die Aufarbeitung des DDR-Zwangsdopings?“
Seltsame Frage:
Ist die Akte, aus dem oben ein Auszug abgebildet ist, ist die eine Sensation? Operative Personenkontrolle zu meiner Schwester? Überraschend?
Wusste meine Schwester nicht, wussten Spitzenathleten der DDR generell nicht, dass die Augen des Geheimdienstes auf allen Reisekadern in das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, – NSW“ ruhten?
Eine junge Frau, die dem Ministerium für Staatssicherheit versicherte, dass sie nichts, nichts, gar nichts mit Republikflüchtigen zu tun habe und zu tun haben wolle, die wußte das sehr wohl. Wusste, dass diese Beteuerung entscheidend war für den Karrierebeginn oder das Karriereende. Entscheidend für die nächsten fünf Jahre meiner Schwester.
Wusste sie, dass die Augen der Staatsmacht für diese Jahre auch weiterhin auf ihr ruhen würden? Um zu erkennen, ob ihre Abscheu vor Republikflüchtigen echt ist? Oder immer noch echt ist? Oder doch nur zielgerichtete Heuchelei?
Drei Jahre war ich insgesamt in der DDR in Haft. Vater und Mutter haben mich besucht, meine anderen Geschwister mindestens einmal. Gefangene zu besuchen ist eines der sieben Werke der Barmherzigkeit. Und der Barmherzigkeit ist es völlig Rille, ob der Gefangene „zu Recht“ oder „zu Unrecht“ hinter Gittern sitzt.
Warum sah Gesine Tettenborn, geborene Walther, davon ab? Ja bitte: Eben. Durch die Schleusen eines Gefängnistores äugt das wachsame Auge der Staatsmacht. Das Auge, das wissen will, was es nicht wissen soll.
Und diese Frage ist noch seltsamer:
Wusste meine Schwester, dass es sich bei den „unterstützenden Mitteln“, die sie auf der Sportschule schluckte, vom 18. bis zum 23. Lebensjahr; …
Wusste sie, dass diese dem Körper zugeführten fremden Substanzen, welche die sportliche Leistung fördern sollten, …
Wusste sie, dass es sich dabei um Doping handelt?
Hä? Das Zuführen körperfremder Substanzen zur Leistungssteigerung, das ist die Definition von Doping. Und sie bekam es in der Originalverpackung, wie sie 2010 dem Spiegel gegenüber berichtete.
Selbstschädigendes Verhalten
Nein, selbstschädigend hatte zunächst ich mich verhalten. Ich war nicht besonders schlau gewesen in der Vernehmung im Dezember 1980.
Meine Schwester durfte daraufhin in die Welt hinaus, als Diplomatin im Sportdress.
Und ich wurde, anders als 90 bis 95 % meiner Haftkameraden (so schätzte das Bundesverfassungsgericht dort unter Rz. 11) NICHT aus der Haft in den Westen verkauft.
Ich wurde nach Weißenfels, in mein Elternhaus zurück, entlassen.
Das Ministerium für Staatssicherheit hatte um ihrer Karriere willen Einwände gegen meinen Freikauf erhoben (Aktenausschnitt unten).
Rein ins Gefängnis musste ich dann wieder am 13. Januar 1984. Jetzt nicht mehr als nützlicher Idiot des westdeutschen und US-Imperialismus, jetzt unter dem Vorwurf, dessen Agent zu sein.
Verkauft worden gen Westen bin ich dann doch noch. 1985.
Danach hörte meine Schwester mit dem Sport auf. Das Ministerium für Staatssicherheit vermerkt dazu zwei Monate später (Aus diesem Stream der Stasiunterlagenbehörde, dem auch ein Transskript beigefügt ist. ).:
„Ergebnisse des politisch-operativen Aufklärungsprozesses: Die W. hat nach der Geburt ihres Kindes einen Antrag auf Entbindung vom Leistungssport gestellt. Obwohl von Seiten der Leitung des SC Turbine die Meinung bestand, dass sie in der Lage wäre, ihr Leistungsvermögen bereits im Jahre 1986 wieder zu erreichen, wurde dem Antrag aufgrund der Entlassung des Bruders am 12.03.85 aus dem Strafvollzug in die BRD stattgegeben.“
Was sie zum Aufhören bewog, kann ich nur vermuten. Hatte Gesine, die kluge und sensible junge Frau, „die Nase voll“? Oder war es die Sorge, nach dem verbotenen Start der DDR-Olympiaauswahl 1984 in Los Angeles sowieso kein olympisches Gold mehr erringen zu können? Die nächsten Olympischen Spiele sollten 1988 in Seoul sein. Wäre das dann zu spät ? Wegen „zu alt“ ?
Was wäre wenn ?
Hätte alles anders sein können? Sicher. Aber wie? Was wäre gewesen, wenn ich dem Leutnant Zahn 1980 im Dezember die Wahrheit gesagt hätte:
„Meine liebe, traurige Schwester. Von Kindesbeinen an musste ich sie trösten. Sie ist ein Mädchen, ein hochsensibles, kluges Mädchen.“
Wäre sie von der Sportschule geflogen? Wären mir 2/3 der drei Jahre Haft erspart geblieben?
Vergessen sie alles, was sie über fortwirkende psychische Belastungen ehemaliger Gefangener des Ministeriums für Staatssicherheit gehört haben. Aus dem Mund so genannter Fachleute.
Der vormalige Gefangene zergrübelt sich nie das Hirn darüber, ob die Kerkermeister anders hätten handeln können. Der Schneesturm in seinem Hirn dreht sich um die Frage:
„Hätte ICH SELBST anders handeln können?“
Hätte ich? Nicht? Man haut doch seine eigene Schwester nicht in die Pfanne! Und monokausal, also auf einen einzigen Grund zurückzuführen, ist das Leben nie. Wer weiß schon, was gewesen wäre, wenn.
Und dass meine traurige Schwester, dass diese heute depressiv ist und ihre Antidepressiva schluckt; … Zum Beispiel dann, wenn ihr Mann sagt:
„Was Du wieder erzählst, hast Du heute schon Deine Pillen genommen, Schatz?“ …
Ist das wirklich die Folge eines „DDR-Zwangsdopings“?
Nein, man haut seine Schwester nicht in die Pfanne. Auch wenn Sie glauben, das tue ich gerade. Auch wenn Sie glauben, dass ich bestreiten würde, dass es überhaupt Menschen gäbe, denen
So beschreibt ja § 2 Absatz 1 Nr. 1 des Dopingopfer – Hilfegesetzes den Personenkreis, der mit einer Einmalzahlung von je 10.500 Euro bedacht wurde.
Auch wenn Sie glauben, dass ich Täve Schur zustimmen würde, der da sagt, das ganze Gesetz sei eine späte Rache der Bonner Republik an den DDR-Olympiaerfolgen. Eine Siegerjustiz.
Gesine ist nun einmal ein von staatlichen niedersächsichen Fachleuten anerkanntes Dopingopfer. Und nun muss sie noch mit einer Doping-Opfer-Rente entschädigt werden „.. wie andere SED-Opfer auch.“
Wie über sie in der Tagesschau vom 17. Juni diesen Jahres zu vernehmen war.
Ist es vielleicht doch wahr, was ich dem Leutnant Zahn vor fünfundvierzig Jahren vorgelogen hatte? :
„Sie ist nicht mal zwei Jahre jünger als ich. Von Kindesbeinen an wollte sie immer das haben, was ihr großer Bruder auch hat.“