Das Foto ist 50 Jahre alt, mein jüngeres ich leistet widerwillig seinen Grundwehrdienst ab. Schütze Zimmer dient in der Nachschubkompanie. Bringt es mit Eifer zum per Zeugnis dokumentierten Lochkartenprüfer (!) – ein schöner Beruf mit guten Zukunftsperspektiven. Denkt dabei aber nicht an Krieg, sondern an die Mittagspause und die anschliessende Wochenend-Heimreise.
Sortiert ansonsten Buchungsbelege für Schrauben und Kanonenrohre. Formblatt 1348/2 in sechsfacher Ausfertigung. Ausfertigung 4 bis 6 sind vor der Bearbeitung in der Ablage P zu entsorgen. Dienstvorschrift. Noch was: Ab 1,50 Meter Wassertiefe hat der Soldat selbsttätig mit Schwimmbewegungen zu beginnen.
In der Kantine hängen Zigarettenkippen in Senfsauce an der Decke, torkelnde Unteroffiziere zeigen stolz fehlende Finger. Heimatkunde: Antreten zum Alkohol-Appell, dann mittwochs vom Spieß ins Truppen-Kino zum Pornofilm abkommandiert. Wahlweise in die Disco „Red Saloon“, „oberhessischer Geschlechtstag“, kurz OHG. Grundausbildung in eienm Kaff nahe der „Zonengrenze“. Örtliche Kultur? Ein Zigarettenautomat, einen Hure. Deshalb Empfehlung des Truppenarztes: „Wenn Sie dann in die Stadt (Stadt?) gehen und haben was, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich“. Abends im Mannschaftsheim die Kameraden mit Rock beschallt und mit schalem Bier abgefüllt, jaja. Die Sprüche: „Licher Pils, keiner will’s“. Raus jetzt, 22 Uhr Zapfenstreich. Nur von Waldschmidt Bier allerdings bekommt der Soldat Hautausschlag. Infolge dessen Sanitätsbereich, kein Wochenendausgang.
Die Woche über deshalb alkoholfrei, aus Sicherheitsgründen. Man weiss ja nie, wann der Russe kommt. Er kommt nicht, nicht 1975 jedenfalls. Morgens steht der Spieß mit 100 Prozent Restalkohol vor der Kompanie und brüllt „Sschdillgschdannnnd!“. Die erste Reihe der Kameraden stützt die zweite, damit sie nicht kollabiert. Im Manöver tänzelt der komatös besoffene Kompaniechef mit der Taschenlampe durch die Zelte und schreit: „Lebach, Lebach“. Kamerad fragt, was man tun müsste, um in den Bau zu kommen? Vorschlag: Den wachhabenden Offizier zusammenzuschlagen. Kamerad tut, wie empfohlen, kommt in den Bau. Will wieder raus, haut so lange gegen die Wand der Zelle, bis er sich den Arm bricht. Über mir im Stockbett stellt ein besoffener Saarländer plötzlich fest: „Ich han’ grad g’schlaf. Plötzlich han ich merkt, dass ich ins Bett g’schiss han“. Bundeswehr-Romantik. Vadder erzählt vom Krieg. Man erinnert sich ja nur an das Schönste, nicht wahr? Das war sie, die alte Bundesrepublik „in a nutshell“.
Warum nicht verweigert? War nie Pazifist. Kannte einen, der Verweigerer bei den Verhandlungen begleitete. Den Psychoterror hätte ich nicht durchgehalten. Sie wissen ja: „Kommt der Russ’ und will ihre Freundin vergewaltigen, was tun Sie dann?“ Das hätte schon deshalb nicht funktioniert, weil ich damals als postpubertärer Hobbykommunist meine Meinung immer an der des Generalsekretärs der KPdSU ausrichtete. Da hätte ich mich in einer Verhandlung um Kopf und Kragen lügen müssen oder plötzlich einer Spontan-Erfrommung anheimfallen. Also ging ich zum Bund, genau wie meine streng maoistischen Klassenkameraden, die eine Waffe bedienen lernen wollten, um später für die Arbeiterklasse den „Sieg im Volkskrieg“ zu erringen. Daran glaubte ich zwar nicht, benutzte es aber gern als Ausrede. Denn ich war schlicht zu faul zu verweigern.
Und, oha: ich war ein sehr guter Schütze. Den Feind aus Pappe habe ich immer exakt zwischen die Augen getroffen.
Zehn Jahre später, auf DDR-Besuch, ausgerechnet in Torgau zusammen mit einem Freund aus dem Osten knattern wir im Trabbi mitten in eine Kolonne der roten Armee. Eingekesselt. Naheliegende Gedanken drängen an die Oberfläche: „Na, wann warst Du bei der NVA?“ „1975“ „Ah, da war ich bei der Bundeswehr“ „Ja, dann hätten wir uns gegenseitig erschiessen müssen“. Wir lachen sehr. Die rote Armee hat unschöne schwarze Abgase. Getränke vom VEB Gärungschemie vertreiben den Geruch am Abend. Wir lachen noch mehr.
Und jetzt? Bin ich auch nicht schlauer. Und immer noch kein Pazifist. Besser so. Einige Pazifisten von damals sind konvertiert und heissen heute Putinist, so hört man. Und der eine oder andere Sieger im Volkskrieg soll sich dann doch für einen gut dotierten Job in einem Bundesministerium entschieden haben.