Nein, das Ereignis, mit dem die Geschichte beginnt, lag 9 Jahre vor 1989. Liegt bereits 45 Jahre zurück. Vorige Woche bin ich noch einmal zurückgekehrt an den Tatort.
19 Jahre war ich alt an jenem 5. August 1980 und schlich östlich des Neusiedler Sees gen Westen. Etwa dort:
Ach was heißt „schlich“ ? Ich dummer Junge lief ja völlig sichtbar oben auf dem Damm und natürlich machte der Dammwärter Meldung. Dann kamen sie, die ungarischen Grenzsoldaten. Sie hauten mir eine rein, weil da schon wieder so ein Ossi den antifaschistischen Schutzwall verletzen wollte. Und ihre Ruhe störte: „Du Faschist – Du Faschistenschwein!“
Mit ihrem Schäferhund hatten sie auch schnell meinen Rucksack aufgestöbert:
„Ein guter Hund. Ein Deutscher Schäferhund. Ein Geschenk an uns aus der Deutschen Demokratischen Republik.“
Sagte der Leutnant Istvan Zöld, der den Bericht aufsetzte.
Das war dann fast drei Wochen später, im Komitatsgefängnis in Györ (Bild unten).
„Wir werden Sie auf dem Flughafen in Budapest den Sicherheitsorganen der Deutschen Demokratischen Republik überstellen.“
Sagte Zöld.
„Dann werden Sie in der DDR vor Gericht gestellt. Das ist strafbar in der DDR, was Sie getan haben. Hier in Ungarn wäre es lediglich eine Ordnungswidrigkeit.“
Hä ? – Und ein bischen Internationales Strafprozeßrecht.
War der Versuch, ungenehmigt die Grenzen Ungarns zu überschreiten, … War das dort 1980 wirklich nicht strafbar ?
Natürlich war das strafbar und begriffen habe ich es erst später:
Ich wurde ja gar nicht vom Kreisgericht Halle West zu 20 Monaten Haft verurteilt unter dem Vorwurf, illegal die Grenze der DDR überqueren zu wollen. Die DDR-Grenzanlagen gen Süden hatte ich ja sehr legal überquert. Das Verbrechen hatte sich in Ungarn ereignet. Und das Verletzen seiner Grenzanlagen kann und darf ein Staat, durfte auch die Volksrepublik Ungarn, nur selbst bestrafen. Wo kämen wir denn hin, wenn ein deutsches Gericht die Staatsgrenzen in aller Welt schützen wollte?
Angeklagt war ich deshalb des Verbrechens des § 213 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der DDR:
„(2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt, verletzt.“
Genauer gesagt war ich also des Versuches dieses ungenehmigten Fernbleibens überführt.
Ja eben. Und einen solchen Straftatbestand des ungenehmigten Fernbleibens gab es 1980 nicht im ungarischen Strafgesetzbuch. Gab es schon gar nicht als Versuch.
„Hier in Ungarn wäre das lediglich eine Ordnungswidrigkeit.“ Hatte Zöld gesagt.
Und noch mehr Strafprozessrecht.
Genauer beleuchtet das eine Promotion, also eine Doktorarbeit von 1986 an der (DDR-) Universität Jena:
„Der Rechtsverkehr in Strafsachen zwischen der DDR und den anderen sozialistischen Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Übernahme der Strafverfolgung.“
Die Arbeit legt dar, dass es Probleme geben könnte, wenn die DDR die Auslieferung solcher Straftäter wie mir verlangt. Probleme dann, wenn die DDR z.B. mich für etwas bestrafen will, was in Ungarn gar nicht strafbar ist. Weil das Auslieferungsabkommen zwischen der DDR und Ungarn nur zur Auslieferung verpflichtet, wenn das Verbrechen „beidseitig strafbar“ ist.
Frau Doktor schreibt auf Seite 43/44:
„So bildet zum Beispiel ein ungesetzlicher Grenzübertritt gemäß § 213 Strafgesetzbuch der DDR in der Alternative der Nichtrückkehr in die DDR entsprechend dem Strafgesetzbuch der Ungarischen Volksrepublik (§ 217) keine strafbare Handlung, womit auch keine Auslieferungsmöglichkeit existiert.
Die damit verbundene Interessenschädigung der DDR und die Nichterreichung der Ziele des Strafrechts im konkreten Fall mögen die Brisanz dieser theoretischen Fragestellung veranschaulichen und Veranlassung weiterer Diskussionen im Sinne des bereits 1948 im ungarisch-rumänischen und 1954 im ungarisch-bulgarischen Rechtshilfevertrag fixierten Prinzips einer einseitigen Strafbarkeit sein.“
Eine kluge Frau. Die nicht nur Doktorarbeiten schreiben kann, sondern auch Habil-Schriften. Eine Professorin.
Sie haben bestimmt schon einmal von ihr gehört: Langjährige Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands, ARD.
Die westdeutsche Erfindung über den Osten, so bemerkt Dirk Oschmann in seinem Buch, ist nämlich ein feuchter westdeutscher Männertraum. Ostdeutsche Frauen sind in diesem nicht die Bösewichte oder die Nullen. Sie sind einfach nur da.
Böse sind in der Erfindung die Männer, also der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke und der ungarische Innenminister János Pap, die schon 1963 „weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Kontrolltätigkeit der Grenzschutzorgane“ beschlossen hatten.
1980, als ich aus Budapest in Handschellen in die DDR geflogen wurde, funktionierte die Rückführung noch ganz gut (Eh, mit einer Handschelle war ich, wie 11 andere auch mit so nem Stasi-Mann zusammengeschlossen. Wie in einem echten James-Bond-Film).
Die einstige Schirmherrin von „Reporter ohne Grenzen“, Frau Prof. Dr. Wille schreibt auf Seite 34 ihrer Promotion:
„Von einer Existenz der Auslieferung in der Sklavenhaltergesellschaft zeugen erste Auslieferungsverträge. Beispielsweise wurde die Auslieferung gegenüber flüchtigen Sklaven zwischen Griechenland und dem römischen Imperium angewandt. Hier wird ersichtlich, wie sehr die Auslieferung von dem Wesen der internationalen Beziehungen beeinflußt wird und wie deutlich sich in seiner konkreten Anwendung die jeweiligen Interessen der herrschenden Klassen widerspiegeln.“
Was aber, wenn der Geldbeutel leer ist ?
413 Ostdeutsche versuchten 1987 die ungarische Grenze illegal zu überschreiten, 1988 waren es bereits 762. Und im ersten Quartal des Jahres 1989 steigerte sich die Zahl weiter auf fast das Dreifache des Vorjahrs. Gleichzeitig sank die „Abfangquote“, so dass 1988 210 DDR-Bürgern die Flucht über Ungarn gelang. Das berichtet uns Hubertus Knabe.
Wer bezahlte das eigentlich alles, diese Mühen der ungarischen Grenzsoldaten?
Veraltet waren die Signalanlagen und der ungarische Geheimdienstchef schätzte: „Eine Sanierung würde mindestens 500 Millionen Forint (die DDR rechnete das mit 100 Millionen DDR-Mark) kosten.“
Am 28. Februar 1989 beschloss das ungarische Politbüro deshalb, den Grenzzaun abzubauen.
Das Durchschneiden des ungarisch/österreichischen Grenzzaunes durch die damaligen Außenminister Gyula Horn und Alois Mock am 27. Juni 1989 war zwar nur symbolisch, aber …
Aber das trieb natürlich fluchtwillige DDR-Bürger zu zehntausenden nach Ungarn. Und am 25. August 1989 versprach Helmut Kohl bei einem Geheimtreffen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh und dessen Außenminister Gyula Horn einen Kredit von einer Milliarde D-Mark. Gegenleistung: DDR-Bürger, die in Ungarn auf Zeltplätzen ausharrten, sollten gen Westen ausreisen dürfen.
Das geschah dann in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989.
Erich allein zu Haus
Die Kette der Ereignisse folgte fast voraussehbar:
Die DDR-Führung erwirkte eine Schließung der slowakisch/ungarischen Grenze, worauf die Fluchtwilligen sich nun in der Prager Botschaft der Bundesrepublik einfanden. In der Anzahl von 4.000 verkündete ihnen der Bonner Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989, dass sie gen Westen ausreisen dürften.
Und weil das einmal funktioniert hatte, konnte das ja auch noch einmal funktionieren und deshalb war die Bonner Botschaft in Prag gleich wieder „voll“.
Also riegelte die Nationale Volksarmee am Freitag, dem 6. Oktober 1989 die Grenze zwischen der DDR und Böhmen ab. Zugemacht. Eingeschlossen. DDR-Bürger kamen nun gar nicht mehr „raus“. Das war selbst für die mißlich, die gar nicht abhauen wollten.
Die Reaktion ist Legende: Am Montag, dem 9. Oktober 1989, waren 70.000 Menschen (manche nennen 100.000) auf Leipzigs Strassen.
Haben die Demonstranten die SED-Diktatur gestürzt? Oder die Fluchtwilligen?
Ich neige eher zu der Auffassung, dass der Westen den Kalten Krieg gewonnen hatte.
Der Osten so pleite war, dass die Bonner Regierung den Laden einfach nur kaufen mußte.
Für 30 Silberlinge.