
Fast jede Nacht schlägt die Ukraine nun mit Drohnen zurück. Die Angst wächst, während sich die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert. Doch die meisten Russen sind zu abgestumpft um aufzubegehren. Eindrücke von einem Besuch in der alten Heimat.
Erstmals seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine war meine Frau mit ihrer erwachsenen Tochter wieder in ihrer russischen Heimatstadt, um ihre alte kranke Mutter und ihren Bruder zu besuchen. Was sie sahen und erlebten, erschütterte sie zutiefst. Denn es ist fern von dem Propagandabild, das das Putin-Regime erzeugen möchte und seine Unterstützer auch hierzulande verbreiten. Noch mehr schockte es die Tochter, die seit sieben Jahren nicht mehr dort war.
An den Straßen, erzählen beide, betteln Kriegsversehrte ohne Beine oder Arme. Daneben werben Plakate, sich freiwillig für den Krieg zu melden, der nicht so heißen darf. Für umgerechnet rund 50.000 Euro, falls sie überleben. Oder für die Witwen oder Mütter, wenn nicht.
Fast jede Nacht hörten und sahen sie ukrainische Drohnen über der Stadt. Viele werden abgewehrt. Doch manche Geschosse schlugen ganz in der Nähe ein, mitten im Zentrum. „Eine Bombe detonierte hinter dem Kindergarten, in dem ich war“, berichtet die Tochter. „Es gab eine laute Explosion. Die Alarmanlagen der Autos heulten los, die Leute liefen zusammen, redeten aufgeregt und schauten sich die Zerstörungen an.“
Unerklärter Kriegszustand
Schilder weisen inzwischen überall auf Schutzräume und Bunker hin. Doch die meiste ignorieren sie. Denn es gibt keine Warnungen und keinen Luftalarm, anders als in der Ukraine, die Russland seit drei Jahren mit immer stärkeren Drohnen- und Raketenangriffen überzieht. Wie sollen sich da die Menschen in Russland vor den ukrainischen Gegenschlägen in Deckung bringen?
Luftalarm kann die Regierung nicht geben. Denn damit würde sie eingestehen, was sie seit Beginn der Vollinvasion in das Nachbarland im Februar 2022 vehement auch gegenüber der eigenen Bevölkerung leugnet: Dass Russland im Krieg ist, nicht in einer fernen Spezialoperation. Einem selbst verursachten, der nun das eigene Land bedroht.
Eine weiteres Zeichen: Aus den Leitungen soll man nicht trinken. Das Leitungswasser, so fürchtet man, könnte vom „Feind“ vergiftet sein. Deshalb stehen Tankwagen mit Trinkwasser vor den Häusern.
„Warum schützt uns unsere Führung nicht?“ Diese Frage hörten meine Frau und die Tochter immer wieder. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Sie laut zu stellen würde niemand wagen. Schon das Wort „Krieg“ auszusprechen, kann zur Verhaftung und langen Gefängnisstrafen führen. Aber die Angst nimmt zu. Denn die Menschen spüren und erleben: Es kann sie jederzeit überall treffen. Niemand ist mehr sicher. Und der angeblich allmächtige Putin kann sie davor nicht bewahren.
Die Stadt, in der meine Frau aufwuchs und früher lebte, ist ein Zentrum der Rüstungsindustrie seit Zaren- und Sowjetzeiten. Vor dem Rathaus steht immer noch ein Lenin-Denkmal. Die Luft ist verpestet von den Industrieabgasen, Staub und Dreck legen sich auf alles, man kann nur schwer atmen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in den zahlreiche Waffenfabriken unter anderem die berüchtigten Stalinorgeln gebaut. Heute werden dort in immer größerer Stückzahl Raketen, Kampfflugzeuge, Granatwerfer und andere moderne Waffen produziert. Putins Armee setzt all das Kriegzeug gegen die Ukrainerinnen und Ukrainer ein, die angeblichen Schwestern und Brüder.
Mehrfach hat die Ukraine bereits einige der Waffenfabriken angegriffen wie in anderen, fernen Städten hinter dem Ural und Anlagen zerstört, obwohl seit Kriegsbeginn auf Häusern und am Stadtrand Abwehrsysteme installiert sind. Manchmal treffen die Drohnen Wohnhäuser und andere zivile Ziele. Es gab Tote und Verletzte, berichtet werden darf darüber in den staatlichen Medien natürlich nicht. In den sozialen Medien allerdings kursieren Bilder und Videos davon.
Kein Widerstand, nirgends mehr
Wegen der ständigen Drohnenangriffe konnte meine Frau nachts kaum schlafen. Früh morgens sah sie, wie die Bewohner zur Arbeit eilten. Mit versteinerten Gesichtern. „Die leben ihn ihrer Matrix“, sagt sie. „Sie gehen in die Fabrik oder ins Büro, erledigen ihren Alltag ohne Nachzudenken, wie sie es gewohnt sind. Aber es ist nichts mehr, wie es war.“ In den Läden gibt es noch das meiste zu kaufen, auch westliche Kleidung und Zigaretten, selbst deutsches Bier und deutschen Wein. Die die Preise sind jedoch enorm gestiegen. Und der Mangel, etwa an Medikamenten, nimmt zu.
„Die Menschen in Russland lehnen sich nicht auf, weil sie seit Jahrhunderten nichts anderes kennen“, sagt die Tochter. „Jeder kümmert sich nur um sich selbst. Niemand lacht mehr. Alle Lebensfreude ist weg.“ Die Tochter hat in Russland studiert und lebt sie seit zehn Jahren in Deutschland. Ihre Mutter seit mehr als 20 Jahren, weil sie als Alleinerziehende in Russland nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion nicht genug für sich, die Tochter und deren Studium verdienen konnte.
Die Mutter ist mit den Geschichten vom Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ und den Heldentaten der Roten Armee groß geworden. Ihre Großväter waren an der Befreiung Berlins beteiligt. Der eine von ihnen hütete in seinem Haus in einem kleinen Dorf, das es längst nicht mehr gibt, Uhren aus Deutschland, die er dort erbeutet hatte. Sie selbst war Komsomolzin.
Ein Dritte-Welt-Land mit Atomwaffen
Das Leben in den Jahrzehnten der Breschnew-Ära, so erinnert sie sich, war grau, aber den meisten ging es einigermaßen gut. „Alle waren gleich. Es wurden Wohnungen gebaut, jeder hatte Arbeit und zu essen.“ Die UdSSR galt als Supermacht und eines der fühenden Länder der Welt, bis sie als Folge jahrzehntelanger Misswirtschaft und der Perestroika implodierte, die Zeit des wilden Kapitalismus unter Jelzin begann und schließlich Putin die Macht übernahm. „Er hat das Land in ein großes Gefängnis und eine Kleptokrate verwandelte, in dem er, seine Oligarchenfreunde und eine reiche Oberschicht im Luxus schwelgen, während die Bürger darben“, sagt die Tochter.
„Als ich studierte, waren wir sehr westlich und modern ausgerichtet. Heute ist Russland ein Dritte-Welt-Land. Es ist tragisch, aber die Menschen wollen es nicht sehen.“ Sie wurde zum Ende des Kalten Kriegs geboren und hat ebenfalls die Feiern an jedem 9. Mai zum Sieg über Nazi-Deutschland erlebt. „Wir waren dankbar und stolz, was auch meine Urgroßväter getan haben, um Europa zu befreien. Aber nun herrscht im Kreml selbst ein Faschist und Imperialist.“
Die Tochter ist wie ihre westlichen Altersgenossinnen und -genossen im Frieden aufgewachsen. Jedenfalls sieht sie das so, deshalb schockieren sie die Veränderungen. Die Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien, die Eroberung der Krim und den hybriden Krieg in der Ostukraine seit 2014 blendet sie wie die meisten Russen aus, weil es sie nicht betraf. Aber nun ist der Krieg nach Russland gekommen – nicht anders der deutsche Vernichtungskrieg auch gegen die Sowjetunion, der am Ende Deutschland ebenfalls zerstörte.
Natürlich ist Russland weit davon entfernt, in ähnlicher Weise besiegt zu werden. Das wissen Mutter und Tochter, und es tröstet sie in gewisser Weise. Denn es ist ja, trotzdem allem, ihre frühere Heimat. Sie verfügt über Atomwaffen, die das Land vor westlichen Bombardements wie die der Briten und Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs auf deutsche Städte verschonen und die Verbündeten der Ukraine davon abhalten, ihr bisher in größerem Umfang weitreichende Waffen zu liefern, um russische Militärlager und Kommandozentralen tief im Hinterland zu zerstören. Aber eine Versicherung gegen die ständigen Attacken der Ukraine mit eigenen Mitteln sind sie nicht.
„Wer wird lebend von der Front zurückkommen?“
Die Tochter fuhr zwischendurch mit Freunden nach Moskau zu einem Konzert. Im Waggon vor ihnen saßen blutjunge Rekruten auf dem Weg an die Front. Junge Frauen um sie herum schwärmten: „Was für tolle, hübsche Kerle!“ Doch sie dachte nur: „Wer von ihnen wird lebend zurückkommen?“ Am Bahnhof in Moskau sah sie, wie Mütter, Ehefrauen und Freundinnen Soldaten weinend verabschiedeten – oft wahrscheinlich für immer. Auf den Hochhäusern seien Abwehrraketen gegen die ukrainischen Drohnen in Stellung gebracht. Aber zumindest tagsüber sei es ruhig gebliegen. Allerdings mussten während ihres Aufenthalts alle Moskauer Flughäfen wieder einmal wegen angefliegender Drohnen geschlossen werden. Auch die Hauptstand bleibt nicht verschont.
Die Komilitoninnen und Komilitonen, mit denen die Tochter an einer privaten Uni nach westlichem Muster Kommunikation studierte, haben alle Arbeit und fast alle eine Familie gegründet. Doch für die meisten von ihnen ist das Leben heute ähnlich grau wie in der Jugend ihrer Mutter. Eine ist mit Mitte 30 an Krebs erkrankt. Behandlungsmöglichkeiten gibt es, aber nur, wenn man genug Geld hat, um die teuren Medikamente zu bezahlen und Ärzte zu bestechen.
Es existiert allerdings auch die andere Seite. Eine Cousine meiner Frau gehört zu den Neureichen. Deren Mutter hat in den Jelzin-Jahren ein kleines Immobilienimperium zusammengerafft, von dem die Tochter fürstlich leben kann. Sie musste noch nie arbeiten, geht mit Freundinnen auf Partys, in teure Restaurants und ins Fitnesstudio und fliegt regelmäßig nach Zypern, wo sie wie viele aus der Elite Rubel, Dollar und Euros gebunkert hat. Das Einzige, was sie beschwert: Es gibt keine Prada-Taschen mehr zu kaufen, Shopping-Flüge nach Paris sind schwierig geworden. Und die Stadtverwaltung will ihr ein Bürogebäude wegnehmen, in dem ein Universtitätsinstitut untergebacht ist. Widerstand zwecklos. Dennoch ein luxuriöses Dasein fern von den Problemen, mit denen viele Russen im unerklärten Kriegszustand klar kommen müssen.
Die Alten werden in den Heimen geschlagen
Meine Frau und die Tochter machen sich derweil große Sorgen um die Mutter und Oma. Sie ist über 80, krank, vom Alter und einem harten Leben gebeugt und dement. Kurz vor ihrem Besuch ist sie wieder einmal gestürzt. Ihre Wohnung im achten Stock eines Plattenbaukomplexes kann sie nicht mehr verlassen. Sie ist fast immer allein. Ihrs Sohn, der in der Nähe wohnt, kauft für sie ein und besucht sie regelmäßig. Aber Pflegedienste gibt es nicht, auch keine staatlichen Pflegeheime, nur private, in die sie nicht will. Aus gutem Grund. „In vielen Heimen werden die alten Leute geschlagen. Sie bekommen nicht genug zu essen und hungern“, sagt die Enkelin. Mit ihrer kleinen Rente könnte sich die alte Frau auch gar keinen Heimplatz leisten. Geld schicken können Tochter und Enkelin wegen der Sanktionen nicht mehr. So muss sie mit 40.000 Rubel im Monat auskommen, umgerechnet etwa 440 € auskommen, die kaum zu Leben reichen.
Ein Gutes hat die fortschreitende Demenz der alten Frau, die als kleines Kind noch den großen Krieg erlebt hat, immerhin: Von dem aktuellen Krieg bekommt sie fast nichts mit. Er könnte allerdings auch sie und ihren Sohn töten.
Für die Tochter und Enkelin ist seit dem Besuch endgültig klar: In diesem Land, das Putin und sein Regime verkommen lassen und stattdessen Krieg gegen andere führen, wollen sie nie mehr leben.
*Um die Verwandten in Russland zu schützen, kann der Text nur unter Pseudonym und in anonymisierter Form erscheinen. Deshalb wird auch der Name der Stadt nicht genannt.