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Mai 1990 in der DDR: Eine Amateur-Band aus dem Westen auf Abenteuerreise. Teil 4

Vor 35 Jahren war ich mit meiner Heidelberger Band Purple Haze in der DDR auf Tour. Vier Konzerte um Mai und Juni, dem Frühling der Anarchie. 2024 sind wir (Unser Keyboarder Uwe, ich und unsere Gattinen) zu einer Reise in die Vergangenheit aufgebrochen, um das zu rekonstruieren. Schwierige Sache, da wir damals nicht wirklich erkannten, was für ein historischer Moment das war – und wir mühsam auf der Suche nach „Zeitzeugen“ sind. Am 25. Mai 1990 spielten wir in Halle in der Pauluskirche beim Bürgerfest.

Halle, Paulusviertel, 26.5.1990, Nachmittag

Rund um die Pauluskirche herrscht der bunte Ausnahmezustand. So gebet uns nun Gesang, Spiel und Tanz, Nektar und Met, dazu Rosenthaler Kadarka und Karo-Zigaretten all hier und lasset uns flechten das Tanzbein schön und gaukeln und spielen, singen und lachen. Und Kinderschminken nicht vergessen, ganz wichtig! Es ist eine Mischung von Anarchie, Chaos und spontan organisierter Planung: Man sieht den Hasenberg, auf dem die Pauluskirche thront, kaum noch vor lauter Ständen, kleinen Bühnen, hektischen Aktivitäten. In der Vorbereitung hat die Bürgerinitiative – da ist Deutschland Ost nicht anders als Deutschland West – eine erkleckliche Zahl von Arbeitsgruppen gebildet, sieben an der Zahl. Über 100 Menschen machen mit. Die ein kümmern sich um kleine Verkaufsstände, die nicht nur rund um die Kirche, sondern in den Hinterhöfen über Nacht erblühen, die andern basteln ein Kulturprogramm und stellen erfreut fest, wie viele Musikgruppen es allein im Paulusviertel gibt. „Alle spielen ohne Vorab-Gage. Also Kleingeld für Hut und Geigenkasten bereithalten“, verkündet das von Organisator Klaus Jorke genadeldruckerte Infoblatt.

Irgendwie scheint das alles wunderbar zu funktionieren. Da der gelernte DDR-Bürger sowieso Improvisation gewohnt ist, braucht es hier weniger Bürokratie, dafür umso mehr Ideenreichtum. Selbstverständlich hat man den amtliche Segen für die Sperrung des Rathenau-Platzes eingeholt. Aber wie organisiert man die geplante längste Kaffeetafel aller Zeiten in Halle? Ganz einfach: Man geht in die Grundschulen und „beschlagnahmt“ für diese zwei Tage sämtliche verfügbaren Tische und Bänke. Und das Transportproblem? Ist kein Problem. Man frage die Kameraden von der Nationalen Volksarmee, die müssen keinen antifaschistischen Schutzwall mehr sichern und auch nicht mit der ruhmreichen Sowjetarmee ins Manöver. „Klar schicken wir einen LKW. Braucht Ihr sonst noch was?“ heisst es aus der Kaserne. Äh ja, Gulaschkanone wäre vielleicht nicht schlecht? „Zu Befehl, wird geliefert“. Übernachtungsmöglichkeiten für die Gäste und Künstler von ausserhalb sind organisiert, und so hebt ein Kaffeekochen und Kuchenbacken im ganzen Viertel an, dass es gerade so eine Art ist. Bratwurstbrater und Kellner schiessen wie Pilze aus den Wohnungen und Hinterhöfen. Um 14 Uhr geht es los mit dem Kinderfest, das mit seiner bemalten Kartonstadt glänzt. Und wie gesagt: Kinderschminken nicht vergessen. Auch unser Gastgeber Klaus ist im Getümmel dabei als Clown Eumel mit Gattin Bine. Schwerter zu Pflugscharen, Kinder zu Katzen, Schmetterlingen, Hasen und Blumen! Die bunten Blütenräume fliegen hoch an diesen Tagen.

Spurensuche 2024. Anruf bei Uli Kirsch, Liedermacher aus Annweiler in der Pfalz.

Kirsch ist einer der wenigen „West-Künstler“, die beim Bürgerfest 1990 auftraten. Heute lebt er in Bernau bei Berlin. Auf seiner Homepage steht: „Uli Kirsch begeistert seine Fans. Irish Folk und Oldies der 60er & 70er Jahre sind seine Richtung“. Seine ersten DDR-Erfahrungen sammelt er „so mit 20. Wir sind mit der DKP nach Potsdam gefahren. Wir hatten alle mit der Partei nichts am Hut, aber es war eine günstige Gelegenheit da hinzukommen, das war 1980 so rum. Der Ärger fing gleich damit an, dass wir einen Solidarnosc-Aufkleber vom Auto abkratzen mussten“.
Das Frühjahr 1990 in der DDR erlebt er als Befreiung, für beide Seiten: „Erstmal war ziemlich schnell klar, dass die auch nicht anders ticken als wir. Dass die die selben Wünsche und Probleme haben wie wir aber eben nur in einem ganz anderen Milieu aufgewachsen sind. Und dann war da diese Aufbruchstimmung, auf einmal schien alles möglich zu sein. Das war halt spannend, das war anarchistisch, da war alles offen…“
An seine eigene Auftritt erinnert er sich nur vage. „Das hatte sich durch ein Komödiantenfest in Erfurt ergeben, das kurz vorher war. Da spielten teilweise die selben Leute wie in Halle. Alles war improvisiert. Es gab mehrere Bühnen und ich erinnere mich nur noch an diese Bühne, die irgendwann während meines Auftritts nach vorne weggekippt ist. Ich hatte damals eigene Lieder und eines davon drehte sich um die Wendezeit. Eine Textstelle war ‚Sie geben euch Freiheit und Abenteuer und dann geben sie euch den Rest‘. Das hat damals keiner verstanden, was da noch alles kommt mit den ganze Errungenschaften des Westens“.

Halle, Pauluskirche, 26. Mai 1990, abends.

So gut gefüllt dürfte die Pauluskirche selten gewesen sein – und es wird auch des einzige Konzert der kurzen Tour mit großem Publikumszuspruch bleiben. Wir haben ein Luxusproblem: Beim Soundcheck hat sich herausgestellt, dass wir sämtliche Effektgeräte abschalten können. Es klingt wie auf der Flüstergalerie der Londoner St-Pauls Kathedrale. Neun Sekunden Nachhall lassen die Band in einem Tunnel kosmischer Geräusche anfliegender Raumschiff-Flotten vergurgeln. Sei’s drum: Ohren zu und durch! Vor der Kulisse von Altar und Taufstein beginnen nun die Spiele mit der Ansage von Hausherr Haupt: „Ich wurde gerade gebeten mal drauf hinzuweisen, dass wir hier in der Kirche natürlich alle keine Aschenbecher haben. Und wo keine Aschenbecher sind und Holzfußboden ist, da sollte man dann lieber nicht rauchen. Seid bitte so nett, sonst haben wir eine zu kurze Nacht“.

Es wird dann doch eher eine rauschende Ballnacht. Musikalisch läuft alles nach Plan, auch wenn wir uns selbst nur als sehr lautes undefinierbares pulsierendes Geräusch aus einer Parallelwelt wahrnehmen. Uwe notiert im nachgetragenen Logbuch 2002: „Kein individueller Fehler bringt dieses Rennquintett aus der Hektik. Was für ein Tempo in allen Stücken! Der Werbeblock für die aktuelle LP wirkt wie eine lockere Plauderei unter Fremden; vor allem aber ist das enthusiastische Ostpublikum zu hören: Es klatscht mit bereits im Intro von ‚Save me Buddy‘ und bei ‚Go Süd‘ gibt es kein Halten!“ Letzteres – eine Parodie auf den Song „ich möcht’ so gern Dave Dudley hör’n“ der Country Band Truck Stop, enthält die skurrile Textzeile „Ich möcht’ so gern’ mal Nina Hagen hör’n, so ’nen richtig schönen Punkersong along the Acker Way“. Herr Born blamiert sich dabei gleich mit der etwas unpassenden Ansage: „Kennt jemand Nina Hagen?“ In Halle. In der DDR. Wir hätten einen Fettnäpfchen-Beauftragten mit auf Tour nehmen sollen.

27. bis 29. Mai 1990, Halle und Umland.

Nach dem Konzert in Halle gibt es ein paar Days Off, wie der Profi geschäftig zu sagen pflegt. Geplant ist mehr, aber nicht alles kommt zustande. Görlitz und Meissen stehen auf dem Plan, werden aber abgesagt. Selbst ein Schülerkonzert in Halle findet fällt mangelndem Interesse des potenziellen Publikums zum Opfer, obwohl eine engagierte Musiklehrerin sich mächtig ins Zeug gelegt hat: Sie hat unsere LP in zwei Klassen vorgespielt. Trotzdem sind die kulturlosen Rotzlöffel nicht willens, eine Karte zu erwerben. Vielleicht auch nur, vermutet Klaus, weil sie grundsätzlich erstmal alles ablehnen, was die Schule anbietet oder sie einfach nur Ihr Taschengeld für die anderen tollen bunten Sachen aus dem Westen sparen wollen, und überhaupt: „Purple Haze, wer ist denn das?“. Klaus behält recht mit seiner schon im März per Brief beschriebenen Lagebeurteilung: „Im Augenblick ist es eher schwierig für uns, Kulturveranstaltungen ohne Flops durchzuführen. Kein Veranstalter kann sich das leisten, und das Publikum reagiert ganz anders. Was vor der Wende bombig lief und großen Anklang fand, ist jetzt out. Selbst Freundschaftsgagen helfen da nicht“. Mehr als 10 Mark Eintritt, so scheint es, sei auch für die Jugendlichen nicht nachvollziehbar. Denn vor der Wende war eben alles billiger: „Vor eineinhalb Jahren haben sie für 15 Mark Bruce Springsteen und andere Größen in Berlin live erleben können“. Wir sind nicht Bruce Springsteen, das hatten wir schon geahnt. Dazu kommt noch das Kommunikationsproblem. Verhandle mal mit einem potenziellen Veranstalter am anderen Ende der Republik, der entweder kein Telefon hat – wie 90 Prozent der DDR-Bürger damals – oder dem im Gespräch im Minutentakt die Leitung zusammenbricht.

28. Mai 1990, Halle, Deutsche Kreditbank. Nachmittag.

Genau deshalb sind die nächsten Tage nach dem Konzert in der Pauluskirche spielfrei. Ein Teil der Crew fährt nach Hause um wichtige Aufgaben zu erledigen. Horst braucht Westwürste und Dosennahrung, UFO und Andrea müssen kurz mal bei der Arbeit nach dem rechten schauen, Mieze muss Grenze schützen. In Halle ist indes eine besondere Aufgabe zu erledigen: Der Kalender verzeichnet die dürre Notiz: Kontoeröffnung 28. Mai, Montag, Deutsche Kreditbank am Markt, Zimmer 13, Frau Nowak. Deutsche Kreditbank? Was war das nun wieder? Als wir unsere Schritte Richtung Frau Nowak lenken, wissen wir es nicht. Heute wissen wir es, dank der Homepage der Treuhandanstalt, die Auskunft gibt: „Noch vor der Einführung der D-Mark in der DDR wird mit der Deutschen Kreditbank (DKB) die erste private Bank der DDR nach der Friedlichen Revolution gegründet. Die Bank führt die Geschäfte, Schuldposten und Kreditverträge der Staatsbank der DDR weiter und wird damit zur Gläubigerin vieler Treuhand-Betriebe. Später, mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 und noch vor der Deutschen Einheit werden die im Westen ansässigen Bankhäuser Deutsche Bank und Dresdner Bank jeweils zahlreiche Filialen des DDR-Bankgeschäfts von der DKB übernehmen“.

Umrubeln als Denksportaufgabe

Aha. Dann wollen wir uns mal in die Schuldposten und Kreditverträge schmuggeln. Wir bekommen unsere Gagen in der immer noch gültigen offiziellen Landeswährung MDN (Mark deutscher Notenbanken) ausbezahlt. Aber wir können dieses Geld nicht einfach in D-Mark umtauschen. Denn die ist ja im Mai 1990 noch ein Schimäre auf dem Staatsgebiet des Arbeiter- und Bauernstaates. Also erklärt uns Frau Nowak, dass wir Kulturschaffenden im Dienste der Unterhaltung der Werktätigen für dieses Geld extra ein Konto eröffnen müssen. Auf selbigem das eingezahlte Geld nun bis zum 1. Juli in freudiger Erwartung der Währungsunion entgegen zittern möge, bis ein von uns erkorener Gesandter es nach der gar wunderlichen Verwandlung in die harte Währung auszahlen lassen könne. So mag sich Jesus gefühlt haben, als er zum ersten Mal den Trick hinkriegte, Wasser in Wein zu verwandeln. Allerdings nicht zum Kurs 1:3. Danach sei das gerade errichte Konto unverzüglich wieder aufzulösen. Wir fühlen uns eher etwas verunsichert, schliesslich ist unser Chefbanker Horst ja – wie erwähnt – abgängig, um Westwürste zu besorgen. Frau Nowak, Zimmer 13, ist offensichtlich ebenso verunsichert. Der Blick, als wir bei ihr wegen der Umrubel-Aktion vorstellig werden, wirkt wie der von Pat und Patachon Tage zuvor beim Grenzübertritt. Übersetzt signalisiert er: „Was wollen sie? Sind denn jetzt alle alle verrückt geworden“? Das behält sie selbstverständlich bei sich und macht sich stattdessen an die sorgfältige Ausfüllung Erstellung der notwenigen Formulare für die ihr doch offensichtlich rätselhafte Transaktion.

Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.

 

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