Unbewohnt und auch nicht mehr bewohnbar
Wer sich schon mal gefragt hat, was mit Ismene passiert ist, nachdem der Vorhang über das Drama „Antigone“ gefallen ist, bekommt hier eine Antwort. Sie lebte offensichtlich ausschweifend, nur begierig auf die nächste Sensation, auf die nächste Party, auf den nächsten Mann, auf das nächste Amüsement. Ismene hat ihr ganzes Leben lang verdrängt, um sich nicht mehr mit ihrer Entscheidung zu konfrontieren. Und nach ihrem Tod hat sie nun viel Zeit darüber nachzudenken, ob es etwas an ihrem Schicksal und dem ihrer berühmten Familie verändert hätte, wäre sie nicht feige, sondern mutig gewesen. Wären die dreitausend Jahre seitdem anders verlaufen, hätte Ismene ihrer Schwester Antigone geholfen, den Bruder nach dem Krieg zu bestatten, wie es das göttliche Gesetz – heute wäre es die Kategorie der Moral – vorschreibt? Um es vorwegzunehmen: Darauf gibt es keine Antwort, denn gesagt, ist gesagt, geschehen, ist geschehen, ein abgefahrener Zug kommt nie zurück.
Ismene befindet sich seit Äonen an der Schwelle vom Reich der Lebenden zum Reich der Toten, und keine Seite will sie. Ihre eingefrorene Existenz ist bedürfnislos, ihr Habitat das Niemandsland, indem es keinen Hunger, keinen Durst, weder Sonne noch Regen oder Schnee gibt. Vekemanns schafft einen Innen- und einen Außenraum, die in ihrer Bedeutung deckungsgleich sind: Unbewohnt und auch nicht mehr bewohnbar. Entfernt bellen Hunde, Fliegen, die auch stechen können und die Ismene sich wahrscheinlich nur einbildet, um der (Warte-)Zeit einen Sinn zu geben.
Das Echo der Zeit
Alina Wolff gelingt es grandios diese Ismene über den ganzen Text hinweg immer wieder zu brechen. Sie nimmt die Figur todernst und gleichzeitig macht sie sich über Ismene lustig. Wolff distanziert sich und zugleich zieht sie sich die Figur an wie einen Mantel, mag er nun passen oder nicht. Die Schauspielerin zeichnet einen Menschen, den man in einem Augenblick in den Arm nehmen und dem man im nächsten Moment schütteln möchte. Das Echo der Zeit, das Alina Wolff durch den Charakter wehen lässt, ist nichts weniger als der Spiegel für uns alle. Wolff verleiht Ismene Agilität, Beherrschung und Unbeherrschtheit, Schnoddrigkeit und die Attitüden einer Prinzessin, zeigt sie prätentiös und dabei auch ganz basiert. Ismene wird wegen ihrer Selbstbezogenheit zu einer fremden und eben genau auch deswegen gleichwohl zu einer vertrauten Figur.
Die Inszenierung – Regie: Anna Michelle Hercher – vermag die Transparenz herzustellen, dass Geschichte immer auch Gegenwart und, weiter noch, Zukunft ist. Wer keine Geschichte hat, hat auch keine Zukunft, so wie Ismene sie nicht hat als nahezu vergessene Figur. Es ist ein großer Vorzug der Potsdamer Inszenierung, dass dieses Konzept sinnfällig aufgeht, oft sogar über das hinausweist, was der Text intendiert. Noch während das Publikum den Theaterraum betritt, markiert Ismene ihr enges Warterevier mit Klebeband, das sie auch die letzten dreitausend Jahre benutzt hat, um die Tage zu zählen. Jeder Tag ein Schnipsel. Doch ab wann ist es nur noch ein Schnipselhaufen wie ein Haufen von Tagen? Bei welchem Schnipsel sind wir falsch abgebogen? Überlagert ein Schnipsel, bewusst oder unbewusst geklebt, den anderen, der darunter langsam unsichtbar wird?
Die Regisseurin destilliert aus diesen bildhaften Vorgängen den menschlichen Ansatz immerwährender Fragestellungen nach der Sinnhaftigkeit oder der Absurdität unserer Existenz. Müssen wir uns einmischen in das, was um uns herum geschieht, auch wenn es uns das Leben kostet? Und ist andererseits ein „normales Leben,“ was auch immer das individuell bedeuten mag, zu viel verlangt? Die Antworten auf diese Fragen bleibt die Inszenierung bewusst schuldig. Da wurde nicht in die Falle des Didaktischen getreten. Die Inszenierung spricht den Zuschauer mündig. Es geht um ein selbstbestimmtes Leben, und jeder Mensch müsste in die Lage versetzt werden, sich zu entschließen: Leben oder gelebt werden.
Auch die konzeptionelle Entscheidung, die Unterbühne als Theaterraum zu nutzen, ist ein kleiner Geniestreich. Das Publikum steigt vom Hauptfoyer in eine Unterwelt hinab, deren klaustrophobischer Charakter das Stück perfekt widerspiegelt. Man hat eine Spielinsel in diesen ansonsten technischen Raum „geworfen,“ wie man ein Leben in etwas Fremdes wirft, wenn man es ausstellt. In, auf und an einem Gerüst mit verschiedenen Ebenen, einer Treppe und einem roten Stuhl – Ausstattung: Tobias Sieben – wird die Enge der Existenz, das Gefangensein Ismenes zwischen den Zeiten zurückgeworfen, ein Spiegel im Spiegel des Spiegels.
Johannes Wolffs prägnante Musik stellt sich ganz in den Dienst der Art und Weise, wie erzählt wird. Das Minimalistische folgt der Konzeption, eine tatsächliche Entsprechung auf einer auditiven Ebene.
Nächste Vorstellung: Sonntag, 18.05.2025, 19.30 Uhr, Großes Haus, Unterbühne
https://www.hansottotheater.de/spielplan/
Fotos: Thomas Maximillian Jauk