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Sardinenbüchsenschlacht und Türenballett in Potsdam – Bettina Jahnke inszeniert „Der nackte Wahnsinn“ am Hans-Otto-Theater

Michael Frayns Stück „Der nackte Wahnsinn“ – im Original „Noises off,“ was man salopp auch mit „Halt die Klappe“ übersetzen könnte – ist ein in Deutschland vielgespielter Theatertext. Die aktuelle Inszenierung des Hans-Otto-Theaters in Potsdam gehört zum Besten, was aus dieser wahnsinigen Komödie zu machen ist. Und das Stück ist darüber hinaus eine Hommage an die Kunst des Schauspiels.

Im ersten Akt erlebt man die Generalprobe eines Stückes – „Lass dich nicht erwischen“ – einer Tourneetheatertruppe, dessen Handlung, angesichts dessen, was zwischen den Akteuren passiert, völlig nebensächlich ist. Es klappt so gut wie nichts, nicht mal die reichlich vorhandenen Türen. Der zweite Akt spielt hinter der Bühne während einer Vorstellung. Und wenn man glaubt, die Absurdität wäre nicht mehr steigerungsfähig, wird man im dritten Akt, der den Anfang nach der zigsten Vorstellung wiederholt, eines Besseren belehrt. Show must go on. Ja, das Leben an sich ist absurd, aber dabei eben auch urkomisch. Vor allem auf dem Theater. Und wenn sich dazu noch eine Diskussion über Sinn und Unsinn von Sardinen entzündet und daran alles zusammenzubrechen droht, ist das das perfekte Bild dafür.

Die Perfektion des Desasters

Bettina Jahnke, die Intendantin des Hauses, hat mit dieser Inszenierung wieder einmal bewiesen, was die Großartigkeit einer kreativen, liebevollen und den Text ernstnehmenden Regie ausmacht. Gerade dann, wenn es sich um eine Farce handelt. Hier stimmt einfach alles. Jahnke weiß das Desaster, dass sich abspielt, so zu perfektionieren, dass einem die Luft wegbleibt. Scheitern von Kommunikation zur Kunstform zu erheben, nichts ist schwerer als das. In der Betonbrutalität eines wunderbar abgeranzten Luxushauses, dass die Bühnenbildnerin Iris Kraft auf die Bühne des Theaters gestellt hat und das sich im Verlauf des Stückes in eine Ruine verwandelt, treibt Bettina Jahnke die Figuren drei Stunden lang in schwindelerregende Atemlosigkeit. Die Präzision und der Mut, mit denen das geschieht, ist tatsächlich schlichtweg grandios. Jahnke lässt die Figuren leuchten, mögen sie auch noch so unzulänglich sein, mögen sie auch noch so scheitern. Regietheater, das Ensembletheater im allerbesten Sinne befördert.

Dialektik und Zeitgeist

„Kaum hat man es sich gemütlich gemacht, bricht die Hölle los,“ sagt Donny am Anfang des ersten Aktes und verkehrt diesen Satz zu Beginn des dritten Aktes in sein Gegenteil: „Kaum bricht die Hölle los, hat man es sich gemütlich gemacht.“ Dieser Vorgang illustriert treffend das, worum es, außer dem Spaß, auf einer tiefer liegenden Ebene Frayns Stück geht: Kommunikation als ständige Gefahr unwiderruflich zu scheitern. Alles ist immer, was es ist und eben doch auch das Gegenteil davon. Möglicherweise ist das auch ein Antrieb für Bettina Jahnke und ihren Dramaturgen Christopher Hanf gewesen, Frayns Figurenkostellation teilweise zu dekonstruieren. Während man in Frayns Text aus dem Jahr 1982 typischerweise eine männliche Regietyrannei erlebt, wird in der Potsdamer Inszenierung „Floyd“ als Regisseurin präsentiert. Die Entscheidung war klug, nicht nur im Hinblick auf den Zeitgeist der Sichtbarkeit, sondern auch als Aspekt des Aufbrechens von Geschlechterrollen und ihren Zuschreibungen: Tyrannei ist keine Frage des Geschlechts, sondern eine Frage des Charakters. Ich war dankbar für diesen Move, der dem Vergnügen dieser Liebeserklärung an das Theater keinen Abruch tut. Ganz im Gegenteil.

Schauspieler sind ein schönes Land

Das geflügelte Wort bekommt in Potsdam einen sinnlich-konkreten Ausdruck, der sich selbst in den Kostümen von Tatjana Kautsch wiederfindet: Von Lumpenproletariat über Glitzerbohème bis zu vermeintlicher Künstlercoolness ist alles dabei.

Das Ensemble dieser Inszenierung ist in seiner überbordenden Spielfreude nicht zu übertreffen und offenbart, welches schauspielerisches Potenzial sich im „Schatten“ der Berliner Großtheaterszene tummelt. Den Vergleich mit der Inszenierung am Berliner Ensemble braucht die Potsdamer Aufführung nicht scheuen. Auch hier: Ganz im Gegenteil.

Paul Wilms als „Bühnentechniker“ – euphemistisch als „Stagemanager“ benannt – weiß die ständige Überforderung durch Übernächtigung und die dadurch erzwungene Reduktion so fein uneitel und dezent zu präsentieren, dass man ständig Mitleid mit der Figur hat. Grandios ist seine Stand up-Einlage zwischen zweitem und dritten Akt. Hier fusioniert er seine Rolle mit dem privaten Paul Wilms zu einer neuen Figur. Er chargiert zwischen Agitator, unsicherem Menschen, den man in die Realität der Notwendigkeit geworfen hat, Zeit totzuschlagen, damit hinter dem Vorhang umgebaut werden kann und der Mühsal eines nicht selbstbestimmten Lebens.

Amina Merai gibt ihrer „Regieassistentin,“ deren über lange Jahre im Umgang mit Schauspielern gestähltes psychologisches Geschick das ganze Unternehmen zusammenhält, eine authentische Klugheit. Das alles leidet selbst dann nicht, als es zu emotionalen Verwerfungen in ihrer Figur kommt. Dabei zeigt sie ihre wunde Seele mit dem Mut der Verzweiflung.

Katja Zinsmaier zeigt die von allerlei beruflichen und privaten Herausforderungen getriebene „Regisseurin“ (Floyd) als ein am Rande des Nervenzusammenbruchs dahinsegelndes Wrack. Sie tut das laut, rücksichtslos und auch in den stilleren Momenten mit großer Intensität. Das fein beobachtete und ausgestellte Klischee eines Machtmenschen, dessen zynische Leidenschaft ihm auf die Füße fällt.

Dass jeder und jede im Schauspielensemble der Truppe zwei Rollen zu spielen hat, nämlich die im Stück und die als Privatperson, ist unbedingt herausfordernd.

Jon-Karre Koppe  versteht seinen „Einbrecher“ (Selsdon), von dem der Rest der Truppe annimmt, er sei dem Alkohol verfallen und bedürfe daher besonderer Aufmerksamkeit, als in seiner Bräsigkeit tatsächlich einzig „normal“ Erscheinenden zu geben. Und Koppe macht durch seine ganz bewusst ausgestellte Distanziertheit zu dem, was hier vorgeht, als Selsdon transparent, dass er ohne Theater lebensunfähig wäre.

Nadine Nollau als „Belinda“(Flavia Brent), der Noblesse vergangenen Reichtums zu nachjagend, zeigt die Wohlstandverwahrlosung eines Menschen, der sich auf Steuerflucht befindet. Innerhalb der Truppe ist sie das ‚Seelchen,‘ deren Bemühungen um Harmonie auf der Insel der Theaterproduktion im Verlauf des Stückes immer mehr zum Ritual erstarren.

Jan Hallmann lässt seinen „Frederick“ (Philip Brent, Emir)  ganz bewusst nahezu farblos erscheinen, denn die zarte Beschaffenheit seines eitlen Selbstbildnisses als Philip überlagert seine Rolle in dem Stück, das man zu spielen hat. Und das gelingt Hallmann großartig. In seinen Selbstzweifeln fällt er körperlich in sich zusammen und verliert sich in sich selbst als ein alle anderen nervtötendes Elend.

Charlotte Lehmann versieht „Brooke“ (Vicki) mit Verhuschtheit, die sich auch als Vicki bei ihr wiederfindet und die sie selbst in das Drama des Liebesverhältnisses mit Floyd, der Regisseurin, mitzunehmen weiß. Die exaltierte Körperlichkeit, die Lehmann zeigt, gibt dem Charakter die perfekte Gestalt des Unbedarften und genau deswegen Sympathischen.

Arne Lenk hat „Garry“ (Roger Trampelmaine) mit allem ausgestattet, was man als ‚Blender‘ braucht: Großspurigkeit, mehr Schein als Sein und lächerliche Coolness. Lenk gelingen großartige Brüche und perfektes Timing.

René Schwittay weiß als „Donny“ (Mr.Clackett) die Sympathien des Publikums einzufangen, indem er sowohl die eine, als auch die andere Figur als Menschen zeigt, den man aus seinem eigenen Leben schon zu kennen glaubt: Einen eigentlich nur auf seinen Vorteil bedachten Housekeeper, in Wahrheit aber ein Nervenbündel am Rande des Abgrunds. Sein Kampf mit den Sardinen, dem Telefon, der Zeitung und allen anderen Elementen dieser einzigartigen Requisitenschlacht ist so lebendig und genau erarbeitet, dass man sich davor verbeugen möchte. Die Entscheidung, der Figur „Donny“ einen rheinischen Dialekt zu verpassen, vermag zunächst vielleicht irritieren. Aber egal ob sie Schwittays Erfindung oder dem langjährigen Wirken von Bettina Jahnke in NRW geschuldet ist, sie macht den riesigen Kontrast zwischen den beiden Rollen sinnfällig.

https://www.hansottotheater.de/spielplan/

Fotos: Andreas Klaer (Bettina Jahnke); Thomas Jauk (Ensemble)

Daniel Anderson: Berufsausbildung zum Flugzeugmechaniker. Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.

 

 

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