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Mai 1990 in der DDR: Eine Amateur-Band aus dem Westen auf Abenteuerreise. Teil 2.

Vor 35 Jahren war ich mit meiner Heidelberger Band Purple Haze in der DDR auf Tour. Vier Konzerte um Mai und Juni, dem Frühling der Anarchie. 2024 sind wir aufgebrochen, um das zu rekonstruieren. Schwierige Sache, da wir damals nicht wirklich erkannt hatten, was für ein historischer Moment das war – und wir mühsam auf der Suche nach „Zeitzeugen“ sind. Die erste Station war Halle, wo wir am 25. 5. 1990 beim Bürgerfest in der Pauluskirche auftraten, bei 9 Sekunden Nachhall. Aber noch waren wir nicht dort. Erstmal galt es, bürokratische Hürden zu überwinden

Beim Zoll alles toll

Um anreisen zu könne, bedurfte es einiger Vorarbeit, Vorgespräche und Vorsichtsmaßnahmen.
Und – was uns am wichtigsten erschien: Um anreisen zu können, musste man auch wissen, wie denn nun der Grenzübertritt zu bewerkstelligen sei. Ja, am Grenzübergang Naila waren zwar noch die Trutzburgen der tödlichen Grenze zu sehen, gewesen, als ich Ende 1989 gen Osten gefahren war. Aber oben in dem Betonpfeiler, wo kurz vorher Hammer und Zirkel prangten, war jetzt ein Loch. Was bedeutete das? Man konnte nun fürderhin einfach von Bayern nach Thüringen fahren, das damals noch garnicht wieder Thüringen hiess, sondern es war vermutlich erstmal der Bezirk Erfurt/DDR? Da winkte man den ehemaligen, nun mehr sinnentleert in der Gegend umherstehenden Sperranlagen huldvoll zu, bremste leicht ab, um dann wieder Gas zu geben. Dort, wo man sonst zitternden Fusse abgewartet hatte, bis der auf Ingrimm gebürstete Grenzwächter das Passbild gefühlte Stunden lang studiert hatte. Haben Sie da wirklich ein Ohr unter dem Haar? Sind Ihre Augen echt? Gerüchteweise war uns bekannt, dass man (nicht nur zur Einreise in die DDR) eine Zollerklärung brauchte, die das gesamte Instrumentenchaos detailliert aufführen sollte, das man mit Mühe in den Transporter gequetscht haben würde, Stück für Stück, Lautsprecher für Lautsprecher, Gitarrensaite für Orgeltaste für Bierkasten für Aschenbecher. Am besten mit Originalrechnung für jedes einzelne Teil.
Das war auf keinen Fall zu leisten, denn während in der DDR die Anarchie erst am Ausbrechen war, bei uns im Proberaum und in unsrer Buchhaltung herrschte sie schon lange. Nun wird es spannend, sie merken: Ich bin aufgeregt und wechsle deshalb ins Präsens. Ein billiger erzählerischer Trick, ignorieren Sie das. Wen fragt man in einem solchen Fall? Das Zollamt Karlsruhe. Die Antwort lautete kurzgefasst: Wir wissen nichts, haben aber einige Vermutungen, und deshalb sollten wir aufschreiben, was wir so an Equipment mitführen. Und das an der Grenze dem bundesdeutschen Zoll vorlegen, und abstempeln lassen, um damit bei der Ausreise dem deutschen demokratischen Zoll nachzuweisen, dass wir in der DDR nichts verkauft haben. Dann sagen die freundlichen Leute vom Karlsruher Zollamt noch. Dass es a) dafür keine offizielles Formular gibt und b) die gerade so wärmstens empfohlene zu erstellende Liste eigentlich nicht nötig sei, aber „auch nicht schaden könne“. Und dann rauschen Fragen durch den Kopf wie: In einem Land, in dem man für Bananen Schlange stehen muss, ist da nicht auch der Strom, der aus der Steckdose kommt, volatil am Ende gar?
Eines aber ist sicher: in den Konzert-Verträgen, die wir später bekommen werden, steht: „Der Künstler/das Ensemble verpflichtet sich, seine Darbietung entsprechend den Grundsätzen unserer sozialistischen Kulturpolitik zu erbringen, wobei sich diese Verpflichtung sowohl auf die Art und Weise und den Inhalt der Darbietung als auch auf die persönliche Verhaltensweise und Auftreten einschließlich Garderobe bzw. Kostüm bezieht.“ Selbstverständlich unterschreiben wir das. Ist ja eigentlich nicht nötig, kann aber nicht schaden.

Aufbruch ins Ungewisse

Wir brechen auf, im Konvoi. Denn der Transporter, den wir angemietet haben, ist eindeutig zu klein. Für mich bedeutet das: ich muss mein komplettes Schlagzeug im eigenen Auto transportieren und hinterher fahren. Toll. Einem Auto, das erst anspringt, nachdem man sich mit einem Hammer drunter gelegt hat und sanft von unten an den Motorblock klopft und dabei Zauberformeln murmelt – und sich nebenbei Gedanken macht wie: Ob der ADAC wohl in der DDR schon Gelbe Engel laufen hat? Und was nützen die mir, wenn irgends ein Telefon ist, mit dem man die anrufen kann? Und das bedeutet auch: Immer, wenn der brachial überladene Transporter in einem der landestypischen Schlaglöcher in die Knie geht, schliesse ich vor Schreck die Augen. Aus Angst, er könnte in einem solchen Loch für immer verschwinden.

Wir erreichen die Grenze, der Blutdruck steigt. Zitternden Fußes übereichen wir die sorgfältig erstellte Equipment-Liste. Zwei Grenzer, die aussehen wie Pat und Patachon und schauen wie Dick und Doof gucken uns mit wässrigen Äuglein an, als seien wir nicht etwa Musikanten aus dem NSW (Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet), sondern Ausserirdische. „Äh“, stottere ich fahrig: „Wir sind eine Band aus Heidelberg und Karlsruhe und möchten ein paar Konzerte in der DDR spielen“. Pflichteifrig füge ich hinzu: „Hier ist unsere Liste mit dem mirgeführten Equipment“. Es entsteht ein kleine Pause von vielleicht drei Millisekunden, die sich aber anfühlt wie eine halbe Ewigkeit. Pat schaut Patachon an, Patachon schaut zurück, dann sagt er, halb zum Kollegen, halb zu uns gewandt: „Was wollen Sie?“ Nach einer erneuten dramatischen Pause hat er die finale Diagnose für unser Tun: „Nu, ich gloobe, jetz sind se alle schon verrückt geworden“. Danach verfügt er mit Nachdruck und Rest-Autorität: „Nun fahren’se schon“. Will die verwirrte Staatsmacht unsere Reisepässe sehen? Ich kann mich an nichts derartiges erinnern. Erstmal durchatmen und gespannt, auf das, was kommen wird.

Fettbemnen und Fiedeln

Am 25. Mai spielten wir in Halle in der Pauluskirche beim Bürgerfest. Das Bürgerfest entstand auf Initiative der 1989 in Gang gesetzten Bürgerinitiative Paulusviertel, der es auch darum ging, die Bausubstanz dieses Gründerzeitviertels zu erhalten, denn 1990 war die Zahl der unbrauchbaren Wohnungen in dem Viertel bereits bei 550 angelangt.
Mit dem Bürgerfest dokumentierte sich auch nach aussen die Solidarität und der Zusammenhalt der Bewohner des Viertels. Eine schier unglaubliche Zahl von Künstler:innen machten mit – vor allem aus der Folkszene der DDR, aber es kamen auch ein paar aus dem Westen. Und mitten drin wir, die Rocker aus der Kurpfalz, die als einzige in der ehrwürdigen Pauluskirche auftreten durften (Neun Sekunden Hall, alle Effektgeräte abgeschaltet). Das Empfangskomitee heisst Klaus und empfängt in seiner geräumigen Altbauwohnung, vier Zimmer, Kachelofen, unweit des morgigen Spielortes, der Pauluskirche. Fettbemmen werden gereicht. Schmalzbrote genannt im NSW dem „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“. Danach versammelt sich alles, was singen, klampfen, drehleiern und fiedeln kann, ein paar Schritte weiter im evangelischen Gemeindehaus, wo Pfarrer Detlev Haupt residiert. „Alle Bands trafen sich am Vorabend zum gemeinsamen Musizieren. Jede stellte sich den anderen mit einem Lied vor. So eine schöne Sitte kannte man im Westen nicht. Purple Haze blieb ausnahmsweise stumm“ wird Uwe 2002 in seinen Erinnerungen an diesen Abend schreiben. Wir können halt nicht fideln und drehleiern – im Gegensatz zu andere auftretenden Künstlern, deren Namen schon die Musik ahnen lassen: Ackerfolk, Tüdderkram, Schreihals, Bärentanz, Reel Feeling….

Fortsetzung folgt

Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.

 

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