avatar

Unterwegs in der DDR im Frühjahr der Anarchie 1990. Abenteuer Rockband-Tour. Teil 1

Vor 35 Jahren: Eine Amateurband aus der Kurpfalz sucht das Abenteuer – eine Tor un der untergehenden DDR. Ich bin und war der Drummer dieser Band. Vier Konzerte um Mai und Juni, dem Frühling der Anarchie. 2024 sind wir, unser Keyboarder Uwe und unsere Gattinen zu einer Reise in die Vergangenheit aufgebrochen, um das zu rekonstruieren. Schwierige Sache, da wir damals nicht wirklich erkannten, was für ein historischer Moment das war – und wir uns nun mühsam auf der Suche nach „Zeitzeugen“ machen mussten. Die erste Station war Halle, wo wir am 25. 5. 1990 beim Bürgerfest in der Pauluskirche auftraten, bei neun (!) Sekunden Nachhall. Aber noch waren wir nicht dort.

„In Halle kam doch irgendwann einer mit einem Trabbi mit Leuchtschrift-Aufklebern und hat uns Ost-Waren angeboten. Karo-Zigaretten und sowas“, erzählt Horst. „Nie gehört. Bist Du sicher, dass Du das nicht geträumt hast?“ orakle ich zurück. „Wisst Ihr noch, wie der Olaf abgegangen ist?“ meint Andrea, damals das Mädchen für alles. „Welcher Olaf“? „Na der, der beim Konzert in der Pauluskirche mal eben das Schlagzeug übernommen hat“. „Das müsste ich doch wissen, das glaube ich nicht“. Dann war da noch der schweigsame Punk, der in unserem Basislager in der durchfeuchteten Wohnung im Hallenser Paulusviertel wohnte. Den haben alle gesehen. „Der hatte mindestens sieben Wecker, damit er morgens aufsteht“, ist Heike ganz sicher. „Das waren nur drei, höchstens“, kommt Widerspruch aus der Tiefe des Raumes. „Wir haben die Gage nach der Währungsunion im Kurs 1:2 in D-Mark umgerubelt bekommen, doziere ich enthusiasmiert. „Quatsch, es war 1:3“, korrigiert Uwe mit Blick in seine Unterlagen. „Irgendwo in Rothenburg oder Vetschau gab es ein Plakat, das sie selbst gemalt hatten, weil wohl unsere Plakate nicht angekommen waren. Darauf sahen wir aus wie so eine DDR-Bluesband mit Jesuslatschen und Drei-Jahre-Bart oder irgendwas, was bei Woodstock aufgetreten ist. Das hing an einer Litfasssäule“, ereifere ich mich. „Bei uns in Vetschau gab es nie eine Litfasssäule“, beharrt Uwe Jeschke, der dort unser Konzertveranstalter war. „Wir können uns an kein Plakat erinnern“, singt der Chor aus der Tiefe des Raumes unisono. „Der Michi müsste sich doch an alles erinnern können“, meinen sie. „Der war doch als einziger nüchtern“. „Ich bin verkalkt“, lacht der Michi. So ist das eben. Es wird Zeit, sich endlich zu erinnern an jene verrückte . Woche im Frühling der Anarchie 1990 in der DDR und eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Im Mai und Juni 2024 haben unser Keyboarder Uwe, sein Frau Heike, meine Gattin Cornelia und ich noch einmal alle Auftrittsorte von damals besucht. An exakt den gleichen Daten wie 34 Jahre zuvor. Enjoy The Ride.

80er Jahre. Zwischen Karlsruhe, Heidelberg, Dessau und Halle

Irgendwo hatte ich einmal folgende Geschichte gehört, von der ich nicht weiss, ob sie wahr ist. In den 70er Jahren, vermutlich zu der Zeit, als David Bowie in Berlin lebte, soll sein Management bei der Konzert- und Gastspieldirektion der DDR angefragt haben, ob denn Interesse an einer DDR-Tour des Thin White Duke bestehe. Die Antwort sei ein klares „nein“ gewesen. Aber nicht nur dieses „nein“ gefiel mir sehr gut. Es war vielmehr die Begründung, die mich in wahres Entzücken versetzte. Und die ich mir (Sorry, das alte Vorurteil) immer am schönsten auf sächsisch vorgestellt habe. „Ein Deffid Boffieeh is uns nüch begonndd!“ Ein Traum: Ein Land, das offiziell nichts von der Existenz eines David Bowie weiß – da wollten wir hin, lange schon. Natürlich, um dort Musik zu machen.

Hin kam ich eh schon seit Mitte der 80er Jahre, also kannte zumindest einer in der Kapelle diese David-Bowie-Ignoranz-Zone ein wenig besser. Denn wir – ich und meine Liebste – hatten Freunde in Dessau, Bärbel und Holger. Er zumindest ein wahrer Musikfreak mit einem gut abgehangenen Geschmack. Bei den beiden sass man in der Datsche, speiste Fleisch mit Wurst und Fleisch und Wurst und trank und rauchte. Ich Karo, die kratzen so schön. Eine Mischung aus Reval, Rothändle und getrocknetem Pferdemist mit Kuhdung. Worauf der erstaunte DDR-Bürger jedesmal sprach: „Sag, mal kannst Du dir keine Marlboro leisten?“

Bei jedem Besuch brachte ich Holger West-Musik mit, David Bowie war natürlich nicht dabei, Gott bewahre! Ich rede von Musik. Und irgendwann bei Bier und Korn, Karo und ausufernden Ost-West Gesprächen, meinte ich: „Ich würde gerne mal in der DDR spielen“. „Dann musst du Kontakt mit der staatlichen Konzert und Gastspieldirektion aufnehmen“, meinte der Holger und schenkte Schnaps aus dem reichhaltigen Sortiment des VEB Gärungschemie Dessau nach. Natürlich habe ich die Konzert- und Gastspieldirektion nicht kontaktiert, zu unheimlich war mir dieses Staatswesen und seine sozialistische Bürokratie. Also begann ich nicht 1985, auch nicht in den darauffolgenden Jahren, sondern erst Ende 1989 über die Möglichkeit von Konzerten „drüben“ nachzudenken, als drüben schon gar nicht mehr so sehr drüben schien..

Seit 1987 gab es eine Städtepartnerschaft zwischen Karlsruhe und Halle/Saale, und irgendwann in diesem Jahr fuhren die Liebste und ich nach Halle, von Dessau aus, wo Holger und Bärbel wohnten. Mir gefiel Halle auf Anhieb ziemlich gut. Es stank nach Braunkohle aber es roch auch zart nach Kultur. Und als wir ins Centrum Warenhaus schritten, stellte sich Holger vors gut und prall gefüllte Schnapsregal und erklärte mir: „Siehste, hier gibt es nüscht“. Na, da wollte ich gleich nochmal hin. Ende 1989 kam die Gelegenheit. Da lernte ich auf einer Journalistenreise einen Pfarrer in Halle kennen, der mir von meinem tiefbayrischen Kollegen Manfred mit den Worten anempfohlen worden war: „Bei dem konnst vielleicht wohnen, des ist zwar a Pfaff, aber in Ordnung isser scho“, orakelte der Frust so tiefbayrisch wie verschwörerisch. Dieser Pfaff nun wieder, Detlef, war aktiv in einer Bürgerinitiative in seinem Sprengel, dem Paulusviertel. Und ja, er war wirklich in Ordnung, hatte ein offenes Ohr und verschaffte mir Kontakt zu jüngeren Menschen, die wohl imstande sein würden, uns kurpfälzische Rocker auf sachsen-anhaltische Bühnen zu bringen.

Januar 1990, Karlsruhe/Halle

Einer dieser Menschen war Klaus, dessen sich im beginnenden Ende der DDR zu Ende neigender Beruf Kulturfacharbeiter war. Klaus stellte sich heraus als ein umtriebiger Mensch mit vielen Kontakten, allerdings vor allem in die Folkszene, – wobei das in seiner Diktion „Forkszene“ hiess – aber er war immerhin im Besitz eines Tag und Nacht lautstark druckenden Nadeldruckers, wie ich bald bei meinen ersten Recherchen in Halle feststellen durfte. Er sollte uns das Ganze ermöglichen und legte sich dafür mächtig ins Zeug. Während ich auf dem Balkon seiner Wohung stand, dem Nadeldrucker beim Nadeln drucken zuhörte, Karo rauchte und Rosenthaler Kadarka in gastronomischen Mengen trank und hinterher den schlagartig nach einer Stunde auftretenden brüllenden Kopfschmerz genoss. Denn Bitterfeld malte zu der Zeit noch Zeichen an den Himmel, frühe Chemtrails vermutlich, die uns industrialisieren sollten im Sinne des Sozialismus, der nun spürbar im Begriff war, sich in einem Nebel von praktizierter Anarchie aufzulösen.

Klaus hatte sich am 26. Januar 1990 in einem Brief persönlich vorgestellt. „Bin 32 Jahre alt, verheiratet ab morgen dem 27.1. und habe einen Sohn (14 Monate alt) ich komme eigentlich, und ich sage es offen und ehrlich, musikalisch aus dem Bereich des Jazz und der Folklore. In der Folklore-Szene der DDR stecke ich noch tief drinnen, habe selbst acht Jahre mit auf der Bühne gestanden als Tanzmeister bei Mitmach-Tanzveranstaltungen und in Kinderprogrammen als Clown Eumel, organisiere den Folklore-Urlaub der DDR mit und die nächste Bezirkswerkstatt der Folkies“…. Wunderbar. Das war alles soweit von Defidd Boffie weg wie nur irgendwie denkbar. Das Schönste: da erzählte einer, den wir vorher noch nie getroffen hatten, ziemlich viel von sich. Wir ahnten: Die wollten auch was von uns wissen, die waren neugierig, was da nun für Kerle aus der Partnerstadt Karlsruhe angereist kommen würden.

Fortsetzung folgt

Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.

 

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top