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Rothenburg – ein Gesamtkunstwerk

Eine Sonderausstellung im örtlichen Museum zeigt die Zerstörung und den Wiederaufbau der historischen fränkischen Stadt an der Tauber.

Rothenburg ob der Tauber: Der Name klingt, bis heute. Aber es ist schwierig, über die Stadt zu schreiben. So viel wurde schon geschrieben. „Eine Stadt, deren Gesicht auf eine Postkarte gepresst wurde“, so Hans Dieter Schmidt in seinem sehr lesenswerten Taubertal-Buch „Melusine und schwarze Wasser“. Oder der Kunsthistoriker Georg Dehio: Die Stadt sei „als Ganzes ein Kunstwerk“ schreibt er. Und Herbert Schindler in seinem Buch über die Romantische Straße, an der Rothenburg liegt: Rothenburg, das sei schlichtweg die „Lieblingsstadt der Welt“.

Was ist Rothenburg? Die Fakten: Die ehemals Freie Reichsstadt, seit 1802 zum Kurfürstentum Bayern gehörend, heute mittelfränkisch, ist mit ihren gerade mal 11.000 Einwohnern ein internationaler touristischer Magnet. Doch in der Nebensaison oder am späteren Abend ist die Altstadt keinesfalls überlaufen. Wer nach Rothenburg ob der Tauber kommt, der findet im Gewirr der kleinen Gassen und Sträßchen eine ganze Vielzahl von kunsthistorisch bedeutsamen Schätzen. Im Jahr 2024 feierte man mit vielen Veranstaltungen die Ernennung zur freien Reichsstadt vor 750 Jahren. Dieses Selbstbewusstsein der bürgerlichen Stadtkultur ist immer noch gegenwärtig.

Unbedingt sollte man den Rathausturm erklimmen. Hat man es geschafft, dann wird man belohnt: Die Aussicht auf die mittelalterliche Altstadt mit ihrer Dachlandschaft, den vielen verborgenen Gärten und die etwa fünf Kilometer lange, in großen Teilen begehbare Stadtmauer mit ihren 42 Türmen ist in diesen Dimensionen wirklich atemberaubend.

Wir blicken auf die Stadt herab. Doch wissen wir: Es ist nicht alles so, wie es scheint. Hier, an diesem Ort, werden immer noch Illusionen geschaffen. Hier ist nur scheinbar alles Geschichte: Einst hat der Bauernführer Florian Geyer in Rothenburg die Artikel der aufständischen Bauern verlesen. Und hier führt noch heute der Nachtwächter durch die malerischen Gassen und erzählt die alte Legende vom „Meistertrunk“, der die Stadt einst vor den Schweden rettete. Man träumt noch immer zwischen diesen Mauern, zwischen den Basteien und Vorwerken, den alten Traum des Mittelalters. Man ist hier noch immer in einer anderen Zeit, wie es Horst Krüger geschrieben hat: „Es ist ein uralter Zauber, ein Traum steigt auf, dunkel und schön. Eine andere Epoche beginnt, Zeit der Zünfte und Ritter. Wann war das denn?“

Nach dem Dreißigjährigen Krieg fiel das unzerstörte Rothenburg in einen langen Dornröschenschlaf. Es fehlte an Geld, die Stadt zu modernisieren. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde der mittelalterliche Ort durch die Romantiker wiederentdeckt. Die Maler kamen zuhauf, um die Stadtmotive zu verewigen, unter ihnen Ludwig Richter und Carl Spitzweg, William Turner, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Hans Thoma oder auch viele britische Künstler wie Arthur Wasse, Elias Bancroft, James Douglas und Adeline S. Illingworth. Und die Literaten kamen auch: Heinrich Riehl, Leonhard Frank, Eduard Mörike, Paul Heyse und Erich Maria Remarque. Dadurch wurde der beinahe vergessene Ort weltbekannt.

Wiedererstanden aus Ruinen

Im zweiten Weltkrieg wurde Rothenburg zu 40 Prozent zerstört. Doch das ist bis heute nur wenigen bekannt. Seine Altstadt gilt als intakt und authentisch. Doch dem ist nicht so. Die neue Dauerausstellung „Der Rothenburger Weg“ im RothenburgMuseum, das in einem Klostergebäude untergebracht ist, macht genau dieses Paradox zum Thema: Mit Gemälde, Grafiken, Radierungen, Fotografien, Postkarten, aber auch szenografischen Installationen und Multimediastationen veranschaulicht die Schau, wie sich der typische Rothenburg-Motivkanon in den Massenmedien durchsetzte.

Um 1900 war die Stadt bereits ein Idealbild einer alten deutschen Stadt, wurde in der nationalen und internationalen Wahrnehmung zur romantischen Stadt schlechthin und galt als über die Maßen „pittoresk“, „picturesque“, was schon im Jahr 2020 hier als Ausstellung und Themenjahr vor Augen geführt wurde. Für Dr. Florian Huggenberger, Historiker und Leiter des Stadtarchivs Rothenburg, ist Rothenburg schlichtweg die „deutscheste aller Städte“. Der Nationalsozialismus instrumentalisierte den Mythos: Hitler spendete in den 1930er Jahren für den Erhalt der Stadtmauer.

Die Moderne, das Bauhaus, das Neue Bauen, der International Style, all das zog an Rothenburg vorbei. Gebaut wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im historisierenden „Heimatstil“. Am 31. März 1945 versank die Altstadt, vor allem der nordöstliche Teil, in Schutt und Asche. 306 Wohnhäuser und 46 Scheunen, Ställe und Nebengebäude wurden zerstört. 750 Meter Stadtmauer, zerstört durch amerikanische Phosphor- und Brandstabbomben.

Und dann? Dann begann das, was die konzentrierte Ausstellung im RothenburgMuseum als „Rothenburger Weg“ beschreibt: der überaus schnelle, mustergültige Wiederaufbau des ehemaligen Stadtbildes. Einmalig in Deutschland. Mit diesem Weg, mit dieser Leistung des Wiederaufbaus, der „Synthese aus Mittelalter, Romantik und Wiederaufbau“, will sich Rothenburg erneut um eine Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe bewerben.

Ein bekanntes Beispiel dieses Wiederaufbaus ist die Gerlachschmiede. Ein ikonisches Rothenburg-Motiv, doch auch dieses Gebäude ist ein Zeugnis des Wiederaufbaus. Das hier angebrachte Fachwerk über eine Loggia ist Fake, hat keine tragende Funktion. Und Rothenburg ist alles andere als eine unversehrte mittelalterliche Reichsstadt. „Rothenburg hat sich unter schwersten Bedingungen entschlossen, die Stadt historisch wieder aufzubauen“, erläutert Dr. Jörg Christöphler, Leiter des Referat Tourismus, Kunst und Kultur Rothenburgs. Angestrebt war die Erhaltung von Rothenburg als Gesamtkunstwerk.

In der Architekturkritik ist dieser „Rothenburger Weg“, der Weg der Kontinuität, durchaus umstritten. Ist eine solche Stadtbildentwicklung noch zeitgemäß? Auch an anderen Orten Deutschlands hat man sich für den „Rothenburger Weg“ entschieden: in der neuen Frankfurter Altstadt, auf dem Dresdner Neumarkts oder dem Alten Markt in Potsdam etwa. Das Ziel auch hier, wie es der Architekturkritiker Ulrich Brinkman ausdrückt, ist „Rückgewinnung des vertrauten Stadtbilds“.

Wir machen eine Führung mit dem Stadtführer und Denkmalpfleger Robert Frank, einem echten Kenner. Und wir staunen: Viel von dem Rothenburger Mittelalter, die gesamte lange Galgengasse etwa, stammt aus den 1940er und 1950er Jahren. Aufgebaut unter der Leitung des Münchener Architekten Fritz Florin bis Ende 1951. Doch die Idee der Rückgewinnung des Stadtbilds ist viel älter. Schon 1902 beschloss der Stadtrat eine entsprechende Baugestaltungssatzung. Wie Brinkmann formuliert, „ein frühes Beispiel eines ‚City-Branding‘“.

„Gibt es eine Modernität in der Bewahrung der Vergangenheit?“ war das Thema einer Tagung in Rothenburg. Ein dicker wissenschaftlicher Tagungsband ist erschienen. Und auch die von Edith von Weitzel-Mudersbach und Hanns Berger kuratierte Ausstellung verdeutlicht das Bemühen der Stadt, ihren „Rothenburger Weg zwischen Heimatschutz, malerischem Architekturstil und Postmoderne“ substanziell zu durchdringen und als neues Kulturthema zu setzen.

Christöphler – promoviert am Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema „Die Anschauung der Geschichte. Geschichtstheoretische Reflexionen über Historiographie von der Aufklärung bis zum Historismus“ – will zusammen mit seinem Team das komplexe Thema markant auf die Agenda bringen – und steigt beim Gespräch auf der – überaus pittoresken – Terrasse des traditionsreichen Hotels Reichsküchenmeister ungewöhnlich tief in das Thema ein.

Kein anderes Stadtbild in Deutschland, sagt er, ist mit dem von Rothenburg vergleichbar. Und es stimmt ja: Die besondere Lage der Stadt über der Tauber, die Blicke auf die Stadt, die Blicke von oben in die Landschaft – das ist einmalig. Und der „Rothenburger Weg“ ist noch lange nicht zu Ende, im Gegenteil: Das zeigen auch die Entwürfe aus dem Wettbewerb „Inside/Out“ der RWTH Aachen, die in der Ausstellung präsentiert werden. Manche der Entwürfe des Lehrstuhls für Städtebau und Entwerfen wollen provozieren. Stadtentwicklung – das ist hier gerade ein ganz wichtiges Thema. Und architektonische Gegenentwürfe zum „Rothenburger Weg“ sollen neue Perspektiven aufzeigen.

Wer mit offenen Augen durch Rothenburg spaziert, wird an vielen Stellen die Spuren des Wiederaufbaus finden: die schlichten Giebelhäusern der Rödergasse etwa. Mid-Century-Häuser, ganz ohne Zierrat, gebaut auf den alten Grundrissen, die sich wunderbar einfügen in die historische Stadtstruktur. Es braucht gar keine vorgeblendeten Fake-Fachwerk-Phantasien, die es an einigen Stellen der Stadt durchaus auch gibt. Aber Phantasie gehört zu Rothenburg auch dazu, denken wir an Walt Disneys „Pinocchio“-Film aus dem Jahr 1940, der das Fachwerkhaus am Plönlein als märchenhaftes Rothenburg-Motiv international bekannt gemacht hat. Bis heute wird dieser Ort in der Populärkultur zitiert, in den Verfilmungen von Harry Potter oder in japanischen Comics. Rothenburg ist, bis heute, Sinnbild einer mittelalterlichen deutschen Stadt, mehr noch: Idealbild und Modell.

Modell etwa auch für die englische Gartenstadt Hampstead Garden Suburb in Nord-London. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf der englische Architekt Raymond Unwin hier ein Werk, das sich in vielfacher Weise auf Rothenburg bezieht, in Dachformen, Laubengängen und Treppenaufgängen – mit einer Stadtmauer, die an Rothenburg denken lässt. Jene in Rothenburg ist mit einer Länge von dreieinhalb Kilometern die längste geschlossene Wehrmauer in Mitteleuropa. Oder auch die Gartenstadt Hellerau nahe Dresden: Auch hier bezog sich der Münchner Architekt Richard Riemerschmid explizit auf das Vorbild Rothenburg.

Wie modern ist der Rothenburger Weg? In jedem Fall kann man am Beispiel von Rothenburg auch zeitgenössische Architekturdebatten führen. Rothenburg ist – und das gibt dem „Rothenburger Weg“ recht – kein Museum, sondern eine vitale Stadt. Hier lebten nach der Katastrophe und dem raschen, aber behutsamen Wiederaufbau schnell wieder Menschen. Etwa 2000 aktuell, welche die Geschlossenheit des Stadtbildes schätzen, die schmalen Gassen und Straßen, die nach dem Krieg nicht autogerecht verbreitert wurden wie in vielen anderen Städten Deutschlands.

Jetzt kann das architekturaffine, interessierte Kulturpublikum diesem besonderen, bewahrenden „Rothenburger Weg“ nachspüren. In der neuen Dauerausstellung, aber auch im Rahmen von Sonderführungen und anderen Veranstaltungen. Diese Stadt, sie ist tatsächlich ein Gesamtkunstwerk. Und hier, an diesem so besonderen Ort, macht dieser Weg Sinn. Seit 1902, also lange vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, besteht ein durchgehender rechtlicher Schutz für das Rothenburger Stadtbild und die Rothenburger Altstadt – „eine bewusste Entscheidung der Rothenburger Bürger für den Erhalt ihres Stadtbildes“, so formuliert es Oberbürgermeister Dr. Markus Naser. „Neue Gebäude müssen sich einfügen und auch ein wenig unterordnen.“

Diese Entscheidung war richtig, denken wir uns beim Blick auf die Kulisse dieser so besonderen Stadt, die immer noch fern jedweder industriellen Moderne in einer gewissen Randlage zwischen Bayern und Baden-Württemberg ganz für sich zu liegen scheint. Es ist eine eigene Welt. Der Rothenburger Weg – er endet nie.

Eine Reise nach Rothenburg lohnt derzeit auch wegen des Themenjahres „Freyheyt 1525“. Das Gedenkjahr zum Bauernkrieg in Rothenburg bietet viele Veranstaltungen wie Erzähltheater, Lesungen und eine Live-Performance auf dem Marktplatz. Ein Höhepunkt ist „Uffrur“, ein mobiles, immersives Veranstaltungsformat der Großen Landesausstellung Baden-Württemberg – zu erleben am 28. Juni 2025 rund um den Marktplatz. Rothenburg ob der Tauber ist die einzige Station des Formats in Franken – hier soll man eintauchen in die Welt der Umbruchzeit des Bauernkrieges.

RothenburgMuseum, Klosterhof 5

April – Oktober: 10.00 – 18.00 Uhr

November – März: 14.00 – 17.00 Uhr

Weitere Links:

www.liebliches-taubertal.de

www.rothenburg.de

www.rothenburgmuseum.de

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Über Marc Peschke

Marc Peschke, 1970 geboren, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg. Er hat in Mainz Kunstgeschichte, Komparatistik und Ethnologie studiert, arbeitet als Kunsthistoriker, Journalist und Texter, auch als Kurator und Kunstberater für Print- und Online-Medien, PR- und Werbeagenturen, Künstler und Künstlerinnen, Museen, Galerien und Büros. Seine Themen sind Kunst, Kultur, Pop, Reise, Tourismus, Design, Architektur, Literatur, Film und Fotografie. Er wirkt auch als freier Kurator, war Mitinhaber und Mitbegründer der Fotokunst-Galerie KUNSTADAPTER in Wiesbaden und Frankfurt am Main – sowie der Kultur-Bar WAKKER in Wiesbaden. In Wertheim am Main war er Mitkurator des Kunstraum ATELIER SCHWAB. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und Ausland. Marc Peschkes künstlerische Arbeiten entstehen zumeist auf seinen zahlreichen Reisen und sind in verschiedenen nationalen und internationalen Sammlungen vertreten. Von 2020 bis 2022 realisierte Marc Peschke unter dem Namen MASCHERA zusammen mit anderen Künstlern und Künstlerinnen ein vielbeachtetes Musik-Video-Projekt. Seit 2022 ist er Mitkurator der Wiesbadener Fototage – Festival für aktuelle Fotokunst und Dokumentarfotografie. Seit 2022 Mitarbeit bei der Aufarbeitung des Nachlasses des Künstlers Leo Leonhard. Seit 2024 Mitarbeit bei der Aufarbeitung des Nachlasses der Künstlerin Edith Hultzsch.

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