„Schokoladenpapier einsammeln, Jungs und Mädels. Sonst geht’s nicht weiter.“
Das gebiete ich nach Ende der Rast mit möglichst fester Stimme in jenem Herbst des Jahres 1986.
Ich bin Jura-Student in Tübingen und mit der 4. Klasse einer schwäbischen Waldorfschule per Fahrrad unterwegs. Ins Schullandheim. Das Gepäck der Kinder und auch meinen Koffer hat einer der Väter schon hingefahren.
Ich bewege mich sicher hier. Schließlich bin ich in einer anthroposophischen Kirche in der DDR aufgewachsen. Ich kenne fast alle Lieder, die an Waldorfschulen gesungen werden. Die, welche ich noch nicht kenne, bringe ich mir bei auf der Gitarre.
Und Kinder sind überall gleich.
„Wegen so ein bisschen Schokoladenpapier regen Sie sich auf, Herr Walther!“ Mault eines der Mädchen, während sie widerwillig ihren Müll aufsammelt. „Aber zum Kernkraftwerk Neckarwestheim haben Sie noch gar nichts gesagt.“
„Stimmt!“ Sage ich nur.
Bei einem Knaben kommt ein schrecklicher Verdacht auf:
„Sie werden doch nicht etwa den Helmut Kohl wählen, Herr Walther?“
„GRÜN müssen Sie wählen, Herr Walther, die GRÜNEN!“ So stürmt jetzt ein ganzes Dutzend Kinder auf mich ein.
Ist etwas anderes zu erwarten mit Waldorfschul-Kindern?
Und es spielt ja auch keine Rolle. Der Müll ist aufgesammelt und jetzt sollen sie noch 7 Kilometer radeln.
„Werde es mir durch den Kopf gehen lassen.“ Sage ich, um die Lebenskräfte der Kleinen nicht über Gebühr zu beanspruchen. „Auf geht’s, wir können weiter.“
Ich bin zu Hause.
Und wohnhaft, wie man das wohl nennt, bin ich jetzt im anthroposophischen Studentenwohnheim. Im Johann-Gottlieb-Fichte-Haus.
„Gibt es schon jemanden, der die Oberuferer Spiele für Weihnachten einprobt?“ Das hatte ich gleich nach dem Umzug aus dem Wohnheim des Studentenwerkes gefragt. „Ich würde das gern machen, mindestens aber mitspielen.“
Ich kenne die Texte auswendig. Seit meinem 6. Lebensjahr habe ich eine der Figuren dargestellt. In der öden Einzelzelle in Halle war ich dann immer im Kreis gewandelt und hatte sie vor mich hin deklamiert, die Dialoge. Jetzt kann ich sie sogar im Schlaf.
Bild oben: Aus Info3, Heft 9/1988
Doch, das mit meinen Regisseur-Allüren trifft sich gut. Dem Heimleiter fällt ein Stein vom Herzen. Ganz von selbst hat sich diesmal jemand für die Aufgabe gemeldet.
Für den Schwarzen unter den Heiligen Drei Königen engagiere ich Eric aus der Gemeinschaftsunterkunft in der Thiepval-Kaserne. Er ist aus Ghana, hat einen aussichtslosen Antrag auf Asyl gestellt und sucht eine deutsche Frau, die ihn heiratet. Wird er unter Anthroposophen fündig? Eher nicht, er wird sich zu den Zeugen Jehovas bekehren.
Eric muss nach den Vorstellungen mit dem Klingelbeutel vor der Tür stehen.
„Für die Kinder.“ Die wollen ihn nämlich anfassen und überprüfen, ob dieses Schwarz auf seinen Händen draufgemalt ist. Donnerwetter – es ist echt.
Musik zu den Spielen haben wir in diesem Jahr nicht auf dem Klavier, sondern mit Gitarre, Cello und Geige gezaubert. Das wäre doch gelacht gewesen, wenn sich hier im Haus keine Streicher hätten finden lassen.
Und auch im anthroposophischen Studentenwohnheim hängen die GRÜNEN-Themen. Wie das da oben.
Und eine Anleitung zum Boykott der Volkszählung. „Wenn der Zähler kommt.“ Irgendwie sollte man sich da verstecken.
Ich sitze inzwischen für den RCDS als Studentenvertreter im Senat der Uni und im Fakultätsrat. Nein, ich bin kein Fremdkörper in diesem Haus. Ich kenne die anthroposophischen Riten, Lieder und Symbole.
Später, 2011, zur Feier der 50-jährigen Grundsteinlegung des Hauses, werde ich noch einmal hinfahren zum Fichtehaus.
Konrad Schily wird vom Bau erzählen und vom Leben im Haus.
Und davon, dass sie 1987 sogar den ersten Ostdeutschen aufgenommen hätten. Einen freigekauften Häftling aus der Jenaer Friedensgemeinschaft. Um ihm bei der Integration hier im Westen zu helfen.
Da muss ich mich aber dann doch zu Wort melden.
„Das stimmt nicht ganz, Herr Schily.“ Sage ich. „Ich bin ja auch aus der DDR-Haft freigekauft und lebte schon im Jahr zuvor hier. Aber Sie, …“ und jetzt wende ich mich an den ganzen Vorstand des anthroposophischen Vereins zur Förderung des Studentischen Lebens:
„Sie haben mich gar nicht als fremd erkennen wollen. Weil ich in der Christengemeinschaft aufgewachsen bin und die Riten, Lieder und Symbole kenne. Sie auch spielen kann.“
Hinterher kommt noch eine alte Anthroposophin zu mir und sagt:
„Danke, das haben Sie schön erzählt, Herr Walther. Dass Sie aufgewachsen sind mit dem Impuls Rudolf Steiners. Und Ihnen deshalb alle Widrigkeiten des Lebens nichts anhaben konnten.“
Verdammt, das habe ich doch gar nicht erzählt!
Ich habe erzählt, dass ich dieselben Riten, Lieder und Symbole kann wie die alte Dame vor mir. Und dass sie deshalb glaubt, ich sei wie sie.
Und dabei ist doch kein Mensch wie der andere. Jeder ist ein Universum.
Deshalb gibt es ja Riten, Lieder und Symbole. Sie lassen uns das Alleinsein vergessen, schaffen ein Gefühl von „Wir“, das der Mensch auch braucht.
Was ist „der Ossi“, was „der Wessi“?
Ist das mehr als eine Ansammlung verschiedener Riten, Lieder und Symbole?