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Die Ödnis des Waschzettels. Oder: Die Zahnlosigkeit der Musikkritiker

Der englische Musikjournalist Dave Marsh hat einmal über Queen geschrieben: „Tatsächlich könnten Queen die erste durch und durch faschistische Rockband sein. Wegen all dieser Dinge verstehe ich nicht, wieso die Leute immer noch nachsichtig sind mit diesen widerlichen Typen und ihren gefährlichen Gedanken“. „Selbst nach intensiven Recherchen und vom Verfasser dieser Kolumne weitgehend furchtlos vorgenommenen Selbst-Hör-Versuchen will sich nicht mal im frühsten Frühwerk von BAP irgendeine Idee von musikalischem Wert, ein künstlerischer Funke oder auch nur ein Zeichen von Lebendigkeit finden. Schon immer haben BAP jene primitiv-maskuline Bluesrock-Doublette gepflegt, für die man sie fürchtet“ – so das Verdikt des deutschen Großkritikers Jens Balzer. Man muss beiden Kapitalverrissen an der Grenze zur Schmähkritik nicht zustimmen – aber ein bisschen traurig darf man schon sein, dass man derlei meinungsstarke Stimmen dieser Tage kaum noch liest.

Selbst in der englischen Musikpresse – in der deutschen schon gar nicht, und in den Feuilletons der meisten Regionalzeitungen muss man Meinung sowieso mit der Lupe suchen. „Die kritische Berichterstattung im Musikbereich verschwindet allgemein“. Hat Andreas Borcholte, Musikkritiker bei Spiegel Online, gesagt. Recht hat er.
Was man stattdessen liest, sind durchweg beste Schulnoten in den CD-Rezensionen der meisten Musikmagazine, kritiklose Nacherzählungen von Konzerten in den Tageszeitungen – im schlimmsten Fall auch noch im hilflosen Stil von Schüleraufsätzen oder noch schlimmer: die Wiedergabe eines Plattenfirmen-Infos, ins Präteritum gesetzt. Mit dem, was Rezensenten leisten können und sollen, hat all das wenig zu tun. Zugegeben, es ist der Weg des geringsten Widerstandes. Man muss sich keine Meinung leisten, denn dann müsste man sie auch begründen können.

Für wen schreibe ich eigentlich?

Wer kritisch über Musik schreibt, steht zunächst vor der Frage: Für wen schreibe ich? Sicher nicht in erster Linie für den Fan – denn der will sich nur in seiner Heldenverehrung bestätigt sehen, am besten noch mit sich selbst in der Hauptrolle. Der liest gerne Sätze wie diesen: „Die begeisterten Fans dankten Fritz Nopp und seiner Kapelle mit langanhaltendem Applaus.“
Sollte der Rezensent selbst Fanboy oder Fangirl sein, ist ebenso höchste Vorsicht geboten. Nichts ist schwerer, als eine überschäumende Lobhudelei als begründete Kritik erscheinen zu lassen. Superlative allein genügen kaum, um dem Leser zu erklären, warum der Schreiber jetzt gerade vor Begeisterung tropft. Keinesfalls sollte man sich aber umgekehrt hinreißen lassen, für die Verächter und Hasser eines Künstlers zu schreiben – also einen vorsätzlichem Verriss zu planen. Ein Fan von Tocotronic wird kaum etwas anderes als Schmähkritik zustande bringen, wenn ihn sein Redakteur ins Pur-Konzert abkommandiert. Und würde man mich ins Tocotronic-Konzert schicken, das Resultat wäre ein Massaker.

Im besten Fall vermittelt der Rezensent dem Konzertbesucher das Gefühl, das Erlebte noch einmal zu erleben – und dabei seine Eindrücke so zu vermitteln, dass der Leser ausrufen möge: „Jawoll!! Genau so!“, „Ach was? Das habe ich aber anders gehört?“ oder: „So kann man es auch sehen!“ Erlaubt ist auch: „Welch ein arrogantes Arschloch. Aber schreiben kann es.“ Sachkenntnis ist also gefragt. Das muss der Leser spüren, auch wenn ihm der Sinn nach Widerspruch steht. Klar ist es erlaubt, musikalische Hervorbringungen darüber hinaus historisch und stilistisch einzuordnen, zu wägen und im Hirn zu ventilieren, um dann von der „höheren Warte“ des vielzitierten aus Vinyl geformten Elfenbeinturms herab zu dozieren, worum es sich nach neuesten Erkenntnissen der gängigen „Popdiskurse“ gerade gehandelt haben könnte. Ich habe immer eine große Bewunderung für Kollegen in meinem Herzen getragen, die zu derlei imstande sind (so ich denn überhaupt ein Wort verstanden habe), aber mein Ansatz war schon immer ein anderer.

Im Jazzkeller mit Sal Paradise und Dean Moriarty

Seit ich vor Jahrzehnten in Jack Kerouacs Roman „On The Road“ eine kurze Szene verschlungen hatte, in der die Helden Sal Paradise und Dean Moriarty in einer versifften Bar einem Jazzpianisten zuhören, war mir klar: So, und nur so sollte man…. nein: ich, über Musik schreiben. Denn da kroch einem beim Lesen der Qualm der Spelunke in die Nase, da hatte man das Gefühl, durch Lachen verschütteten Biers zur waten, da hörte man die Gespräche der dort zum Erliegen gekommenen Gäste. Und vielleicht hing man mit einem Ohr gar direkt in den Saiten des Klaviers.
Die Devise also lautete fürderhin: Benimm dich wie das sprichwörtliche Kind im Dreck, das gerade ein neues Spielzeug entdeckt hat. Probiere aus, was es mit dir anstellt. Lass dich von der Musik zu unvernünftigem Verhalten verführen. Trinke, rauche. Spiele Luftgitarre. Schreibe Zettel um Zettel voll, die du am nächsten Morgen nicht mehr lesen kannst. Packe den Trip bei den Hörnern und haue ihn aufs Papier. Und sollte sich herausstellen, dass es ein Horrortrip war, leugne nichts. Spreize dich nicht allzu intellektuell, aber freue dich diebisch, wenn freundlich gesonnene Leser meinen: „Du schreibst so intellektuell“. Sei vorurteilslos. Entdecke Neues, aber gib auch zu, wenn du nichts kapiert hast. Naja, zumindest auf Nachfrage. Und vor allem: meide die Parallelwelten von Geschmacks-Stalinisten, sprich: halte dich fern von allem, was mit „Diskurs“ etikettiert ist.

Der Leser wird es dir danken mit interessanten Hinweisen zur Selbsterkenntnis – wie zum Beispiel diesem: „Entweder Sie sind ein alter, vertrockneter Mann um die 45 Jahre und haben ein beschissenes Leben, oder Sie sind neidisch, weil Sie vielleicht weniger erfolgreich sind…. Was halten Sie eigentlich von sich?“ mutmasste dereinst ein erzürnter Tote Hosen-Fan. Dabei hatte ich doch nur gemunkelt, bei den Toten Hosen handle es sich gar nicht um eine Punk-Band, sondern um eine Stadion-Rock-Kapelle. Sogar eine ziemlich gute.

Sei einfach unsagbar böse

Ein richtiger Verriss sieht dagegen so aus – es geht um ein Album von Blackmore’s Night. Dem Gitarristen, der nach seinem Ausstieg bei Deep Purple beschloss, fürderhin zart bestrumpft Fahrstuhlmusik für’s Rittermahl in rustikaler Umgebung zu schaffen. Also, los geht’s: „Wer soll mit dieser rosa-blaßblauen Fahrstuhlmusik beschallt werden, die den Geruch von abgestandenem Met, ach was: der Verwesung ganzer Rittergeschlechter mit dem Duft billigen Parfüms aufs fürchterlichste verbindet? Dort, wo es folklore-naturbelassen klingt, mag es ja noch angehen. Sobald der Gesang der Candice Night anhebt, wir es finster. Dieses glockenhelle Nichts würde es schaffen, noch höchste Minnepoesie in die Belanglosigkeit zu flöten. Man zuckt bei all dem wattierten Geruckel und Geschnuckel hoffnungsfroh zusammen, wenn mal ein lautes Schlagzeug zu hören ist, oder Herr Blackmore routiniert dreieinhalb Takte auf der Stromgitarre gibt. Aber spätestens bei der finalen Schlachtung von „Child in Time“ muss denn auch der Wohlmeinendste alle Hoffnung fahren lassen. Und das ist nicht mal die Hoffnung auf Rock. Sondern auf einen kleinen Rest Anstand.“
Wer schreibt heute noch sowas? Ausser mir natürlich? Ah, ich höre gerade: Ich schreibe nix mehr. Es druckt ja eh keiner. „Interessiert unsere Leser nicht“. Sagt die „Lesewertanalyse“. Das neueste Redaktions-Tool zur Kulturvernichtung.

Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.

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4 Gedanken zu “Die Ödnis des Waschzettels. Oder: Die Zahnlosigkeit der Musikkritiker;”

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    Wenn wir alle taktische Erwägungen, Diplomatie, Freundlichkeit und Nichtverletzenwollen (‚Achtsamkeit‘),also letztlich Sicherheitserwägungen da, wo das nun wirklich .nicht nötig ist, hinten anstellen würden und mutiger wären, würde ich die „Waschzettel“ (u.v.A.) auch wieder lesen. Vielleicht würde dann auch wieder mehr gute Musik (u.v.A.) erfunden. Und nicht nur so ein Schrott, wie ‚Indie Pop‘.

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    Ein guter Grundsatz: Für sich schreiben. Zur Klärung der eigenen Gefühle. Hier keine Konzertbesprechung, aber der Anfang einer Interpretation von „Knockin‘ On Heaven’s Door““ aus meinem Dylan-Buch „Shot of Love“:
    „Diesen Song kann ich nicht leiden. Vielleicht weil er von so vielen deutschen Rockmusikern so gern gespielt wird. Vermutlich mögen sie ihn, weil es nicht viel Text gibt, eigentlich nur: „Poch, poch, poche an der Himmelstür / Poch, poch, poche an der Himmelstür / Poch, poch, poche an der Himmelstür / Poch, poch, poche an der Himmelstür.“ Kein Rockmusiker, der etwas Selbstachtung hat, würde so einen Text auf Deutsch singen, aber auf Englisch klingt das irgendwie bedeutend, man kann das Gesicht dazu bluesschmerzverzerrt gen Scheinwerfer drehen und so tun, als dächte man an den Tod und glaubte an einen Himmel, während man in Wirklichkeit nur denkt: „Jetzt wäre ein Mädchenchor gut, um das Ooh-ooh-ooh-Stück zu singen.““

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      Knockin’ on heaven’s door spiele ich immer wieder gern. Aus einem Grund: Ich hab’ da ein Drumfill, bevor die Strophe kommt, das den Rest der Band schier von der Bühne bläst. Der Rest des Songs ist mir dann weitgehend schnuppe…..

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