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Warum Neufünfland „russischer“ tickt als der Westen, oder: It’s the economy, stupid.

Warum ist der Ostdeutsche NICHT so erpicht auf eine Frontstellung gegen Moskau?

Hängt er so sehr an seinem vormaligen Besatzer? Dem Kerkermeister?

Die Feierabend-Psychologen vermuten das Stockholm-Syndrom. Also dass der einst in Geiselhaft genommene Zoni aus der Sowjetzone sich solidarisiert habe mit seinem vormaligen Geiselnehmer.

Das alles vergißt:

Das Sowjetimperium war auch ein Wirtschaftsblock

Zunächst einmal:

– Sozialismus war nicht nur die Unterdrückung und Ausbeutung von Deutschen (oder Balten oder Tschechen) durch „die Russen“.

– Im Sowjetimperium raubten „die Russen“ nicht einfach Güter.

Es gab einen zwischenstaatlichen Warenaustausch im „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, RGW“. „Man“ war aufeinander angewiesen.

In der DDR – Textilindustrie z.B. gab es zwar erstaunliche sächsische Erfindungen zu künstlichen Textilfasern. Aber all diese hätten nicht funktioniert ohne eine Beimischung georgischer Baumwolle.

Auf der anderen Seite: Fast jeder der Eisenbahnwaggons, in denen ich 23 Tage lang durch die Sowjetunion rollte, war hergestellt im VEB Waggonbau Ammendorf.

Diese wirtschaftlichen Verflechtungen ostdeutscher Unternehmen nach Moskau brachen 1990 keineswegs ab (Auch die Verflechtungen nach Kiew brachen nicht ab). Sie sollten auch nicht abbrechen, vielmehr sollten sie nach 1990 unter der Regierung Kohl/Genscher weiterentwickelt werden und wurden es auch.

Das Erdöl

Für Benzin hatte die DDR Erdöl aus der Sowjetunion gebraucht, auch für die Plastikproduktion, also die Erdölchemie.

Um Wärme zu erzeugen in Wohnung oder Betrieb, wurde Kohle verbrannt. Braunkohle.

Steinkohle hätte auch wieder importiert werden müssen. Auch in den Gärtnereien heizten wir die Gurken- und Tomatenzelte mit Braunkohle. Die damals übliche und Arbeitskräfte sparende niederländische Praxis, Gewächshäuser mit Öl zu heizen, erschien uns als ein schreiender Luxus.

Auch in Westdeutschland hatte die Ölheizung eine vormalige Kohleheizung abgelöst. Erdöl war bis in den 2. Weltkrieg hinein (anders als in Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder den USA) so kostbar gewesen in Deutschland, dass deutsche Findikusse Benzin aus Kohle herstellten.

Und nicht nur nebenbei: Der Drang nach dem Öl war der Hauptanlaß für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gewesen.

Das Erdgas

Das mit dem Erdgas begann für Westdeutschland mit dem Erdgas-Röhren-Geschäft erst in den 1970er Jahren.  An Fahrt aufnehmen konnte die Gaslieferung durch die von Ostdeutschen  errichtete „Drushba-Trasse“ der Erdgasleitung „Sojus“. Die Rohrleitung wurde erst nach der Wende fertiggestellt und ist gewissermaßen eine „Mitfgift“ der DDR in die Deutsche Einheit.

Erdgas löste im Westen das Erdöl ab, im Osten zumeist gleich die Braunkohleheizung.

Und wie mein Heizungsbauer sagt: „Nichts bewegt den Kunden mehr als ein kalter Arsch.“


Moskau war einmal für den Osten Deutschlands der wichtigste Außenhandelspartner. Warum sollte Moskau nicht wieder Handelspartner sein ?

Es ist nicht verwunderlich, dass eine antirussische Front im Osten diese Anzahl an Fans nicht findet:

It’s the economy, stupid.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

9 Gedanken zu “Warum Neufünfland „russischer“ tickt als der Westen, oder: It’s the economy, stupid.;”

  1. avatar

    Lieber Bodo Walther.. ich denke mal, selbst Stalin scheint ja irgendwas richtig gemacht zu haben. Bei der Verehrung, die ihm posthum zuteil wurde. Und ja: Wirtschaft (auch Kapitalismus), also Markt findet überall statt. Manchmal ist er auch schwarz und dann besonders lukrativ. Und es ist nicht der schlechteste Plan, die Politik wie Aktienkurse zu ignorieren und ab und zu den Gewinn zu realisieren.

  2. avatar

    Ja. It’s the economy, stupid. Aber womöglich genau anderherum:
    Es gibt Stimmen, die erklären, dass „Neufünfland „russischer“ tickt als der Westen“ liege daran, dass Ostelbien über Jahrhunderte unter Gutsherrschaft lebte, während der Westen Gutswirtschaft betrieb.

    1. avatar

      „Ostelbien“, lieber Edmund Jestadt, liegt östlich der Elbe und meint auch Schleswig-Holstein.

      Nicht ganz Neufünfland ist Ostelbien. Die Elbe fließt da mitten durch. Die Geografie der Gutsherren-Wirtschaft läßt sich aus dem Resultat des Befehls 124 der Sowjetischen Militäradministration, der „Bodenreform“ ablesen. Der 1946er Vollenteignung aller, die mehr als 100 Hektar Land besaßen. Das betraf in Meck-Pom 54% Prozent der Landwirtschaftlichen Nutzfläche, in Thüringen nur 15 %. Weil Thüringen nicht Ostelbien ist. Westsachsen und das südliche Sachsen-Anhalt auch nicht.

      Bauernstrukturen, also die Wirtschaft auf „eigener Scholle“ dominierten dort die Landwirtschaft bis zur Einführung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, LPG.

      Übrigens: Eine „Bodenreform“, eine Begrenzung des Grundbesitzes auf 100 ha war 1949 auch Auftrag in Artikel 8 der Landesverfassung Schleswig-Holsteins.
      https://www.verfassungen.de/sh/verf49-i.htm

      P.S.:

      Meinten Sie, dass der Westen Bauernwirtschaft bis 1990 betrieben habe ? Denn das wäre das Gegenteil von Gutsherrenwirtschaft. Das mit der Bauernwirtschaft im Westen war noch in den 1980er Jahren tatsächlich überwiegend so. In Niedersachsen und Schleswig – Holstein aber nicht. Heute verdunstet auch im Westen die Bauernwirtschaft auf eigener Scholle zugunsten von Agrar-Großbetrieben. Landwirtschaft wird heute in West wie Ost überwiegend auf Pachtland betrieben.https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/wem-gehoert-landwirtschaft-kampf-bauern-um-boden-583534

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        Ja. Die Elbe als Grenzverlauf zu nehmen, ist ungenau. Gutsherrschaft gab es auch in Schleswig-Holstein. Und Gutsherrschaft gab es auch westlich der Elbe, nämlich östlich von Hannover. In Teilen Sachsens wiederum gab es sie nicht. Für die angeführte These „Über Jahrhunderte in Gutsherrschaft entwickelte Mentalität“ spielt das aber eher keine Rolle. (Sofern sie überhaupt ernst gemeint war und nicht lediglich – scherzhaft – der Relativierung Ihrer economy-These diente.)

        Sie sprechen von „Gutsherrenwirtschaft“ und „Bauernwirtschaft“. Es geht in der These aber um den Gegensatz von Gutswirtschaft und Gutsherrschaft. Der „ostelbische“ Gutsherr der Gutherrschaft war mit diversen Rechten ausgestattet, beispielweise hatte er Polizeigewalt. Der westliche Gutsherr der Gutswirtschaft hatte solche Rechte nicht.

      2. avatar

        Danke, Edmund Jestadt. Jetzt verstehe ich (endlich).
        Ja, der „Junker“ hatte mehr als nur wirtschaftliche Macht. Er war oftmals auch der (protestantische) Kirchenpatron. Also der „Vertreter Gottes“. Bis etwa 1880 gab es auch noch die Patrimonialgerichtsbarkeit, In der war der Junker zu allem Überfluss auch noch Amtsrichter. Richard Schröder beschrieb mal den noch in der DDR nachwirkenden Unterschied zwischen einer Patronatskirche und einer „Bauernkirche“ so:

        „In der einen sagten die Gemeindeglieder: Das Kirchendach ist undicht, weil der Patron in den Westen vertrieben ist. In der anderen sagten die Gemeindemitglieder: Das Kirchendach ist undicht. Ich hab noch Ziegel auf dem Hof und ich frag mal, wer noch mitmacht.“

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    Danke, Bodo Walther, für diese Einlassung. Ich habe mich zwar darin nicht wiedergefunden, das muss ich auch gar nicht, aber es ist bemerkenswert, dass diese Aspekte so völlig von der Ideologie eines neuen Kalten Krieges und eines neuen Wettrüstens verdrängt worden sind.

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