Die Enttarnung des Rassismus-Vorwurfs: Bundeskanzler Scholz hat alle Achtsamkeits-Regeln mit zwei Worten bilderbuchmäßig verletzt. Aber niemand nimmt es krumm. Warum eigentlich?
Ich habe in den vergangenen Jahren sehr viel über Rassismus, über Mikroaggressionen und die Diskriminierung von Minderheiten gelernt. Hinter jeder scheinbar harmlosen Frage nach der Herkunft lauert bereits Rassismus. Jeder Nebensatz kann schon ein Frontalangriff auf eine Minderheit sein. Oder auf Frauen. Ob das alles richtig ist oder nicht – mein Wissen über diese und ähnliche Mechanismen hat sich deutlich gesteigert.
Gerade als weißer Mann, der zur Generation der Boomer gehört, war das alles sehr lehrreich. Denn ich stamme aus einer Zeit, in der alles noch ganz einfach war. Wir haben damals von den Hippies gelernt, dass alle Menschen gleich sind. Nun musste ich mich also mühsam damit auseinandersetzen, dass das nicht so sein soll. Holzschnittartig könnte man sagen: Es gibt Opfer und Täter. Und ich gehöre zu den Tätern.
Das hat mich wachsamer gemacht. Übersetzt könnte man sagen: woker. Aufmerksamkeit ist ja nicht schlecht. Zweifel sind allerdings geblieben. Gravierende Zweifel. Und der Vorfall rund um Bundeskanzler Olaf Scholz und den Berliner Kultursenator Joe Chialo hat meine Zweifel an vielen Aspekten der Rassismus-Erzählung bestätigt.
„Diese Worte haben mich getroffen“
Auf einer Geburtstagsfeier hat Olaf Scholz den CDU-Politiker als „Hofnarr“ und „Feigenblatt“ tituliert. Chialo bezeichnete Scholz’ Äußerungen später als herabwürdigend und verletzend: „Diese Worte haben mich tief getroffen.“ Nach einem Telefonat mit Scholz sei die. Sache aber für ihn erledigt. Für weite Teile der deutschen Medienlandschaft ist die Sache damit offenbar auch erledigt.
Wie kann das sein?
Chialos Standpunkt ist sonnenklar. Er will diese Sache loswerden. Er möchte nicht sein restliches Leben mit den Schimpfworten eines deutschen Bundeskanzlers in Verbindung gebracht werden. Chialo fühlt sich nicht wohl in einer Opferrolle, die andere vielleicht gerne eingenommen hätten. Deshalb erklärt er die Sache für beendet. Das ist für mich vollkommen verständlich. Der aufrechte Mann will einfach weiter seinen eigenen Weg gehen.
Sie hätten doch toben müssen
Aber was ist plötzlich mit all den Kämpfern gegen Rassismus, Mikroaggressionen gegen Minderheiten und Disrespect los? Wo sind sie alle geblieben. In diesem Bilderbuchfall für all ihre Argumente, Warnungen und Welterklärungen. Sie hätten doch toben müssen. Im Gegenteil. Nachdem der Vorfall publik wurde, überschlugen sich die Verteidiger von Scholz. Sofort gab es unzählige Erklärungen, warum das alles mit Rassismus gar nichts zu tun habe. Kampagnen wurden gewittert. Dunkle Machenschaften der beteiligten Medien. Sogar ein BILD-Journalist wurde als Kronzeuge für die eigene Auslegung des Vorfalls bemüht. BILD! Könnte sein, dass er einfach nur die letzten Achtsamkeit-Vorlesungen geschwänzt hat und nicht so sensibilisiert ist?
Was haben wir gelernt? Der Rassismus-Disrespect-Vorwurf wird in einem Fall, der nach allem, was ich inzwischen über dieses Phänomen gelernt habe, nicht klarer sein könnte, einfach mal fallen gelassen. Warum? Weil er nicht in die politische Erzählung passt. Sogar Scholz kann offenbar noch irgendwie als links gelten und man springt einem Gesinnungsgenossen auch im Falle dieser unglaublichen Selbstentblößung zur Seite. Wenn Friedrich Merz sich ähnlich geäußert hätte, reichten die Lichterketten inzwischen von der Siegessäule in Berlin bis nach Berchtesgaden.
Schnöde Waffe im politischen Kampf
Diese unappetitliche Episode schwächt natürlich alles, was mir die Aufmerksamkeits- und Achtsamkeits-Propagandisten in den vergangenen Jahren erklärt haben. Der Rassismus-Vorwurf wurde durch das Weg-Diskutieren dieses Falls als schnöde Waffe im politischen Kampf enttarnt. Scholz hat alle Regeln, die ich verstanden habe, mit zwei Worten auf das übelste verletzt. Aber er wird nur Sekunden später ausgerechnet von den Moral-Aufsehern in den Netzwerken freigesprochen, die ansonsten sofort das Fallbeil aus der Abstellkammer holen.
Ich bemühe mich, weiter aufmerksam zu sein. Auch wenn es um Sozialdemokraten geht. Aber ich ziehe mich gleichzeitig auf meine Lebenserfahrung seit den 70er-Jahren zurück. Alle Menschen sind gleich. Nur der Kanzler ist etwas gleicher.
Frank Schmiechen ist Journalist und Musiker. Er startete als Reporter bei der Bergedorfer Zeitung, war später unter anderem Stellv. Chefredakteur der WELT und Chefredakteur des Online-Mediums Gründerszene. Seit einigen Jahren arbeitet er freiberuflich als Kommunikationsberater. In den 70er Jahren begann er seine Musiker-Karriere als Songschreiber, Bassist, Gitarrist und Pianist. Sein Herz schlägt auch für guten Wein und den HSV. Frank Schmiechen lebt in Berlin und hat vier Töchter.
Foto: Tim Reckmann / Flickr
Bravo, Frank Schmiechen, vielen Dank für den, die Doppelmoral des links-medialen Komplexes desavouierenden Text.
1) „Und ich gehöre zu den Tätern.“ Und was haben Sie getan? Was Schlimmes oder nur irgendwas ‚falsch‘ gefühlt, dass man natürlich umgehend wegtherapieren muss?
2) „Er [Chialo] will diese Sache loswerden.“ Eben. Warum lassen wir ihn nicht? Ist es nicht seine Sache?
3) „Sie hätten doch toben müssen.“ Nein müssen sie offensichtlich nicht. Wem jetzt immer noch nicht klar ist, was für ein scheinheiliger Affenzirkus diese ganze ‚Wokeness‘ ist, dem ist nicht zu helfen.
Ich denke wir haben mittlerweile ganz andere Sorgen.
Aufgewachsen bin ich in der DDR,
– Dort wurde der Vertragsarbeiter aus Mosambik verachtet dafür, dass er allenfalls eine Grundschule besucht hatte und oftmals nicht mal portugiesisch sprach. Sondern irgend so ein Bantu.
– Dort wurde der Student aus Senegal beneidet dafür, dass er nach der grossen weiten Welt roch. Mit seinem perfekten Französisch.
„Den Nechor“ gibt es doch so arg nicht.
… git es doch GAR nicht.
Darauf wollte ich hinaus: Jemanden wie Joe Chialo braucht man nicht zu verteidigen, weil er das schon ganz gut selber kann. Die Empörung hat andere Ursachen und ich denke eine davon ist dieser arg paternalistische Reflex des Gutmenschen. Eine andere ist, dem Scholz nun auch Rassismus vorwerfen zu können. Das ganze scheint mir ziemlich provinzielles Affentheater über sehr deutsche Befindlichkeiten zu sein, die man nun wirklich nicht braucht. Aber es soll keine Kritik am Text oben sein, wo Herr Schmiechen versucht hat, die Sachlage ehrlich zu sezieren.