Wohin nur? Was tun? Knapp zwei Wochen vor der Wahl gibt die Politik in Deutschland keine gute Figur ab. Man repetiert alte Gewohnheiten. Neue Ideen sucht der Wähler vergebens.
Olaf Scholz oder Friedrich Merz? Ist das alles, was wir zu bieten haben? Ich kann mich gar nicht entscheiden. Die CDU setzt auf mehr „Fleiß und Ehrgeiz“. Die SPD bringt uns Frieden und mehr Geld für fast alle. Die alte Linke will Milliardäre abschaffen. Die neue Linke findet, dass die USA eigentlich an allem Schuld sind. Politik in Deutschland hat den Charme einer Telefonzelle aus den 80er Jahren, bei der die Scheiben eingeworfen wurden. Wenn ich aktuelle Bundestagsdebatten höre, spüre ich ein dringendes Verlangen, am Samstag meinen scheckheftgepflegten Opel Ascona vor die Garage meines Reihenhauses zu fahren und bei der akribischen Wagenwäsche die Bundesliga-Konferenz aus dem Blaupunkt-Radio zu hören. Tor in Gelsenkirchen! In Mono. Aber bis zu „Wetten, dass..?“ muss ich fertig sein.
Die Geschwindigkeit der globalen gesellschaftlichen Veränderungen nimmt exponentiell zu. Die Politik in Deutschland scheint der einzige Bereich zu sein, auf den dieses Tempo keinerlei Auswirkungen hat. Eigentlich gibt es bei uns immer noch nur zwei grundsätzliche politische Haltungen. Die eine Seite will mehr Geld verteilen. Die andere Seite will das Geld erstmal verdienen. Klingt konfrontativ. Man ist sich aber völlig einig, dass mit mehr Geld und Personal alle Probleme ganz schnell lösbar wären. Deutsche Politik mit dem Jägerzaun-Abzeichen in Gold. Für alle Zeiten eingefroren.
Deutschland starrt missmutig auf China, die USA oder Südkorea. Das Tempo der Veränderungen dort ist uns unheimlich. Da muss doch irgendetwas falsch laufen. Oder? China hat in den vergangenen zehn Jahren 100 Millionen Menschen aus der Armut befreit. Wir finden die Hochhaussiedlungen furchtbar. Die USA haben uns mit der ersten digitalen Revolution abgehängt, die nächste Revolution ist längst auf dem Weg. Wo bleibt denn da der Datenschutz? Kultur kommt aus Südkorea: K-Pop, Kinofilme wie „Parasite“, Serien („Squid Game“), Literatur (Nobelpreis für Han Kang), Apps und Plattformen. Wir haben den Tatort.
Im Geist höre ich den Nadeldrucker
Ich lausche einer Bundestags-Debatte. Die Präsidentin bedankt sich gerade bei den Stenografinnen und Stenografen. Im Geist höre ich einen Nadeldrucker rattern. Die Grünen fordern mehr Empathie. Ich fordere mehr Hirn. Mehr Geld nach hier, weniger Geld nach dort. Unser Land liegt in Trümmern. Wir sind eigentlich gut durch die Krise gekommen. Ach, ich könnte diesen Debatten tagelang lauschen. Gibt es irgendjemand in diesem Parlament, der eine Idee hat die ich nicht verstehe, weil sie so genial ist? Eine Idee, die außerhalb dessen liegt, was wir sowieso schon seit 50 Jahren durchnudeln? Die ansatzweise mit der rasanten Entwicklung da draußen mithalten kann?
Aus der angestrebten „Transformation“ unserer Wirtschaft ist ein Niedergang geworden. Warum eigentlich? Ich bin großer Fan von neuer Technologie. Aber nur wenn sie besser ist als die alte Technologie. Dann bin ich sofort bereit, Geld auf den Tisch zu legen. Nur dann modernisieren Unternehmen ihre Anlagen, Abläufe und Geschäftsmodelle. Sie tun es nicht, wenn irgendwelche Politiker meinen, sie wüssten besser, wie man gute Geschäfte macht. Meine vielen Kontakte im Mittelstand sind besorgt. Das waren sie schon immer. Kein Wunder, weil sie im Gegensatz zu Politikern die volle wirtschaftliche Verantwortung für sich, die Angestellten und ihren Familien tragen. Aber dieses Mal scheint es ernst zu sein. Umsätze fallen. Fachkräfte gibt es nicht. Der Betrieb wird teurer. Die Industrieproduktion nimmt in Deutschland rasant ab. Experten schätzen: 27 Prozent seit 2017.
Auf der nach oben offenen Esken-Skala
Vielleicht ist das alles gar nicht so schlimm. Wenn wir neue Antworten finden. Ein neues Geschäftsmodell. Neue Ideen. Ein neues Betriebssystem. Wenn wir Politik machen, die mit den Menschen zu tun hat, die jetzt da draußen herumlaufen. Wenn ich mir den Parteien-Nachwuchs anschaue, habe ich nicht viel Hoffnung. Da wird ohne einen Funken Esprit der althergebrachte Katechismus heruntergeleiert, dass mir die Tränen kommen. Wer am längsten und lautesten leiert, schafft es am weitesten in der nach oben offenen Esken-Skala. Verboten sind eigene Gedanken. Das haben wir noch nie so gemacht! Wir müssen an die alleinerziehende Mutter in Kreuzberg denken! Am Samstag gehört Papa mir!
Aus ehemals aufmüpfigen Linken sind die spießigsten Beamtenseelen geworden, die man sich vorstellen kann. Aus ehemals knorrigen Konservativen flauschige Wattebäusche. Freiheitsliebende Liberale haben ihre tiefe Verehrung für einen starken Staat entdeckt, der mal so richtig durchgreift. Linke aus Ostdeutschland finden Russland super, weil sie das mal in der Schule gelernt haben. Ok, mir blieb nur eine Entscheidung. Ich wähle den Bergdoktor.
Frank Schmiechen ist Journalist und Musiker. Er startete als Reporter bei der Bergedorfer Zeitung, war später unter anderem Stellv. Chefredakteur der WELT und Chefredakteur des Online-Mediums Gründerszene. Seit einigen Jahren arbeitet er freiberuflich als Kommunikationsberater. In den 70er Jahren begann er seine Musiker-Karriere als Songschreiber, Bassist, Gitarrist und Pianist. Sein Herz schlägt auch für guten Wein und den HSV. Frank Schmiechen lebt in Berlin und hat vier Töchter.
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Lieber Frank Schmiechen,
vielen Dank für den frischen Wind dieses Textes. Auf den Punkt.