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1997 – nach den Schuldigen

Den Brief vom Landeskriminalamt des Landes Brandenburg habe ich gelocht und weggeheftet. Sie sollen mich in Ruhe lassen. Die Rechtspflege hat begonnen zu arbeiten. Sie funktionieren, der Herr brandenburgische Ministerpräsident, Manfred Stolpe, und sein Generalstaatsanwalt, Dr. Erardo Cristoforo Rautenberg. Der Herr Dr. Rautenberg ist ein Genosse aus dem Westen. Er ist nur einer der vielen, die montags bis freitags der Regierung Stolpe in Potsdam dienen, getrennt von ihrer Familie. Vom Trennungsgeld, das Dr. Rautenberg außer seiner Besoldung auch noch bezieht, so wird später in den Zeitungen stehen, vom Trennungsgeld wird das Justizministerium zunächst 5.000 Euro zurückfordern. Genosse Rautenberg wird durchsetzen, dass er das Geld behalten kann. Der Landesrechnungshof wird alles geprüft haben. Was Recht ist, muss Recht bleiben.

Er hat mir schreiben lassen. Ich hätte 1985 vor einem Beamten einer Zentralen Erfassungsstelle der Justizminister der westdeutschen Länder in Salzgitter ausgesagt. Ich hätte behauptet, ich hätte mit eigenen Augen die Misshandlung eines Mitgefangenen in der DDR-Justizvollzugseinrichtung in Cottbus gesehen.

Ich möge dies auf dem beiliegenden Blatt beschreiben. Ich hätte als Zeuge zur Verfügung zu stehen. Das sei meine Bürgerpflicht. Bis zu sechs Monaten werde mich der Genosse Rautenberg in Zwangshaft nehmen, wenn ich nicht aussagen würde.

Was geht das alles mich an? Die Sache ist 13 Jahre her. Und im Wahlversprechen der SPD zu den Bundestagswahlen 1987 hieß es noch: „Wir wollen die zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter auflösen. Sie ist überflüssig.“

Den Brief habe ich gelocht und weggeheftet und dann noch den zweiten. Er hat mir noch einmal schreiben lassen, 6 Monate in Beugehaft könne er mich nehmen…

Den dritten Brief erhalte ich nicht mit der Post. Im Büro in Leipzig erhalte ich einen Anruf von daheim. Zwei junge Beamte des Landeskriminalamtes Brandenburg stehen in unserer Wohnung und wollen mich vernehmen. „Gib mal das Telefon. – Hallo ?“ Ja also gut, ich werde tun, was ihr Chef von mir verlangt. „Nennen Sie mir ein Hallesches Polizeirevier Ihrer Wahl“ sage ich, als wolle ich zum Duellieren. „Ich werde erscheinen.“

Zeuge

In der Woche darauf sagt der Pförtner des Polizeireviers Halle – Mitte, eine alter Herr mit dickem Genosse – Volkspolizisten – Bauch: „Da filln se ma aus, wesweechen se hier sin.“ – „Eine Zeugenaussage.“ sage ich.

„Zeuchenaussaache, wesweechen ?“ – „Steht doch drauf: Körperverletzung.“ – „Wann gewäsn, wo ?“ – „Weiß ich nicht, werde ich schon erfahren.“ – „Na. das missen’se doch wissen. – Dän Zeddel hier nehm se midd hoch un da lassen’se sich druff eintraachen, was se jesaacht ham. Un dann gähm se dähn hier widder ab un dann gommd der in mei Buch.“

Ich gehe die zwei Treppen hinauf und dort warten auf mich zwei jüngere Brandenburger Kriminalkommissare. Nein, sie werden mir auf den Zettel nicht eintragen, dass ich hier als Zeuge in Sachen Staats- und Regierungskriminalität der DDR geladen bin. „Ich bin Beamter des Landes Sachsen-Anhalt.“ sage ich. „Ich kann morgen zur Polizeidirektion Halle versetzt werden und es würde mich sogar reizen. Ich würde dann mit allen ehemaligen Volkspolizisten in diesem Haus gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten müssen.“ Ich wolle nicht, dass irgendeiner in diesem Haus erfahre, dass ich in Sachen Staats- und Regierungskriminalität der DDR geladen sei.

Der jüngere der beiden Kriminalkommissare, etwa 25 Jahre alt, will mit mir darüber diskutieren. Der Ältere, etwas über dreißig sagt zu ihm: „Es ist des Zeugen Wunsch und das werden wir respektieren.“

Dann beginnen sie und der Ältere versteht sein Handwerk.

„Wir haben die Justizvollzugsakten gelesen.“ sagt er. „Hier, diese Kopie wird Sie sicher erfreuen. Es ist ein Bericht über Sie, als Sie sich an einem Samstag mit einem weiteren Mitgefangenen weigerten, einen zusätzlichen Arbeitseinsatz zu Ehren der Republik zu fahren. Sie beide waren die einzigen von 760 Gefangenen. Waren alle 760 politische Gefangene?“ Ich zucke mit den Schultern. „Wahrscheinlich.“ sage ich. Und: „Held zu sein ist keine Pflicht. Außerdem tut Held sein müssen immer weh. Wir hatten dann beide halt keine 50,- DDR-Mark im Monat für Einkäufe, sondern nur noch 5,-. „

Ja also, meine Aussage … Zunächst die Belehrung: Sechs Monate Zwangshaft… Falschaussage, Meineid, Freiheitsstrafe, nicht unter einem Jahr…

Schon gut, schon gut sage ich. Ich sei Volljurist, Beamter in der Landes-Innenverwaltung. Sie könnten einiges bei mir voraussetzen. Wo solle ich die Belehrung unterschreiben?

Ja, an das Ereignis erinnere ich mich gut. Im Zugang zum Zellentrakt hätten wir gestanden. Dort hätten wir gesehen, wie der Haftkamerad Andreas R. aus dem Zellentrakt gegenüber ins Treppenhaus geschleift worden sei.

Auf den am Boden liegenden hätten sie mit ihren Polizeistiefeln eingetreten. Zum Gitter, das uns vom Treppenhaus trennte, seien wir gelaufen und hätten geschrieen zu den Genossen Volkspolizisten: „Ihr Nazis, Ihr Nazischweine!“

„Gitter II“ heißt die Ermittlungsakte, die die beiden Kriminalkommissare vor mir bearbeiten.

„Wie viele Gefängnisaufseher sind es gewesen ?“ fragt der Ältere. „Drei.“ weiß ich.

„Ja, das haben Sie auch für Salzgitter angegeben. Wann haben Sie das gesehen? Ich meine – an welchem Datum?“. „An einem Sonntag.“ erinnere ich mich. „An einem Sonntag, denn wir hatten arbeitsfrei. An einem Sonntag im Februar 1985, denn im Januar war ich im Arrest und im März war ich auf Transport nach dem Westen. Haben Sie einen Kalender von 1985 ?“ Sie haben und ich denke angestrengt nach. Dann nenne ich ein Datum: „An diesem Tag war es.“ – „Das deckt sich mit anderen Aussagen.“ sagt der jüngere und: „Was trug der Mitgefangene Andreas R. an Kleidung?“ – „Sie haben ihn aus seinem Bett geschleift. Man sagte, er habe 40 Grad Fieber gehabt und nicht aufstehen wollen, als die Gefängnisaufseher die Zelle betraten. Ja, natürlich, er trug ein Nachthemd.“

Der Ältere öffnet ein Fotoalbum. „Ihrer Beobachtung nach drei Gefängnisaufseher,“ so sagt er, „haben den Herrn Andreas R. misshandelt. Hier habe ich Ihnen ein Buch mit den Fotos aller damals dort Dienst tuenden Gefängniswärter. Nehmen Sie sich Zeit. Wer waren die Täter?“

Ich blättere und blättere … „Wie viele Fotos sind das noch?“ frage ich. „Zweihundertzweiundsiebzig insgesamt.“ sagt der Ältere der beiden Kriminalbeamten. Nach einer viertel Stunde zucke ich mit den Schultern. „Es hat keinen Sinn.“ sage ich. „Es ist 13 Jahre her. Ich weiß es nicht mehr.“ Sie bohren. Aber ich weiß es nicht.

Was soll ich bezeugen ?

„Also gut.“ sagt der Ältere, „die Befragung ist beendet. – Wir haben eine Tagebuchnotiz des Hauptwachtweisters Jahn in seinem Diensttagebuch gefunden: Habe heute gegenüber dem Strafgefangenen Andreas R. vom Schlagstock Gebrauch machen müssen. Das hat er geschrieben, Datum Sonntag, Februar usw. Einen jedenfalls hätten wir.“ – „Können Sie den Herrn Jahn auf den Fotos ausmachen?“ fragt der Jüngere. Nein, ich kann nicht. Es ist 13 Jahre her. „Herr Jahn trug bei Ihnen den Spitznamen ARAFAT. Können Sie vielleicht Arafat in diesem Fotoalbum bezeichnen?“ Sicher, Arafat sagt mir etwas, aber wie er aussah? Ich schüttele den Kopf. Es ist 13 Jahre her und es gab wichtigere Gesichter in dieser Zeit als das von Arafat.

„Hat er dunkle oder blonde Haare? Einen hellen oder dunklen Teint?“ fragt der Ältere und dann will er mir wohl auf die Sprünge helfen: „Könnte der Spitzname auf ein Äußeres hinweisen?“

„Welche Charaktereigenschaften, welches Auftreten gegenüber wehrlosen Menschen hat dem Herrn Jahn, zusätzlich vielleicht zu seinem Äußeren, den Spitznamen Arafat eingebracht?“ das will der jüngere der beiden Kriminalkommissare wissen. Und: „Denken Sie dabei an Yasser Arafat!“

„Yasser Arafat,“ platzt es aus mir heraus. „Yasser Arafat ist ein Friedensnobelpreisträger. Ach lassen Sie mich doch mit all diesem Krempel in Ruhe. Die Mörder von gestern sind die Friedensengel von heute und Folterknechte werden über Nacht Beamte der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung. Wofür bestrafen Sie denn nun den Herrn Jahn?“ frage ich erregt. „Weil er Menschen misshandelt hat? Nein, weil er so einfältig war, das schriftlich niederzulegen. Die beiden anderen, die das nicht taten, gehen straffrei aus. Sie werden sie nicht finden. Nicht einmal einen Verdacht werden Sie zusammenbekommen.“ Die kalte Wut steigt in mir hoch. „Und dem Vorgesetzten des Herrn Jahn, dem Herrn Oberleutnant, der die Pflicht hatte, das Diensttagebuch des Herrn Jahn zu lesen, der hätte nachfragen und unterbinden müssen… Was tun Sie dem? Gefangene zu misshandeln war auch in der DDR verboten. Was tun Sie dem? Dem tun Sie nichts. Der ist heute ein unbescholtener Beamter des Landes Brandenburg und seine Dienstjahre als Foltermeister in der DDR zählen alle mit zur Berechnung seines Besoldungsdienstalters. Der trägt die goldenen Ketten, nicht die eisernen. In die eisernen hängt man immer nur die Kleinen. Die Grenzsoldaten, die IM’s, die kleinen Schließer im Gefängnis.“

„Das habe ich dem zuständigen Staatsanwalt bereits gesagt, Herr Walther.“ sagt der Ältere der beiden Kriminalkommissare tonlos. „Allerdings in einem höflicheren Ton als Sie.“ – „Und ?“ will ich wissen. „Der Generalstaatsanwalt hat kein Interesse an einer Verfolgung über die Ebene der unmittelbaren Täter hinaus.“

„Verstehen Sie wie das damals war in diesem perversen System?“ versuche ich zu erklären. „Da war der Andreas R., da war ich, da waren all die anderen blutjungen Frohnaturen, die wir uns den Hintern abwischten mit Sozialismus und den Gesetzen der Deutschen Demokratischen Republik. Für uns fuhr dann der Bus nach Gießen in den Westen. Dorthin, wohin all diese armen Wichte von Gefängniswärter doch auch gern gefahren wären.

Treu dienten sie der DDR und die belohnte sie dafür mit einer Plattenbauwohnung. Und mit einem Auto aus Pappe. Für das mussten sie sich erst einmal anmelden und dann durften sie 15 Jahre darauf warten.

Und wenn wir gut drauf waren, dann sagte der eine oder andere von uns zu Ihnen: Lass mal wieder Dampf ab, Hauptwachtmeister. Dann schicke ich Dir in sechs Monaten auch eine schöne bunte Ansichtskarte von den Kapverden. Verstehen Sie, wie das damals war in diesem perversen System? Verstehen Sie, warum Folterknechte tun, was sie tun? Sie prügeln ihre Wut hinaus, die eine Wut ist über ihr eigenes, verpfuschtes Leben.“

„Alles verstehen,“ sagt der ältere der beiden Kriminalkommissare, „heißt alles verzeihen. Und das ist nicht der Beruf der Strafverfolgung.“

„Mag sein.“ sage ich. Und „Lassen Sie sich nicht demotivieren.“ Und „Auf Wiedersehen.“ Den Brief vom Landeskriminalamt des Landes Brandenburg hatte ich doch schon gelocht und weggeheftet. Sie hätten mich in Ruhe lassen sollen.

Noch mal Zeuge

Die Gerichtsverhandlung ist fast eineinhalb Jahre später.

In der Anklagebank vor dem Landgericht Cottbus steht ein stämmiger alter Mann, dem man ansieht, dass er einmal ein Kraftpaket gewesen sein muss unter seinen jetzt schlohweißen Haaren.

Er steht tatsächlich allein. Zwei weitere Angeklagte gibt es wirklich nicht. Dass die beiden, die ebenfalls angeklagt sein müssten, höchstwahrscheinlich im Raum sind, werde ich bald zu vermuten haben.

„Zeuge Walther“, sagt der Vorsitzende Richter der Strafkammer. „Sie sind aufgefordert, zunächst Ihre Personalien anzugeben. Geboren am? In ? Tätigkeit ? Beamter ? Wo ?“ – „Ich bin Beamter in der Innenverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt.“ sage ich. Erst jetzt bemerke ich die etwa zwanzig alten Herren hinter mir auf der Zuschauerbank. Einige sind noch im Dienst und tragen ihre Justizvollzugsuniform. Ich bemerke sie jetzt, weil ich mich umgedreht habe, als sich das unruhige Gemurmel in meinem Rücken verbreitete. „Der junge Mann will offensichtlich noch etwas werden im vereinigten Deutschland.“ zischelt es unter ihnen, als ich wieder nach vorn schaue. Mit dem jungen Mann bin ich gemeint. „Zeuge Walther,“ sagt der Richter, dessen Dialekt die Herkunft aus dem Land der Trennungsgeldempfänger verrät, „Zeuge Walther, schildern Sie, was Sie an jenem Sonntag im Februar 1985 gesehen haben.“ Ich schildere es und als der Richter mich fragt, ob der Angeklagte einer der drei Schläger gewesen sei, muss ich mit den Schultern zucken. „Dessen kann ich mich nicht erinnern, Herr Richter, es ist 13 Jahre her.“

„Hab ich’s nicht gesagt.“ höre ich es hinter meinem Rücken raunen: „Nicht einmal richtig begründen können die ihre Lügen.“

Der Staatsanwalt befragt mich. Er schwätzt irgendetwas über posttraumatische Belastungsstörungen des Großhirnsystems infolge politischer Haft. Und dass er darüber bestens Bescheid wisse und sicher auch Verständnis habe für meine geistigen Defizite. Auch der Herr Staatsanwalt ist so ein Neunmalkluger, auch er kommt dort her…. Ich solle mich konzentrieren, sagt er. War er’s, der Angeklagte, oder war er’s nicht? Aber auch wenn er mich in seine sechsmonatige Beugehaft sperren würde: „Es ist dreizehn Jahre her, ich kann mich nicht erinnern.“

„Zeuge Walther“ sagt der Richter. „Wenn meine Frau mir vor dreizehn Jahren mein Bier weg getrunken hätte, sicher, ich hätte es vergessen. Aber hätte mich meine Frau vor dreizehn Jahren drei Tage im Keller eingesperrt, ich könnte mich doch an jede Einzelheit erinnern!“ – „Wenn Ihre Frau Sie nicht drei Tage, sondern drei Jahre im Keller eingeschlossen hätte,“ sage ich. „Herr Richter, Sie wüssten keine Einzelheiten mehr.“

Das Gericht wird beraten. Der Herr Jahn wird verurteilt werden. „Die Bestie von Cottbus“ wird in den Zeitungen stehen. Der Genosse Rautenberg wird zufrieden schlafen und der Genosse Stolpe auch.

Das Strafurteil werden Sie mir zusenden. Ich werde es lochen und wegheften. Sie hätten mich damit in Ruhe lassen sollen.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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