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Jüdisch in Deutschland? Lieber in der Ukraine…

Jetzt nervt er auch noch mit seinen Wurzeln. Irgendwann muss auch mal gut sein… Und außerdem: Was die Juden mit den Palästinensern machen … Haben „die“ denn aus der Geschichte nichts gelernt?

Am 08. Oktober abends kam das Foto einer Freundin. Ein Wohnhaus in Berlin, auf der weißen Wand ein Davidstern. An was erinnert das noch mal? Am gleichen Tag morgens die Nachricht meines Freundes Roman aus Israel: „Hi, wie geht es dir? Hast du auch Ermordete in deinem Kreis?“

Die Frage nach den Ermordeten ist unter jüdischen Menschen fast alltäglich beim Kennenlernen. Man erzählt sich beinahe en passant, wer aus der Familie wo ermordet wurde. Damit ist das Thema durch. Das werden nicht-jüdische Deutsche nie verstehen, wie wir untereinander damit umgehen. Aber was soll man noch sagen? Ich habe niemanden getroffen, der niemand verloren hat. Und jeder weiß, was passiert ist, welches Leid dahintersteckt.

Bei Deutschen löst die klassische europäisch-jüdische Familiengeschichte etwas anderes aus. Entweder beinahe tränenreiche Rührung oder – unausgesprochen –: „Es muss ja irgendwann mal gut sein.“ Für Juden würde „es muss ja mal gut sein“ bedeuten: einfach mal Oma, Opa, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen zu vergessen. Für Deutsche muss es „ja mal gut sein“, um sich nicht mehr mies zu fühlen. Doch eine Entlastung vom schlechten Gewissen, das letztlich nur das Ergebnis gelungener Verdrängung ist, besteht für einige darin, das Böse im Juden zu suchen.

Daraus resultiert in einigen Kreisen beinahe eine Dankbarkeit für Israels Reaktion auf den Angriff der Hamas. Natürlich ist jeder Jude in Deutschland dafür mitverantwortlich. „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“, sagte der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix. Er hat recht.

Allerdings: „den“ Juden gibt es nur in der Fantasie.

Ein Beispiel für „den“ Juden: Mit neun Jahren verkündete meine Mutter, sie lässt sich scheiden – und ergänzte den Zerfall der Familie mit: „Und Jude bist du auch noch.“ (Kein falsches Bild aus zwei Infos, bitte: Meine Mutter war sensationell!) Zwei „Katastrophen“ für den Preis von einer … Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts von meinen jüdischen Wurzeln. Für meine Mutter war Scheidung scheitern und jüdisch sein in Deutschland eine ständige Lebensgefahr. Worum es mir eigentlich geht: Um „den“ Juden. Ich bin null mit jüdischem Leben aufgewachsen. Meine Verwandten sind in Auschwitz-Birkenau und in Brandenburg im Euthanasie-Programm ermordet worden, einige konnten fliehen. Den Kontakt haben wir verloren.

Es gab also nur meine Mutter und mich. Sie hatte ihr Leben lang Angst in Deutschland. Jahrgang 1925, mit Judenstern auf der Straße, mit Steinen beworfen, Schulverbot – alles, was man so kennt. Kennen sollte. Alles Jüdische aus meinem Leben fernzuhalten, war aus ihrer Sicht ein Schutz für mich. Ich konnte mich nirgends „verraten“. Im Umfeld gab es auch keine Juden, die mich hätten einbinden können. Es gibt ja kaum noch jüdische Menschen in Deutschland… 

Aus mir wurde also ein schlechter Jude, der sich nicht auskennt, der sich bei den wenigen Synagogenbesuchen meist wie ein Depp benimmt.

Als ich im März 2022 erst nach Moldau und dann nach Odessa gezogen bin, waren plötzlich Juden da. Sichtbar. Auf der Straße. Einfach so. Die Unsichtbaren (ohne Kippa) entdeckt man in Begegnungen. Anya, mit der wir von der Front evakuieren, im Nebensatz zu Jom Kippur. Kyril, der seine Eltern in die Synagoge begleiten muss. Pflichtveranstaltung, eher lustlos. Jüdisches Leben ist einfach Alltag. Mal nice, mal nervig. Wie Alltage so sind. Für mich exotisch. Kurz nach meiner Ankunft sprang ich in einem Restaurant zwei Männer mit Kippa und Pejot (Schläfenlocken) beinahe an. Einer, Nachmann, wurde ein Freund. Er lebt mit seiner Frau Valerie in Kiew. Eine klassische, orthodoxe Familie. Vieles verbindet uns, einiges trennt uns. Illegale Besetzungen Israels, abwesende Gleichberechtigung bei Orthodoxen, die Eigenwahrnehmung auserwählt zu sein, Netanjahu und seine rechte Regierung, unerträgliches Gemetzel in Palästina – nicht meins.

Derweil in Deutschland. In bestimmenden Kreisen.

„Die“. Mit „Die“ fängt alles an. „Die“ ist Rassismus und Antisemitismus in Reinkultur. „Die“ Muslime, „die“ Juden gibt es nur in den Köpfen, um das Leben einfacher zu machen. Um simples Schwarz-Weiß zu schaffen. Hier Opfer, dort Täter. Keine Zeit, um nachzufragen, keine Lust auf noch mehr Infos. Das wird sonst alles zu kompliziert, und einzig eine klare Meinung zählt. Für die wird dann bedingungslos gekämpft. Und für die gibt es Aufmerksamkeit. Also weiter (ahnungslos) rausposaunen. Ich poste, also bin ich. Ich habe zwar keine Ahnung vom Konflikt, habe weder muslimische noch jüdische Menschen in meinem Umfeld, aber ich kann sowohl dem einen als auch der anderen selbstverständlich genau erklären, warum sie Schuld sind, was deren Verbrechen ist. Und warum ich die eine, die richtige Seite einnehme. Die dann auch – ganz deutsch – ohne Wenn und Aber. 

Nach bald drei Jahren, die ich mehr in der Ukraine bin als in Deutschland, fällt bei Heimatbesuchen eines immer mehr auf: Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens im deutschen Wesen (ich habe die Symptome selber!). Unerträgliche Besserwisserei und die Abwesenheit von Eigenverantwortung. „Die“ (da ist es wieder) anderen sind schuld. Die Mainstream-Medien. Die Politiker und Politikerinnen. Die Muslime. Die Juden. (Ergänzen Sie die Liste bitte nach eigenen Prioritäten.)

Denn seien wir ehrlich: Hans und Franz interessieren sich keinen Cent für Israel oder Palästina. Selbst unter den AfD-Honks, die sonst Araber am liebsten im nächsten Flieger nach Hause schicken wollen, sind plötzlich Unterstützer für den Hamas-Terror. Selbst unter moralisch überlegenen Linken finden sich Gerecht, wenn sie jüdischen Studierenden mit Gewalt den Zugang zur Uni verwehren. Und das radikale Islamisten komplett ohne Kompass unterwegs sind…. Binsenweisheit. Für „die“ Deutschen gilt: Man muss  auch im Hass Prioritäten setzen. Und es ist so unendlich entlastend für viele Deutsche, das Böse im Juden zu finden. „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“, sagte Zvi Rix.

Als jüdischer Mann aus Berlin kann ich beinahe jede Diskussion mit nicht-jüdischen Menschen mit einem „Outing“ über meine Herkunft beenden. Oft kommen betroffene Blicke, kurz vor Tränen, wenn ich von meiner in Auschwitz-Birkenau ermordete Großmutter spreche. Oft merke ich, wie die Schultern des Gegenübers unter der Last der Schuld sinken.

Schuld? Ein deutsches Thema. Die Generationen nach den Nazis trifft keine Schuld. Und: Nein, das ist keine Absolution eines jüdischen Mannes. Die Absolution brauchen „die“ Deutschen nämlich nicht. Es ist der Job der Deutschen, damit klarzukommen. Aus sich heraus. Es ist nicht der Job jüdischer Menschen, nicht-jüdischen Deutschen ihr schlechtes Gewissen zu nehmen oder als possierlicher Dekoartikel für die eigenen Liberalität zu entlasten.

Allerdings wird zuweilen (anstandshalber) nach der Geschichte des (jüdischen) Gegenübers gefragt, dennoch die eigene verdrängt. Nazi-Hintergrund in der eigenen Familie? Irgendwann muss es auch mal gut sein… Schön auch: „Uns ging es nach dem zweiten Weltkrieg auch schlecht.“ Das ist kein Widerspruch zum Schuldkomplex. Der ist jetzt auch wirklich mal erledigt. Das bedeutet aber nicht, zu vergessen – und endlich etwas daraus zu lernen. Nämlich: „Die“ gibt es nicht. Aber „den“. Den Nazi-Opa, die Großmutti, die sich aus der judenfreien Nachbarwohnung das Tafelsilber unter den Nagel gerissen hat.

Deutsche waren keine Opfer; sie waren die Täter, die ihre Diktatur selbst gewählt haben. Und jetzt sind sie auf einem sehr schrägen Weg, denselben Fehler zu wiederholen. Auch eine Möglichkeit, mit Schuld umzugehen.

Und weil einige ja bis heute nicht zwischen Wetter und Klima unterscheiden können, ist es nicht verwunderlich, dass die Unterscheidung zwischen einem jüdischen Deutschen und der Politik Israels nicht gelingt. Aus meinem Leben: Wenn es keine Krokodils-Tränen über Auschwitz mehr geben muss, werde ich nicht nur zackig zum Experten, sondern auch zum Vertreter Israels Regierung in Deutschland. Da ist deutscher Antisemitismus dann endlich kein Problem mehr.

Ganz ehrlich: Als Jude fühle ich mich in der Ukraine wohler. Da bin ich nämlich Alltag. Mal nice, mal nervig. Ohne Wertung.

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