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Und es hat Bumm gemacht…

In irgendeiner deutschen Großstadt, kurz vor Silvester. Carla fährt, ich sitze. Es wird eingeparkt, und dann knallt es. Ich zucke zusammen.

Im Juni 2022 haben wir mit drei Bussen rund 160 Menschen aus Mikolajiv evakuiert. Wir, Be an Angel, seit März 2022 in der Ukraine aktiv.

Der Abholort war in der Innenstadt, auf einem Parkplatz hinter einem Shoppingcenter. Irgendwann knallt es. Und zwar ganz gewaltig. Selbst zu diesem Zeitpunkt, nach Monaten in der Ukraine unterwegs, hatte ich noch nicht verstanden, dass ich mitten im Krieg bin. In Deutschland aufgewachsen, immer in Sicherheit, war ich zwar mittendrin, aber kein Teil davon. Schizophren?

Nein, denn dieses tief verankerte Gefühl von Sicherheit und Frieden ist beinahe unerschütterlich. Der Knall war irgendwas von 500 bis 800 m entfernt. Meine erste Reaktion: Ach, die reißen da gerade was ab – da wird also demnächst was Neues gebaut. Es folgte die zweite Rakete, und es stieg schwarzer Rauch auf. Erst dann war mir klar: Das ist ein russischer Angriff.

Der bis dato unerschütterlich-souveräne Busfahrer Alex, mit dem ich Tausende von Kilometern durch die Ukraine gefahren bin, rastete an der Stelle das erste Mal in unserem Zusammensein komplett aus, rannte hinter mir her, schnappte mich am Kragen und zerrte mich Richtung Bus. Ob ein Bus ein Schutz vor einem Raketeneinschlag ist, wage ich zu bezweifeln. Selbst auf der Rückfahrt nach Moldawien hatte ich nicht den Eindruck, in extremer Gefahr zu sein.

In den mittlerweile beinahe drei Jahren, die ich den größten Teil meiner Zeit in der Ukraine verbringe – oft nahe der Front –, hat es diverse herausfordernde Situationen gegeben. Der Frontverlauf verschiebt sich oft über Nacht. Wir haben unsere Evakuierungsstrecken immer nach den neuesten Daten ausgerichtet, aber so ein Krieg ist unvorhersehbar. Es kam vor, dass wir durch Dörfer gefahren sind und Artillerie hörten. Bei Drohnen- oder Raketeneinschlägen wird in der Regel ein Ziel anvisiert – die Chancen, nicht getroffen zu werden, sind relativ groß. Bei Artillerie ist das anders. Da bleibt nur eins: Steuer rumreißen und weg.

Die nächste heftige Attacke erlebten wir bei der Überfahrt vom Staudamm bei Saporischschja. Während wir oben fuhren, schlugen unten am Fuß des Damms Raketen ein. Saporischschja ist der Ort mit dem Kernkraftwerk, das russisch besetzt, aber von der Ukraine betrieben wird, damit es nicht explodiert. Wäre das der Fall, hätten wir mit den zehnfachen Auswirkungen von Tschernobyl zu rechnen…

Ich war in der gesamten Ukraine unterwegs, bis 40 km nahe der russischen Grenze im Osten. Ich habe in Kyiv erlebt, wie nachts Drohnen hörbar über das Hotel flogen. Ich habe in Lwiw aus dem Hotelzimmer Raketen einschlagen sehen. Ich saß in Kherson in einem Theaterkeller und konnte auf Bildschirmen beobachten, wie Raketen und Drohnen in unmittelbarer Nähe einschlugen.

Und ich hatte immer einen Vorteil: Wenn ich es nicht mehr aushalten konnte, fuhr ich einfach nach Deutschland und war in Sicherheit. Dieses Gefühl hat mich getragen, verbunden mit dem Gedanken: Ich kann das alles gut wegstecken. Und dann der Vorfall an Silvester mit einer einzigen Rakete – einem Feuerwerkskörper – und ich zucke zusammen.

Posttraumatische Belastungsstörung ist mittlerweile fast eine umgangssprachliche Vokabel. Begonnen hat das 2015 mit der Ankunft von Menschen aus Kriegsgebieten in Deutschland. Plötzlich wurden die psychischen Auswirkungen von Kriegserlebnissen auch hier bekannt. Menschen, die nicht schlafen können, weil sie beim Aufwachen nicht wissen, wo sie sind. Menschen mit Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Menschen, die extrem auf unvorhersehbare Geräusche reagieren.

Ich war dabei, als eine Gruppe ukrainischer Frauen in einem deutschen Restaurant bei einem Knall draußen unter den Tisch gerutscht ist. Für die Betroffenen, besonders Kinder, sind solche Erlebnisse oft eine lebenslange Bürde. Natürlich gibt es persönliche Resilienz – manche können das Erlebte schneller abschütteln, andere brauchen Zeit oder schaffen es nie. Selbst wenn sie mittlerweile in Sicherheit sind – in Deutschland.

In der Ukraine gibt es keinen sicheren Ort. Jeder Alltag wird regelmäßig durch Sirenen unterbrochen, und jeder kennt jemanden mit zerstörtem Zuhause oder Verlusten im Umfeld. Damit umzugehen, ist fast unmöglich. Zumal das Ende nicht absehbar ist. Und selbst danach: Ein Frieden in der Ukraine hinterlässt eine traumatisierte Bevölkerung.

Es gibt Programme gegen posttraumatische Belastungsstörungen – besonders für Kinder. Aber es braucht viel mehr davon.

Und ich? Lernkurve: Silvester auf dem Land. Mit wenig Knallerei.

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Ein Gedanke zu “Und es hat Bumm gemacht…

  1. avatar

    Danke für diesen realistischen Beitrag! Ich habe mehrere Raketenangriffe in Odessa selbst miterlebt und kann das alles nur bestätigen! Wenn ich in Deutschland bin, zucke ich auch bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen. Diese Böllerei in Deutschland ist der absolute Horror! Ich verstehe nicht, warum Menschen Spaß daran haben!
    Ich habe nur einen Wunsch, nämlich daß dieser Krieg beendet wird! ✌️🇺🇦🕊

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